Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 90



Urteilskopf

138 III 90

13. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für
Justiz gegen Handelsregisteramt des Kantons Zürich (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_425/2011 vom 12. Dezember 2011

Regeste

Führung des Handelsregisters; Behördenbeschwerde; Selbsteintritt; Art. 47 Abs.
4 und 5 RVOG; Art. 5 Abs. 2 lit. e HRegV; Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 2 und
Art. 76 Abs. 2 BGG.
Gestützt auf das Selbsteintrittsrecht ist das Bundesamt für Justiz legitimiert,
an Stelle des ihm untergeordneten Eidgenössischen Amtes für das Handelsregister
gemäss Art. 5 Abs. 2 lit. e HRegV Beschwerde zu erheben (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 90

BGE 138 III 90 S. 90

A. Am 2. März 2010 verfügte das Handelsregisteramt des Kantons Zürich die
Auflösung der X. GmbH wegen fehlenden Rechtsdomizils. Einen gegen diese
Verfügung erhobenen Rekurs der X. GmbH bzw. ihres Geschäftsführers A. wies die
Justizdirektion des Kantons Zürich mit Verfügung vom 16. Juni 2010 ab.
Das Bundesamt für Justiz (BJ) führte am 27. Juli 2010 Beschwerde beim
Verwaltungsgericht mit dem Antrag, die Verfügung der Justizdirektion vom 16.
Juni 2010 aufzuheben und selber zu entscheiden, eventuell die Angelegenheit zur
weiteren Abklärung an das
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Handelsregisteramt des Kantons Zürich zurückzuweisen. Das Verwaltungsgericht
verneinte die Beschwerdelegitimation des BJ und trat daher auf die Beschwerde
mit Beschluss vom 1. Juni 2011 nicht ein.

B. Das BJ (Beschwerdeführer) erhebt Beschwerde in Zivilsachen mit dem Begehren,
der Beschluss des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 1. Juni 2011 sei
aufzuheben.
Das Handelsregisteramt des Kantons Zürich (Beschwerdegegner) und die X. GmbH
liessen sich nicht vernehmen. A. konnte die Beschwerde nicht zugestellt werden.
Das Verwaltungsgericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Gegen Entscheide nach Art. 72 Abs. 2 BGG, darunter auch Entscheide über die
Führung des Handelsregisters (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 2 BGG), steht das
Beschwerderecht auch der Bundeskanzlei, den Departementen des Bundes oder,
soweit das Bundesrecht es vorsieht, den ihnen unterstellten Dienststellen zu,
wenn der angefochtene Entscheid die Bundesgesetzgebung in ihrem Aufgabengebiet
verletzen kann (Art. 76 Abs. 2 BGG).

2.2 Der Bundesrat hat in Art. 5 Abs. 2 der Handelsregisterverordnung (HRegV; SR
221.411) in der Version vom 29. September 1997 das BJ zur Erhebung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht und zu den kantonalen
Rechtsmitteln gegen Entscheide der kantonalen Aufsichtsbehörden ermächtigt (AS
1997 2230). Die am 17. Oktober 2007 total revidierte Handelsregisterverordnung
ermächtigt in Art. 5 Abs. 2 lit. e das Eidgenössische Amt für das
Handelsregister (EHRA) im Bundesamt für Justiz zur selbstständigen
Beschwerdeführung an das Bundesgericht gegen Entscheide des
Bundesverwaltungsgerichts und der kantonalen Gerichte. Im Begleitbericht zur
Totalrevision der Handelsregisterverordnung vom 28. März 2007,
Vernehmlassungsentwurf, wurde dazu auf S. 7 ausgeführt (vgl. www.admin.ch/ch/d/
gg/pc/documents/1399/Bericht.pdf):
"Eine weitere Kompetenzverschiebung ergibt sich bei den Rechtsmitteln gegen
Entscheide der kantonalen Instanzen in Handelsregistersachen. Bisher war das BJ
zur Beschwerdeführung an das Bundesgericht und zu den kantonalen Rechtsmitteln
gegen Entscheide der kantonalen Aufsichtsbehörden berechtigt. Diese Aufteilung
der Kompetenzen ist insofern wenig
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sachgerecht, als das EHRA im Rahmen der Genehmigung der Eintragungen u.U. über
dieselben Rechtsfragen zu befinden hat. Es erscheint daher kohärenter, wenn
sämtliche Zuständigkeiten im Zusammenhang mit der Oberaufsicht auf dieselbe
Stelle vereint werden. Demgemäss wird im Entwurf vorgeschlagen, die Befugnis
zur Beschwerdeführung gegen Entscheide der kantonalen Gerichte in
Handelsregistersachen direkt dem EHRA zu übertragen."

2.3 Unter Berufung auf diesen Bericht ging das Verwaltungsgericht davon aus,
gemäss Art. 5 Abs. 2 lit. e HRegV sei nicht mehr das BJ, sondern nur noch das
EHRA beschwerdelegitimiert.

