Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 792



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

138 III 792

119. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B.
(Beschwerde in Zivilsachen)
4A_203/2012 vom 17. Oktober 2012

Regeste

Art. 404 Abs. 1 und Art. 405 Abs. 1 ZPO; aArt. 273 Abs. 4 und aArt. 274f Abs. 1
OR; Schlichtungsverfahren betreffend Streitigkeiten aus der Miete von Wohn- und
Geschäftsräumen; Übergangsrecht.
Hat die Schlichtungsbehörde in einem mietrechtlichen Schlichtungsverfahren, das
vor Inkrafttreten der ZPO rechtshängig war, danach über die Gültigkeit einer
Kündigung und die Erstreckung des Mietverhältnisses entschieden, bestimmt sich
die Frist zur Anrufung des Gerichts nach altem Recht (E. 2).

Erwägungen ab Seite 792

BGE 138 III 792 S. 792
Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Gemäss aArt. 274f Abs. 1 OR wird ein Entscheid der Schlichtungsbehörde
rechtskräftig, wenn die Partei, die unterlegen ist, nicht innert 30 Tagen den
Richter anruft. Bezüglich dieser Frist kamen die kantonalen Gerichtsferien
nicht zur Anwendung (BGE 123 III 67
BGE 138 III 792 S. 793
E. 2). Im kantonalen Verfahren anerkannte der Beschwerdeführer, dass er die
Frist gemäss aArt. 247f Abs. 1 OR, welche drei Tage vor Ostern am 21. April
2011 ablief, mit der Klage vom 4. Mai 2011 nicht eingehalten hatte. Er machte
jedoch geltend, nach dem Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung
(ZPO; SR 272) am 1. Januar 2011 sei die Frist gemäss Art. 145 Abs. 1 lit. a ZPO
vom siebten Tag vor Ostern bis und mit dem siebten Tag nach Ostern
stillgestanden und damit eingehalten worden.

2.2 Die Übergangsbestimmungen der ZPO sehen vor, dass für Verfahren, die bei
Inkrafttreten dieses Gesetzes rechtshängig sind, das bisherige Verfahrensrecht
bis zum Abschluss vor der betroffenen Instanz gilt (Art. 404 Abs. 1 ZPO). Für
die Rechtsmittel gilt das Recht, das bei der Eröffnung des Entscheides in Kraft
ist (Art. 405 Abs. 1 ZPO).

2.3 Ein Teil der Lehre vertritt die Meinung, das Schlichtungsverfahren sei ein
selbstständiges Verfahren, das durch die Schlichtungsbehörde als betroffene
Instanz im Sinne von Art. 404 Abs. 1 ZPO abgeschlossen werde, weshalb für das
anschliessende gerichtliche Verfahren nach dem Inkrafttreten der ZPO diese
anwendbar sei (FRIDOLIN WALTHER, Das Übergangsrecht zur neuen ZPO, offene
Fragen und mögliche Antworten, SZZP 2010 S. 409 ff., 412 f.; FRANCESCO
TREZZINI, in: Commentario al Codice di diritto processurale civile svizzero
[CPC], Bruno Cocchi und andere [Hrsg.], 2011, N. 2 zu Art. 404ZPO; TANJA DOMEJ,
in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Paul Oberhammer [Hrsg.], 2010, N. 2 zu
Art. 404 ZPO; DOMINIK GASSER, Schweizerische ZPO, Checkliste für Tag 1,
Anwaltsrevue 13/2010 S. 255 ff., 256; SUTTER-SOMM/SEILER, in: Kommentar zur
Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Thomas Sutter-Somm und andere
[Hrsg.], 2010, N. 9 zu Art. 404 ZPO).Zum Teil wird angenommen, auch wenn sich
nach einem altrechtlichen Schlichtungsverfahren das gerichtliche Verfahren nach
neuem Recht richte, sei eine Klagebewilligung mit altrechtlicher
Gültigkeitsdauer zu erteilen (GASSER, a.a.O., S. 256; ZINON KOUMBARAKIS, Das
Schlichtungsverfahren in Mietsachen nach der neuen Zivilprozessordnung, in:
Aktuelle Fragen zum Mietrecht, Beat Rohrer [Hrsg.], 2012, S. 117 ff.und 122 f.;
Kreisschreiben des Obergerichts des Kantons Bern vom 30. September 2010, SZZP
2011 S. 164; WALTHER, a.a.O., S. 414 f., der jedoch hinsichtlich des
Stillstands der altrechtlichen Frist die Anwendung des neuen Rechts
befürwortet). Schliesslich wird die Meinung vertreten, unter der Instanz,
welche das Verfahren nach Art. 404
BGE 138 III 792 S. 794
Abs. 1 ZPO abschliesse, sei bloss eine gerichtliche Instanz mit
Entscheidkompetenz, nicht jedoch eine Schlichtungsbehörde zu verstehen. Führe
ein unter altem Recht rechtshängiges Schlichtungsverfahren zu keiner Einigung,
sei daher das anschliessende Gerichtsverfahren nach altem Recht durchzuführen
(FREI/WILLISEGGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung,
2010, N. 10 f. zu Art. 404 ZPO; ANDREAS FREI, Knifflige Fragen zum
Übergangsrecht, Plädoyer 2011 1 S. 33; DAVID LACHAT, Procédure civile en
matière de baux et loyers, 2011, S. 34; IVO SCHWANDER, in: Schweizerische
Zivilprozessordnung ZPO, Kommentar, Brunner und andere [Hrsg.],2011, N. 28 zu
Art. 404 ZPO; DENIS TAPPY, in: Code de procédure civile commenté, François
Bohnet und andere [Hrsg.], 2011, N. 11 f.und 18 zu Art. 404 ZPO; derselbe: Le
droit transitoire applicable lors de l'introduction de la nouvelle procédure
civile unifiée, JdT 2010 III S. 11 ff., 18 ff.; im Ergebnis ebenso: HOFMANN/
LÜSCHER, Le Code de procédure civile, 2009, S. 236).

