Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 II 229



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Urteilskopf

138 II 229

18. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen Migrationsamt und Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St.
Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_821/2011 vom 22. Juni 2012

Regeste

Art. 3 und 8 EMRK; Art. 7 und 35 Abs. 1 und 3 BV; Art. 50 Abs. 1 lit. a bzw.
Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AuG; nachehelicher Härtefall wegen
ehelicher Gewalt.
Voraussetzungen für einen Bewilligungsanspruch nach gescheiterter Ehe gestützt
auf Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG (E. 2). Eine psychische Zwangsausübung von einer
gewissen Konstanz und Schwere kann einen nachehelichen Härtefall im Sinne von
Art. 50 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 AuG begründen (E. 3.1 und 3.2).
Mitwirkungspflicht und Anforderungen an das ausländerrechtliche Beweisverfahren
in diesem Fall (E. 3.2.3). Rückweisung an die Vorinstanz zu neuem Entscheid (E.
3.3).

Sachverhalt ab Seite 230

BGE 138 II 229 S. 230

A. X. (geb. 1987) stammt aus dem Kosovo. Sie heiratete am 29. April 2008 in der
Heimat den im Kanton St. Gallen niederlassungsberechtigten serbischen
Staatsbürger Y. (geb. 1980). Am 21. August 2008 reiste sie im Familiennachzug
in die Schweiz ein, wo ihr am 8. September 2008 die Aufenthaltsbewilligung zum
Verbleib bei ihrem Gatten erteilt wurde.

B. Am 26. Mai 2010 informierte Y. das Einwohneramt St. Gallen, dass er und
seine Frau ab sofort getrennt lebten. Am 3. November 2010 trat die
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen auf eine Strafklage von X. gegen
ihren Ehemann wegen des Verdachts auf Nötigung bzw. Freiheitsberaubung nicht
ein. Am 16. Februar 2011 entschied das Migrationsamt St. Gallen, die
Aufenthaltsbewilligung von X. nicht (mehr) zu verlängern, da die Ehe lediglich
rund ein Jahr und neun Monate gedauert habe und X. - entgegen ihren
Ausführungen - nicht als Opfer häuslicher oder ehelicher Gewalt im Sinne des
Ausländergesetzes gelten könne. Die Rückkehr in ihr
BGE 138 II 229 S. 231
Heimatland und die Wiedereingliederung in die dortigen Verhältnisse seien ihr
zumutbar. Das Sicherheits- und Justizdepartement sowie das Verwaltungsgericht
des Kantons St. Gallen bestätigten diesen Entscheid am 26. Mai bzw. 29. August
2011. (...)
Das Bundesgericht heisst die von X. eingereichte Beschwerde gut, hebt das
Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen auf und weist die Sache
zu neuem Entscheid im Sinne der Ausführungen an dieses zurück.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Ausländische Ehegatten von Niedergelassenen haben unter Vorbehalt von Art.
51 Abs. 2 AuG (SR 142.20) Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit ihrem Partner zusammenwohnen (Art. 43 Abs.
1 AuG). Der Bewilligungsanspruch besteht trotz Auflösens bzw. definitiven
Scheiterns der Ehegemeinschaft fort, wenn diese mindestens drei Jahre gedauert
und die betroffene ausländische Person sich hier erfolgreich integriert hat
(Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG; BGE 136 II 113 E. 3.3.3). Eine (relevante)
Ehegemeinschaft liegt vor, solange die eheliche Beziehung tatsächlich gelebt
wird und ein gegenseitiger Ehewille besteht. Dabei ist im Wesentlichen auf die
Dauer der nach aussen wahrnehmbaren ehelichen Wohngemeinschaft abzustellen (BGE
137 II 345 E. 3.1.2). Mit Blick auf Art. 49 AuG, der den Ehegatten bei
weiterdauernder Familiengemeinschaft gestattet, aus "wichtigen Gründen"
getrennt zu leben, was auch bei vorübergehenden Schwierigkeiten in der Ehe
kurzfristig der Fall sein kann (vgl. Art. 76 der Verordnung vom 24. Oktober
2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]), ist
jeweils aufgrund sämtlicher Umstände im Einzelfall zu bestimmen, ab welchem
Zeitpunkt die eheliche Gemeinschaft als definitiv aufgelöst zu gelten hat. Die
unbestrittenermassen gescheiterte Ehe der Beschwerdeführerin wurde in der
Schweiz vom 21. August 2008 bis Ende Mai 2010 gelebt und hat damit rund 21
Monate gedauert; Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG kommt somit nicht zur Anwendung.

