Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 II 169



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Urteilskopf

138 II 169

14. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abtei- lung i.S. X.
gegen Steuerverwaltung des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
2C_137/2011 vom 30. April 2012

Regeste

Art. 120 Abs. 4 und Art. 152 Abs. 3 DBG; direkte Bundessteuer;
Veranlagungsverjährung; Eintritt der Verjährung während des bundesgerichtlichen
Verfahrens.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als ein ordentliches,
devolutives und grundsätzlich reformatorisches Rechtsmittel hemmt den Eintritt
der Rechtskraft des angefochtenen Entscheids, weshalb die
Veranlagungsverjährung im bundesgerichtlichen Verfahren weiterläuft. Die
während des bundesgerichtlichen Verfahrens eingetretene Veranlagungsverjährung
ist von Amtes wegen zu berücksichtigen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 170

BGE 138 II 169 S. 170
X. wurde am 23. März 1998 für die direkte Bundessteuer 1995/96 rechtskräftig
veranlagt. Am 23. Juli 2002 fanden bei X. und weiteren Beteiligten
Hausdurchsuchungen statt, die der Untersuchungsrichter wegen Verdachts auf
Pfändungsbetrug, Gläubigerschädigung u.a. angeordnet hatte. Mit Schreiben vom
15. November 2004 leitete die Steuerverwaltung des Kantons Bern, welcher die
beschlagnahmten Akten übergeben worden waren, ein Nachsteuer- und
Steuerhinterziehungsverfahren gegen X. ein. Am 9. Januar 2009 erliess die
Steuerverwaltung des Kantons Bern, Abteilung Erbschafts-, Schenkungs- und
Nachsteuern, eine Nachsteuerverfügung u.a. für die direkte Bundessteuer 1995/
96. Eine Beschwerde des Steuerpflichtigen gegen den Einspracheentscheid wies
die Steuerrekurskommission des Kantons Bern mit Entscheid vom 14. Dezember 2010
in Bezug auf die direkte Bundessteuer 1995/96 ab. Hiergegen führte X. am 4.
Februar 2011 rechtzeitig Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.
Mit Eingabe vom 9. Januar 2012 teilte er dem Bundesgericht mit, dass
hinsichtlich der direkten Bundessteuer 1995/96 per Ende 2011 die absolute
Verjährung eingetreten sei, was von Amtes wegen zu berücksichtigen sei.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und stellt fest, dass das Recht zur
Veranlagung der Nachsteuer für die direkte Bundessteuer 1995/96 verjährt ist.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Grundsätzlich läuft eine Verjährungsfrist auch während eines gerichtlichen
Verfahrens. Anders verhält es sich nur, wenn das Gesetz ausdrücklich anordnet,
dass die Verjährung ruht (BGE 123 III 213 E. 3 S. 216), was aber für die
absolute Verjährung nach Art. 120 Abs. 4 und 152 Abs. 3 DBG (SR 642.11) nicht
der Fall ist. Fraglich ist, ob die Verjährung auch dann zu berücksichtigen ist,
wenn sie nicht im kantonalen Verfahren, sondern erst während des
bundesgerichtlichen Verfahrens eintritt.

3.1 Im Zivilrecht, wo die Verjährung nur auf Einrede hin zu berücksichtigen
ist, ist deren rechtzeitige Abgabe eine Sachverhaltsfrage (Urteil 5A_586/2008
vom 22. Oktober 2008 E. 5). Eine erst im bundesgerichtlichen Verfahren erhobene
Einrede der Verjährung ist, ob als neue Tatsache (Art. 99 Abs. 1 BGG) oder als
neues Rechtsbegehren (Art. 99 Abs. 2 BGG), nicht zulässig (BGE 134 V 223 E.
2.2.1 und 2.2.2; Urteil 9C_614/2007 vom 19. Juni 2008 E. 5). Trotzdem
BGE 138 II 169 S. 171
kann auch dort die Verjährung vor Bundesgericht geltend gemacht werden, wenn
sie erst nach dem angefochtenen Entscheid eingetreten ist (BGE 134 V 223 E.
2.2.2 S. 227; BGE 123 III 213 E. 5b S. 218; Urteile 9C_566/2007 vom 3. Januar
2008 E. 3.1; 4A_56/2008 vom 8. Oktober 2009 E. 9.4).

3.2 Das muss erst recht im öffentlichen Recht gelten, wo die Verjährung von
Amtes wegen zu beachten ist. Dass der Sachverhalt für das Bundesgericht durch
den vorinstanzlichen Entscheid grundsätzlich bindend festgelegt ist (Art. 105
Abs. 1 BGG) und das Novenverbot sowohl für neue Tatsachen wie auch
Rechtsbegehren gilt, steht dem nicht entgegen. Es bedarf hier keiner Einrede.
Es gibt folglich auch keine Sachverhaltsfeststellung darüber, ob eine solche
vorliegt. Der Zeitablauf selbst bedarf als allgemein bekannte Tatsache keines
besonderen Beweises. Weitere Tatfragen sind im Zusammenhang mit Art. 152 Abs. 3
und Art. 120 Abs. 4 DBG nicht zu beantworten: Für jede Steuerperiode kann
abstrakt, ohne jegliche Sachverhaltsfeststellungen, beurteilt werden, wann die
absolute Verjährung eintritt. Das ist eine reine Rechtsfrage. Neue
Rechtsvorbringen sind vor Bundesgericht möglich, wenn die letzte kantonale
Instanz volle Rechtskognition hatte und das Recht von Amtes wegen anzuwenden
war (Art. 110 BGG; MEYER/DORMANN in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2.
Aufl. 2011, N. 23 zu Art. 99 BGG; Urteil 6B_1099/ 2010 vom 28. März 2011 E. 2.1
mit Hinweis auf BGE 131 I 31 E. 2.1.1 S. 33). Das trifft hier zu.