2.4 Das Obergericht ging in Übereinstimmung mit der letztgenannten Meinung
davon aus, die Schlichtungsbehörde habe mit ihrem Entscheid vom 15. Februar
2011 kein Verfahren im Sinne von Art. 404 Abs. 1 ZPO abgeschlossen, weshalb
sich die Anrufung des Richters nach aArt. 247f Abs. 1 OR und nicht nach der ZPO
richte.

2.5 Der Beschwerdeführer rügt, gemäss zutreffender Lehrmeinung schliesse ein
Entscheid der Schlichtungsbehörde das Verfahren vor der betroffenen Instanz im
Sinne von Art. 404 Abs. 1 ZPO ab. Die Vorinstanz habe daher diese
Übergangsbestimmung verletzt, indem sie bezüglich der Klagefrist nicht Art. 145
Abs. 1 lit. a ZPO zur Anwendung gebracht habe.

2.6

2.6.1 Die Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung
führt zum Übergangrecht aus, Prozesse, die bei Inkrafttreten der
vereinheitlichten ZPO hängig seien, schlössen die Instanz nach bisherigem
(kantonalem) Prozessrecht ab; für ein anschliessendes innerkantonales
Rechtsmittel gelte dann aber die ZPO (BBl 2006 7407 Ziff. 5.26.2). Entsprechend
erläuterte Ständerat Wicki als Kommissionssprecher, für Prozesse, die bei
Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung hängig sind, sei bis zum
Urteil das bisherige kantonale Prozessrecht massgebend (AB 2007 S 644). Die
Botschaft und diese Erläuterungen zeigen, dass der Gesetzgeber bei der
übergangsrechtlichen Regelung in Art. 404 Abs. 1 und Art. 405 Abs. 1 ZPO vom
kantonalen Instanzenzug ausging und bei
BGE 138 III 792 S. 795
rechtshängigen Verfahren die weitere Geltung des alten Prozessrechts für das
erstinstanzliche Entscheid-, nicht jedoch das kantonale Rechtsmittelverfahren
vorsah (vgl. TAPPY, Le droit transitoire, a.a.O., S. 18 ff. und 36 f.). Demnach
ist unter "Abschluss des Verfahrens vor der betroffenen Instanz" im Sinne von
Art. 404 Abs. 1 ZPO der Abschluss eines erstinstanzlichen Entscheid- oder
allenfalls eines zweitinstanzlichen Rechtsmittelverfahrens zu verstehen. Nach
diesem Konzept stellt das erfolglose Schlichtungsverfahren als
Prozessvoraussetzung grundsätzlich die Einleitung des Entscheidverfahrens vor
dem erstinstanzlichen Gericht dar.