3.

3.1 Die Beschwerdeführerin beruft sich auf einen Härtefall im Sinne von Art. 50
Abs. 1 lit. b und Abs. 2 AuG. Danach besteht der Bewilligungsanspruch fort,
wenn "wichtige persönliche Gründe" einen weiteren Aufenthalt der betroffenen
Person in der Schweiz
BGE 138 II 229 S. 232
"erforderlich" machen. Nach Art. 50 Abs. 2 AuG und der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung (BGE 136 II 1 E. 5 S. 3 ff.) kann dies namentlich der Fall sein,
wenn die ausländische Person mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht Opfer ehelicher
Gewalt geworden ist oder wenn ihre soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland
stark gefährdet erscheint. Dabei ist etwa an geschiedene Frauen (mit Kindern)
zu denken, welche in ein patriarchalisches Gesellschaftssystem zurückkehren und
dort wegen ihres Status als Geschiedene mit Diskriminierungen oder Ächtungen
rechnen müssen. Mögliche weitere Anwendungsfälle bilden (gescheiterte) unter
Zwang eingegangene Ehen oder solche im Zusammenhang mit Menschenhandel (BGE 137
II 345 E. 3.2.2). Der Verbleib in der Schweiz kann sich auch dann als
erforderlich erweisen, wenn der Ehegatte, von dem sich die
Aufenthaltsberechtigung ableitet, verstirbt (vgl. BGE 137 II 1 E. 3 u. 4).
Schliesslich ist im Rahmen von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG jeweils den Interessen
allfälliger Kinder Rechnung zu tragen, falls eine enge Beziehung zu ihnen
besteht und sie in der Schweiz ihrerseits gut integriert erscheinen (Botschaft
AuG, BBl 2002 3709, 3754 Ziff. 1.3.7.6; BGE 137 II 345 E. 3.2.2). Bei der
Beurteilung der wichtigen persönlichen Gründe sind sämtliche Aspekte des
Einzelfalles mitzuberücksichtigen (BGE 137 II 345 E. 3.2.1; vgl. zudem Art. 31
VZAE); dazu gehören auch die Umstände, die zur Auflösung der Gemeinschaft
geführt haben (BGE 137 II 345 E. 3.2.3 S. 350). Hat der Aufenthalt nur kürzere
Zeit gedauert und wurden keine engen Beziehungen zur Schweiz geknüpft, lässt
sich ein Anspruch auf weiteren Verbleib nicht begründen, wenn die erneute
Integration im Herkunftsland keine besonderen Probleme stellt (Botschaft AuG,
BBl 2002 3709, 3754 Ziff. 1.3.7.6). Entscheidend ist, ob die persönliche,
berufliche und familiäre Wiedereingliederung als stark gefährdet zu gelten hat
und nicht, ob ein Leben in der Schweiz einfacher wäre (Urteil 2C_216/2009 vom
20. August 2009 E. 3). Ein persönlicher, nachehelicher Härtefall setzt aufgrund
der konkreten Umstände eine erhebliche Intensität der Konsequenzen für das
Privat- und Familienleben der ausländischen Person voraus, die mit ihrer
Lebenssituation nach dem Dahinfallen der gestützt auf Art. 42 Abs. 1 bzw. Art.
43 Abs. 1 AuG abgeleiteten Anwesenheitsberechtigung verbunden sind (BGE 137 II
345 E. 3.2.3).