3.3 Der Eintritt der Veranlagungsverjährung ist zu berücksichtigen, bis die
Steuer im Sinne von Art. 120 Abs. 4 und Art. 152 Abs. 3 DBG veranlagt oder
festgesetzt ist. Die Steuer oder Nachsteuer ist dann veranlagt bzw.
festgesetzt, wenn der letztinstanzliche Entscheid in Rechtskraft erwachsen ist.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht
ist ein ordentliches, devolutives und grundsätzlich reformatorisches (Art. 107
Abs. 2 BGG) Rechtsmittel (Urteil 8C_741/2009 vom 11. Mai 2010 E. 4.2.1). Die
Rechtskraft tritt daher erst mit dem bundesgerichtlichen Urteil ein. Anders
verhielt es sich noch bei der staatsrechtlichen Beschwerde als einem
ausserordentlichen und prinzipiell kassatorischen Rechtsmittel, das dem
Eintritt der Rechtskraft des kantonalen Entscheides nicht entgegenstand und bei
welcher folglich die Veranlagungsverjährung nicht weiter lief (Urteile 2P.296/
2006 vom 28. März 2007 E. 2, in: StR 62/2007 S. 472; 2P.3/1995 vom 21. März
1995 E. 4b, in: StR 52/1997 S. 41).
BGE 138 II 169 S. 172
Der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kommt zwar in der
Regel keine aufschiebende Wirkung zu (Art. 103 Abs. 1 BGG). Doch wirkt diese
nur der sofortigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Entscheids entgegen. Auf
den Eintritt der Rechtskraft hat eine Verfügung über die aufschiebende Wirkung
grundsätzlich keinen Einfluss, ausser es ist ausdrücklich angeordnet worden
oder ergibt sich aus der Natur der Sache (MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, N. 5 und 6 zu Art. 103 BGG; BGE 106 Ia 155 E. 4 f. S. 158
f.; s. auch Urteile 5A_3/2009 vom 13. Februar 2009 E. 2.3; 6B_440/2008 vom 11.
November 2008 E. 3.3; 5A_613/ 2007 vom 29. November 2007 E. 3).

3.4 Tritt die Verjährung erst während des bundesgerichtlichen Verfahrens ein,
ist sie daher auch ohne diesbezügliche Einrede zu berücksichtigen. In diesem
Sinn hat das Bundesgericht bereits entschieden (Urteile 2C_88/2011 vom 3.
Oktober 2011 E. 2.3.1; 2C_724/2010 vom 27. Juli 2011 E. 6.1, in: StR 66/2011 S.
871). Anders verhält es sich, wenn sich die Verjährung ausschliesslich auf
kantonales Recht stützt (Urteil 2C_790/2008 vom 18. November 2009 E. 7), was
hier nicht zutrifft.

3.5 Anzumerken bleibt, dass in Steuerhinterziehungsverfahren - anders als im
Nachsteuerverfahren - aufgrund der Revision des Allgemeinen Teils des
Strafgesetzbuches (StGB) eine Verfolgungsverjährung nicht mehr eintritt, wenn
vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist
(Botschaft des Bundesrats vom 2. März 2012 zum Bundesgesetz über eine Anpassung
des DBG und des StHG an die Allgemeinen Bestimmungen des StGB, BBl 2012 2869
Ziff. 1.2.2 und S. 2884 ad Art. 189 Abs. 2 DBG und Art. 60 Abs. 2 StHG).

4. Der vorliegend angefochtene Entscheid betrifft die Nachsteuer für die
direkte Bundessteuer der Periode 1995/96. Die Frist gemäss Art. 152 Abs. 3 DBG
von 15 Jahren ist somit am 31. Dezember 2011 abgelaufen. Das angefochtene
Urteil datiert vom 14. Dezember 2010 und wurde dem Beschwerdeführer am 5.
Januar 2011 zugestellt. Am 4. Februar 2011 erhob der Beschwerdeführer
Beschwerde an das Bundesgericht. Die absolute Verjährung trat somit nach dem
Urteil der Steuerrekurskommission des Kantons Bern und vor der Rechtshängigkeit
des Verfahrens beim Bundesgericht ein. Sie ist im vorliegenden Verfahren zu
berücksichtigen.
Die Beschwerde ist folglich gutzuheissen, und es ist festzustellen, dass das
Recht zur Festsetzung der Nachsteuer für die direkte Bundessteuer 1995/96
verjährt ist.