2.6.2 Jedoch stellt sich die Frage, ob die Schlichtungsbehörde nicht dadurch,
dass sie - wie im vorliegenden Fall - gemäss aArt. 273 Abs. 4 OR einen
Entscheid fällt, zum erstinstanzlichen Gericht wird. Das Bundesgericht hat
diese Frage in anderem Zusammenhang mit der Begründung verneint, mit der
Erteilung von gewissen Entscheidbefugnissen habe der Gesetzgeber die
Schlichtungsbehörde nicht in ein erstinstanzliches Gericht umwandeln wollen.
Vielmehr sei ein Entscheid der Schlichtungsbehörde gemäss der Zwecksetzung des
Schlichtungsverfahrens, eine gütliche Einigung der Parteien zu erreichen, als
letzter Einigungsvorschlag zu verstehen, den die Parteien akzeptieren oder
durch die Anrufung des Gerichts ablehnen könnten. Entsprechend fielen solche
Entscheide mit der Anrufung des Richters ohne Weiteres dahin. Sie wirkten sich
auf das richterliche Verfahren nur als "prima facie-Vorentscheide" aus, welche
die Rollenverteilung im Prozess festlegten (BGE 135 III 253 E. 2.4 S. 257 f.
mit Hinweisen).

2.6.3 Aufgrund dieser Rechtsprechung ist davon auszugehen, das bundesrechtlich
vorgesehene Mietschlichtungsverfahren, wie es vor dem Inkrafttreten der ZPO
geregelt war, habe mit einem darin ergangenen Entscheid über die Gültigkeit
einer Kündigung und die Erstreckung des Mietverhältnisses lediglich in einen
prima facie-Vorentscheid gemündet, der keine "Instanz" im Sinne von Art. 404
Abs. 1 ZPO abschloss (FREI/WILLISEGGER, a.a.O., N. 11 zu Art. 404 ZPO; LACHAT,
a.a.O., S. 34). In diesem Sinne erwähnt auch die Botschaft zur ZPO, die
Vorentscheide der Schlichtungsbehörden in bestimmten Streitigkeiten aus Miete
und Pacht seien im Grunde genommen nur Urteilsvorschläge gewesen (BBl 2006 7333
Ziff. 5.13). Die Vorinstanz hat somit bundesrechtskonform erkannt, dass sich
die Anrufung des Gerichts nach einem solchen Vorentscheid nach altem Recht
richtet.
BGE 138 III 792 S. 796

2.6.4 Dies wird dadurch bestätigt, dass die ZPO bei Streitigkeiten aus Miete
und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen keine Vorentscheide der
Schlichtungsbehörde und demgemäss auch keine entsprechende Regelung für die
Anrufung des Gerichts mehr vorsieht. Als Ersatz dafür kann nach Art. 210 Abs. 1
lit. b ZPO die Schlichtungsbehörde Urteilsvorschläge unterbreiten, welche nach
Art. 211 Abs. 1 ZPO als angenommen gelten, wenn keine Partei sie innert 20
Tagen seit der schriftlichen Eröffnung ablehnt (vgl. FLORENCE DOMINÉ BECKER, La
procédure de conciliation en matière de bail au regard du Code de procédure
civile suisse, Plaidoyer 2011 1 S. 39 ff., 43). Von dieser Kompetenzänderung
geht auch der Beschwerdeführer aus, wenn er geltend macht, die
Schlichtungsbehörde hätte richtigerweise eine Rechtsmittelbelehrung gemäss Art.
211 Abs. 1 ZPO vorsehen müssen. Er lässt jedoch ausser Acht, dass diese
Regelung nach dem Gesagten übergangsrechtlich nicht anwendbar ist und ihm auch
die analoge Anwendung der neu für Urteilsvorschläge vorgesehenen zwanzigtägigen
Ablehnungsfrist nicht helfen könnte, da diese am 11. April 2011, d.h. noch vor
dem Fristenstillstand gemäss Art. 145 Abs. 1 lit. a ZPO, abgelaufen wäre.