3.2

3.2.1 Nach der Rechtsprechung ist im Rahmen von Art. 50 Abs. 1 lit. b in
Verbindung mit Art. 50 Abs. 2 AuG jede Form ehelicher bzw. häuslicher Gewalt,
sei sie körperlicher oder psychischer
BGE 138 II 229 S. 233
Natur, ernst zu nehmen (Urteil 2C_155/2011 vom 7. Juli 2011 E. 4.3; vgl. etwa
auch den Bericht des Bundesrates vom 13. Mai 2009 über Gewalt in
Paarbeziehungen, BBl 2009 4087 ff., 4111 f.). Häusliche Gewalt bedeutet
systematische Misshandlung mit dem Ziel, Macht und Kontrolle auszuüben und
nicht eine einmalige Ohrfeige oder eine verbale Beschimpfung im Verlauf eines
eskalierenden Streits (vgl. BGE 136 II 1 E. 5 S. 3 ff. mit Hinweisen; dazu auch
die Antwort von Bundesrätin Widmer-Schlumpf vom 14. Juni 2010 zu den
Geschäftsnummern 10.5275-10.5277 in AB 2010 N 929 f. sowie die Antwort des
Bundesrates vom 17. September 2010 zur Motion 10.3515 Roth-Bernasconi "Schutz
von Migrantinnen, die Opfer ehelicher Gewalt wurden"; Urteile des
Bundesgerichts 2C_803/2010 vom 14. Juni 2011 E. 2.3.2; 2C_540/2009 vom 26.
Februar 2010 E. 2.2-2.4 und 2C_590/2010 vom 29. November 2010 E. 2.5.2 in fine;
MARC SPESCHA, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd/Bolzli [Hrsg.], 3. Aufl.
2012, N. 10 zu Art. 50 AuG; MARTINA CARONI, in: Bundesgesetz über die
Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Caroni/Gächter/Thurnherr [Hrsg.], 2010, N.
32 zu Art. 50 AuG). Ein Anspruch nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG wird auch nicht
bereits durch eine einmalige tätliche Auseinandersetzung begründet, in deren
Folge der Ausländer in psychischem Ausnahmezustand und mit mehreren Kratzspuren
im Gesicht einen Arzt aufsucht, zumal wenn anschliessend eine Wiederannäherung
der Eheleute stattfindet (Urteil 2C_690/2010 vom 25. Januar 2011 E. 3.2). Das
Gleiche gilt, wenn der Ehepartner den Ausländer nach einem Streit aus der
Wohnung weist, ohne dass das Opfer körperliche oder psychische Schäden erleidet
(Urteil 2C_358/2009 vom 10. Dezember 2009 E. 4.2 und 5.2). Die physische oder
psychische Zwangsausübung und deren Auswirkungen müssen vielmehr von einer
gewissen Konstanz bzw. Intensität sein.

3.2.2 Auch psychische bzw. sozio-ökonomische Druckausübung wie dauerndes
Beschimpfen, Erniedrigen, Drohen und Einsperren kann einen für die Annahme
eines nachehelichen Härtefalls relevanten Grad an unzulässiger Oppression
erreichen. Dies ist praxisgemäss der Fall, wenn die psychische Integrität des
Opfers bei einer Aufrechterhaltung der ehelichen Gemeinschaft schwer
beeinträchtigt würde (vgl. Urteil 2C_221/2011 vom 30. Juli 2011 E. 2). Nicht
jede unglückliche, belastende und nicht den eigenen Vorstellungen entsprechende
Entwicklung einer Beziehung begründet indessen bereits einen nachehelichen
Härtefall und ein weiteres Anwesenheitsrecht
BGE 138 II 229 S. 234
in der Schweiz. Häusliche Oppression bedeutet systematische Misshandlung mit
dem Ziel, Macht und Kontrolle auszuüben (vgl. das Urteil 2C_428/2012 vom 18.
Mai 2012 E. 2.2.3). Die anhaltende, erniedrigende Behandlung muss derart
schwerwiegen, dass von der betroffenen Person bei Berücksichtigung sämtlicher
Umstände vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass sie einzig aus
bewilligungsrechtlichen Gründen die Ehe aufrechterhält und in einer ihre
Menschenwürde und Persönlichkeit verneinenden Beziehung verharrt. Eine
glaubhaft gemachte oppressionsbedingte Aufhebung der Hausgemeinschaft soll für
die betroffene Person keine ausländerrechtlichen Nachteile zur Folge haben,
wenn sie durch das Zusammenleben in ihrer Persönlichkeit ernsthaft gefährdet
wäre und ihr eine Fortführung der ehelichen Gemeinschaft bei objektiver
Betrachtungsweise nicht mehr zugemutet werden kann. Es handelt sich hierbei um
einen Ausfluss der sich aus dem Verfassungs- und Konventionsrecht ergebenden
staatlichen Schutzpflichten (Art. 7 und Art. 35 Abs. 1 und 3 BV sowie Art. 3
[Schutz vor unwürdiger, erniedrigender Behandlung] und Art. 8 [Schutz des
Privatlebens: Freie Gestaltung der Lebensführung] EMRK; vgl. etwa GRABENWARTER/
PABEL, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, N. 1 und 50 ff. zu
§ 22; JENS MEYER-LADEWIG, EMRK, 3. Aufl. 2011, N. 2 und 6 zu Art. 8 EMRK).
Beeinträchtigt ein Gatte in schwerwiegender Weise andauernd grundlegende,
verfassungs- und menschenrechtlich relevante Positionen des andern, hat der
Staat dessen Recht, sich dem entsprechenden oppressiven privaten Verhalten zu
entziehen, im Migrationszusammenhang insofern Rechnung zu tragen, als er keine
unzumutbar hohen Anforderungen an einen möglichen Verbleib im Land stellen darf
(vgl. auch WALTER KÄLIN, Grundrechte im Kulturkonflikt, 2000, S. 186). Hierzu
dient die ein selbständiges Anwesenheitsrecht begründende Regelung von Art. 50
Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AuG; sie ist den entsprechenden verfassungs- und
konventionsrechtlichen Schutzpflichten entsprechend auszulegen. Die
Abhängigkeit des Opfers häuslicher Gewalt bzw. psychischer Oppression vom Täter
soll durch die Bewilligungsfrage nicht verstärkt und die gewaltbetroffene
nachgezogene Person nicht vor das Dilemma gestellt werden, in der
Zwangssituation verbleiben oder den Verlust des Aufenthaltsrechts hinnehmen zu
müssen (vgl. DUBACHER/REUSSER, Häusliche Gewalt und Migrantinnen, 2011, S. 12
und 26 ff.). Dabei ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Zwar können die
eheliche Gewalt einerseits und die starke Gefährdung der
BGE 138 II 229 S. 235
sozialen Wiedereingliederung im Herkunftsland andererseits praxisgemäss je für
sich allein einen wichtigen persönlichen Grund im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit.
b AuG darstellen und sind die beiden Elemente nicht kumulativ zu verstehen (BGE
136 II 1 E. 5; Urteil 2C_221/2011 vom 30. Juli 2011 E. 2); dies schliesst
indessen nicht aus, im Einzelfall beide Elemente zu berücksichtigen und den
Härtefall auch zu bejahen, wenn diese je für sich selber hierzu nicht genügen
würden, ihre Kombination aber wertungsmässig einem wichtigen persönlichen Grund
im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG gleichkommt.