2.4 Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, der Bundesrat habe zwar in Art. 5
Abs. 2 lit. e HRegV dem EHRA unmittelbar die Beschwerdelegitimation zuerkannt,
damit dieselbe Hierarchieebene im BJ über alle operativen Geschäfte im
Handelsregisterbereich entscheidberechtigt sei. Daraus könne aber nicht
abgeleitet werden, der Bundesrat habe dem BJ die Möglichkeit entziehen wollen,
wichtige oder heikle Geschäfte aufgrund des Selbsteintrittsrechts der höheren
Hierarchiestufen gemäss Art. 47 Abs. 4 des Regierungs- und
Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172. 010) an sich
zu ziehen. Die Beschwerdekompetenz des EHRA gemäss Art. 5 Abs. 2 lit. e HRegV
bedeute daher nicht, dass dem BJ die Möglichkeit genommen werden solle,
anstelle der neu zuständigen, ihm unterstellten Organisationsstufe zu
entscheiden.

2.5 Das Bundesgericht hat bei einer vom Vorsteher des EHRA und von seiner
Vorgesetzten (der Vizedirektorin des BJ) unterzeichneten Beschwerde gemäss Art.
5 Abs. 2 lit. e HRegV das EHRA als beschwerdelegitimiert erachtet (Urteil
4A_578/2010 vom 11. April 2011 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 137 III 217).
Damit wurde in diesem Entscheid die Frage nicht beantwortet, ob das BJ
legitimiert ist, anstelle des EHRA eine Beschwerde zu erheben.

2.6 Gemäss Art. 47 Abs. 4 RVOG können die übergeordneten Verwaltungseinheiten
und der Bundesrat jederzeit einzelne Geschäfte zum Entscheid an sich ziehen.
Dieses Vorgehen wird als "Evokation" oder "Selbsteintritt" bezeichnet, weil die
übergeordnete Behörde dabei gestützt auf ihre Dienstaufsicht selber bzw. an
Stelle ihrer untergeordneten Einheit handelt, anstatt diese zum Entscheid
anzuweisen (TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl.
2009, § 6 Rz. 7 S. 46; THOMAS SÄGESSER, Regierungs- und
Verwaltungsorganisationsgesetz [RVOG], 2007, N. 36 zu Art. 47 RVOG). Der in
Art. 47 RVOG verwendete Begriff der
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"Entscheidung" ist in einem weiten Sinne zu verstehen und umfasst neben der
Kompetenz zum Erlass von Verfügungen namentlich auch die Kompetenz zur
Beschwerdeerhebung (SÄGESSER, a.a.O., N. 8 zu Art. 47 RVOG; vgl. auch Botschaft
zum RVOG vom 20. Oktober 1993, BBl 1993 III 997 ff., 1097). Gemäss Art. 47 Abs.
5 RVOG wird der Selbsteintritt bei nach der Gesetzgebung über die
Bundesrechtspflege zwingend zu berücksichtigenden Zuständigkeiten
ausgeschlossen. Mit diesem Ausschluss sollte vermieden werden, dass infolge des
Selbsteintritts eine Instanz wegfällt und deshalb die Beschwerdemöglichkeiten
der Betroffenen nicht mehr vollständig gewährt werden (Botschaft zum RVOG,
a.a.O., 1098; SÄGESSER, a.a.O., N. 40 zu Art. 47 RVOG). Diese Gefahr besteht
jedoch bei Behördenbeschwerden, welche in Handelsregistersachen auch vom
Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement erhoben werden können (Art. 76
Abs. 2 BGG), nicht, weshalb keine zwingend zu berücksichtigende Zuständigkeit
im Sinne von Art. 47 Abs. 5 RVOG vorliegt. Das EHRA ist in die Organisation des
BJ eingegliedert und wird von diesem geführt (Art. 8 Abs. 1 lit. c der
Organisationsverordnung vom 17. November 1999 für das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement [SR 172.213.1]; Urteil 4A_578/2010 E. 1.2.2 mit Hinweis,
nicht publ. in: BGE 137 III 217). Das BJ ist daher als übergeordnete
Verwaltungseinheit gestützt auf das Selbsteintrittsrecht berechtigt, an Stelle
des EHRA Behördenbeschwerde zu erheben. Dass der Bundesrat dem BJ diese
Kompetenz mit der Einführung von Art. 5 Abs. 2 lit. e HRegV hätte entziehen
wollen, ist nicht ersichtlich, zumal diese Bestimmung vom EHRA "im Bundesamt
für Justiz" spricht, was dessen Überordnung betont. Demnach ist die
Beschwerdelegitimation des BJ zu bejahen und - da auch die übrigen
Voraussetzungen gegeben sind - auf seine Beschwerde einzutreten.