3.2.3 Die ausländische Person trifft bei den Feststellungen des entsprechenden
Sachverhalts eine weitreichende Mitwirkungspflicht (vgl. hierzu BGE 126 II 335
E. 2b/cc S. 342; BGE 124 II 361 E. 2b S. 365). Sie muss die eheliche Gewalt
bzw. häusliche Oppression in geeigneter Weise glaubhaft machen (Arztberichte
oder psychiatrische Gutachten, Polizeirapporte, Berichte/Einschätzungen von
Fachstellen [Frauenhäuser, Opferhilfe usw.], glaubwürdige Zeugenaussagen von
weiteren Angehörigen oder Nachbarn etc.; vgl. auch die Weisungen des
Bundesamtes für Migration [BFM] zum Familiennachzug, Ziff. 6.15.3). Allgemein
gehaltene Behauptungen oder Hinweise auf punktuelle Spannungen genügen nicht;
wird häusliche Gewalt in Form psychischer Oppression behauptet, muss vielmehr
die Systematik der Misshandlung bzw. deren zeitliches Andauern und die daraus
entstehende subjektive Belastung objektiv nachvollziehbar konkretisiert und
beweismässig unterlegt werden. Dasselbe gilt, soweit damit verbunden geltend
gemacht werden soll, bei einer Rückkehr erweise sich die soziale
Wiedereingliederung als stark gefährdet. Auch hier genügen allgemeine Hinweise
nicht; die befürchtete Beeinträchtigung muss im Einzelfall aufgrund der
konkreten Umstände glaubhaft erscheinen. Nur in diesem Fall und beim Bestehen
entsprechender Beweisanträge, die nicht in antizipierter Beweiswürdigung
abgewiesen werden können, wobei aber allfälligen sachinhärenten besonderen
Beweisschwierigkeiten Rechnung zu tragen ist, rechtfertigt es sich, ein
ausländerrechtliches Beweisverfahren durchzuführen.

3.3

3.3.1 Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, dass die von der Beschwerdeführerin
geschilderten Einschränkungen ihrer Persönlichkeit nicht hinreichend
schwerwiegen würden, um einen nachehelichen Härtefall begründen zu können und
die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zu rechtfertigen. Die von ihr
erlittenen
BGE 138 II 229 S. 236
Beeinträchtigungen entsprächen dem sozial Üblichen in einer islamisch-
traditionell geführten Ehe; es sei zudem nicht ersichtlich, inwiefern ihre
soziale Wiedereingliederung im Kosovo stark gefährdet sein könnte, nachdem sie
bis zu ihrem 21. Lebensjahr dort gelebt habe und mit den dortigen Verhältnissen
vertraut sei. Die von der Beschwerdeführerin behauptete Ablehnung oder Ächtung
durch die Familie sei nicht "dargetan". Anhaltspunkte für eine Zwangsheirat
liessen sich den Akten nicht entnehmen. Der Umstand, dass der Aufbau einer
wirtschaftlichen Existenz im Kosovo mit Schwierigkeiten verbunden sei, lasse
ihre Rückkehr nicht als unzumutbar und ihre Anwesenheit in der Schweiz als
erforderlich erscheinen; die Beschwerdeführerin habe die Pflicht, das Land
verlassen zu müssen, sich letztlich "überwiegend selbst zuzuschreiben", habe
ihr doch bewusst sein müssen, "dass die Ehe mit einem muslimischen Mann, mit
dem sie vor der Heirat gerade einmal fünf Tage zusammen war und ansonsten nur
telefonische Kontakte hatte" mit Problemen verbunden sein könnte.

3.3.2 Der Sachverhalt, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat, ist nicht
hinreichend erstellt, um die entsprechenden Schlüsse zuzulassen bzw. deren
Bundesrechtsmässigkeit abschliessend beurteilen zu können: Die
Beschwerdeführerin hat dargelegt, dass sie ihren Gatten im Sommer 2006 während
fünf Tagen persönlich kennengelernt und in der Folge bis zum Eheschluss mit ihm
telefonisch verkehrt habe. Nach ihrer Einreise in die Schweiz sei die Ehe mit
den für sie damit verbundenen Einschränkungen der Bewegungs- und
Handlungsfreiheit in patriarchalischem Muster gelebt worden. Sämtliche von ihr
entfalteten Bemühungen, das Eheleben dem hier Üblichen anzupassen, seien
gescheitert: Entgegen ihrem Willen habe sie keine Deutsch- und
Integrationskurse besuchen, nicht ohne die Zustimmung ihres Mannes telefonieren
und die Wohnung nur unter Aufsicht ihrer Schwiegermutter verlassen dürfen,
welche in der Familie das Sagen gehabt habe. Sie habe aus kulturellen Gründen
unter Androhung einer Ächtung bzw. eines Verstosses (und der damit erzwungenen
Rückkehr in die Heimat) nicht ausser Haus arbeiten können und sei durch ihre
Schwiegermutter "wie ein Haushaltsmädchen" bzw. wie eine "Sklavin" gehalten
worden; als sie sich der Schwiegermutter und ihrem Gatten widersetzt habe, habe
man sie "auf die Strasse gestellt". Während mehr als zwei Jahren habe sie eine
Erniedrigung und Einschränkung ihrer seelischen Integrität und ihrer Bewegungs-
und Handlungsfreiheit durch den strukturell stärkeren
BGE 138 II 229 S. 237
Ehemann hinnehmen müssen, welcher insbesondere über ihr abgeleitetes
Aufenthaltsrecht und die kulturellen Konventionen "massiven Druck" auf sie
ausgeübt habe.

3.3.3 Das Verwaltungsgericht hat die behaupteten Einschränkungen im
Wesentlichen gestützt auf die strafrechtliche Einschätzung, dass kein Anlass
bestehe, gegen den Gatten wegen des Verdachts der Nötigung und
Freiheitsberaubung (weiter) zu ermitteln, da die Beschwerdeführerin nie
eingesperrt, geschlagen oder gewaltsam zurückgehalten worden sei, als nicht
schwerwiegend genug erachtet, um eine häusliche Gewalt im Sinne von Art. 50
Abs. 2 AuG begründen zu können. Es verkennt dabei, dass eine ausländerrechtlich
relevante psychische Gewalt, welche hinzunehmen der betroffenen Person in einer
freiheitlichen Gesellschaft nicht zugemutet werden darf, auch vorliegen kann,
wenn (noch) kein strafrechtlich relevantes Verhalten festgestellt ist oder ein
entsprechendes Verfahren (aus welchen Gründen auch immer) eingestellt wurde.
Die Anwendung von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG setzt praxisgemäss keine
strafrechtliche Verurteilung voraus (vgl. die Urteile 2C_221/2011 vom 30. Juli
2011 E. 2 und 2C_586/2011 vom 21. Juli 2011 E. 3.2). Die kantonalen Behörden
haben die von der Beschwerdeführerin und der Beratungsstelle gewaltbetroffene
Frauen geschilderten Umstände zu Unrecht nicht weiter vertieft und allein
gestützt auf die strafrechtliche Einschätzung und die entsprechende Befragung
der Betroffenen bereits eine hinreichende Intensität der Beeinträchtigung
verneint. Gerade die Frage, ob eine solche bestand, wäre, losgelöst vom
(eingestellten) Strafverfahren, das anderen Zwecken diente, ausländerrechtlich
- etwa durch eine Einvernahme der Betroffenen (Schwiegermutter, Ehemann usw.)
bzw. der Cousins oder des Onkels der Beschwerdeführerin, der versucht haben
soll, vermittelnd einzugreifen - erst noch zu erstellen gewesen. Der Hinweis
auf einen ähnlichen, bereits negativ entschiedenen früheren Fall vermochte die
entsprechenden Abklärungen bezüglich der Situation der Beschwerdeführerin nicht
zu ersetzen, soll die Vorgabe, dass jede Form von im Rahmen des Zumutbaren
belegten häuslicher Gewalt ernst zu nehmen sei, nicht von vornherein toter
Buchstabe bleiben (vgl. das Urteil 2C_155/2011 vom 7. Juli 2011 E. 4.3; MARC
SPESCHA, Die familienbezogene Rechtsprechung im Migrationsrecht, FamPra.ch 4/
2011 S. 851 ff., dort S. 876).

3.3.4 Die Beschwerdeführerin will seit dem Scheitern der Ehe einen Deutschkurs
besucht und eine Arbeitsstelle gefunden haben, welche
BGE 138 II 229 S. 238
ihr ein Auskommen sichere, was darauf hinweisen könnte, dass sie tatsächlich
versuchen wollte, sich aus den heimatlichen Strukturen zu lösen und sich hier
zu integrieren. Sie soll wegen dieses Verhaltens im Heimatstaat von ihren
Angehörigen verstossen worden sein, was von den kantonalen Behörden wiederum
nicht (weiter) geprüft, sondern pauschal, ohne Berücksichtigung der konkreten
Entwicklung der ehelichen Beziehungen und der Gründe, die zu deren Scheitern
geführt haben, verworfen wurde. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts
und zu neuem (vom Strafverfahren losgelöstem) Entscheid bezüglich der Schwere
der erlittenen Beeinträchtigungen und der Auswirkungen auf die soziale
Wiedereingliederung im Heimatstaat an die Vorinstanz zurückzuweisen (vgl. das
Urteil 2C_221/2011 vom 30. Juli 2011 E. 3.2). Ist das Scheitern der Ehe
erstelltermassen darauf zurückzuführen, dass die Beschwerdeführerin gegen ihren
Willen dauernd in ein von ihr abgelehntes, erniedrigendes patriarchalisches
Rollenverständnis als "Sklavin" gezwungen wurde, wobei ihr entsprechender
Widerspruch trotz Vermittlungsversuchen zum Scheitern der Ehe geführt hat und
die Strukturen in ihrer Heimat einer Rückkehr als geschiedene Frau in
glaubwürdiger Weise und auf ihre konkreten familiären Verhältnisse bezogen
entgegenstehen, wird ihr die Bewilligung unter Vorbehalt von Gründen nach Art.
51 Abs. 2 AuG (Rechtsmissbrauch, Widerrufsgründe nach Art. 62 AuG) zu
verlängern sein. Rein wirtschaftliche Motive hingegen genügen hierzu nicht,
weshalb der Umstand, dass der Vater erklärt hat, bei einer Rückkehr die
Beschwerdeführerin nicht unterstützen zu wollen bzw. zu können, für sich allein
nicht ausreicht, um die Zumutbarkeit einer Wiedereingliederung in der Heimat
infrage zu stellen bzw. diese als stark gefährdet erscheinen zu lassen.