Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 76



Urteilskopf

138 III 76

11. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. L. GmbH gegen
M. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_532/2011 vom 31. Januar 2012

Regeste

Anfechtbarkeit eines Entscheids betreffend vorsorgliche Beweisführung vor
Bundesgericht (Art. 158 ZPO; Art. 90 BGG).
Der in einem eigenständigen Verfahren ergangene Entscheid, mit dem ein Gesuch
um vorsorgliche Beweisführung gemäss Art. 158 ZPO abgewiesen wurde, ist ein
Endentscheid i.S. von Art. 90 BGG (E. 1.2).

Regeste

Verhältnis des patentgesetzlichen Anspruchs auf genaue Beschreibung (Art. 77
PatG) zur vorsorglichen Beweisführung (Art. 158 ZPO); schutzwürdiges Interesse
an einer vorsorglichen Beweisführung (Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO).
Beim Anspruch auf eine genaue Beschreibung gemäss Art. 77 PatG handelt es sich
um einen gesetzlichen Anspruch i.S. von Art. 158 Abs. 1 lit. a ZPO. Andere
Beweismittel wie z.B. ein Augenschein können in einer patentrechtlichen
Streitigkeit gestützt auf Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO vorsorglich abgenommen
werden (E. 2.4.1); Begriff des schutzwürdigen Interesses an einer vorsorglichen
Beweisführung gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO (E. 2.4.2).

Sachverhalt ab Seite 77

BGE 138 III 76 S. 77

A. Die L. GmbH (Gesuchstellerin und Beschwerdeführerin) ist Inhaberin des
europäischen Patents EP v., das auch in der Schweiz eingetragen ist und ein
Verfahren zum "Aufgeben einer Schlammmasse auf bewegtes Mischmaterial" zum
Gegenstand hat.
BGE 138 III 76 S. 78
Mit Eingabe vom 11. April 2011 stellte die Gesuchstellerin dem Handelsgericht
des Kantons Aargau folgende Anträge:
"1. Es sei gerichtlich
(a) ein Augenschein der Anlage zur Schlammzuführung bei der Beschickung des
Feuerraums in der Kehrichtverbrennungsanlage N. anzuordnen, und
(b) die entsprechende Anlage im Rahmen dieses Augenscheins zu dokumentieren.
2. Über die Kosten dieser vorsorglichen Beweisführung sei mit der Hauptsache zu
entscheiden."
Zur Begründung führte die Gesuchstellerin im Wesentlichen aus, sie wolle
mittels vorsorglicher Beweisführung gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO (SR 272)
ihre Beweis- und Prozessaussichten für einen allfälligen
Patentverletzungsprozess gegen die M. AG (Gesuchsgegnerin und
Beschwerdegegnerin) abklären. Die Gesuchsgegnerin habe eine "mittelbare
Patentverletzung" begangen, indem sie der Betreiberin der
Kehrichtverbrennungsanlage N. im Rahmen der Erstellung der Anlage namentlich
verschiedene Komponenten für die Schlammzuführung geliefert habe. Das
patentgeschützte Verfahren werde in der Kehrichtverbrennungsanlage N.
offensichtlich ohne Lizenz genutzt. Mit der betreffenden Lieferung habe die
Gesuchsgegnerin der Betreiberin der Kehrichtverbrennungsanlage die Verletzung
des Patents ermöglicht, was eine "mittelbare Patentverletzung" darstelle. Der
anbegehrte Augenschein sei geeignet, ein Hauptverfahren zu vermeiden.
Mit Entscheid vom 9. August 2011 wies das Handelsgericht des Kantons Aargau das
Gesuch um vorsorgliche Beweisführung ab (Ziff. 1), auferlegte die
Gerichtskosten in Höhe von Fr. 8'000.- der Gesuchstellerin (Ziff. 2) und
verpflichtete diese, der Gesuchsgegnerin deren Parteikosten in richterlich
festgesetzter Höhe von Fr. 4'650.70 zu ersetzen (Ziff. 3).

B. Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin dem
Bundesgericht unter anderem, es sei die Ziffer 1 des Entscheids des
Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 9. August 2011 aufzuheben und das Gesuch
um vorsorgliche Beweisführung gutzuheissen.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

BGE 138 III 76 S. 79
Aus den Erwägungen:

1. (...)

1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft ein Gesuch um vorsorgliche
Beweisführung, auf das die Bestimmungen über die vorsorglichen Massnahmen
Anwendung finden (Art. 158 Abs. 2 ZPO). Massnahmenentscheide gelten nur dann
als Endentscheide im Sinne von Art. 90 BGG, wenn sie in einem eigenständigen
Verfahren ergehen. Selbständig eröffnete Massnahmenentscheide, die vor oder
während eines Hauptverfahrens erlassen werden und nur für die Dauer des
Hauptverfahrens Bestand haben bzw. unter der Bedingung, dass ein Hauptverfahren
eingeleitet wird, stellen Zwischenentscheide im Sinne von Art. 93 BGG dar (BGE
134 I 83 E. 3.1 S. 86 f.).
Der vorliegend angefochtene Entscheid ist in einem Gesuchsverfahren betreffend
vorsorgliche Beweisführung ergangen, das von der Einleitung eines ordentlichen
Hauptverfahrens unabhängig und damit eigenständig ist. Mit dem angefochtenen
Entscheid wurde das Gesuch abgewiesen und damit das Gesuchsverfahren zum
Abschluss gebracht. Es handelt sich folglich um einen Endentscheid i.S. von
Art. 90 BGG (vgl. auch Urteil 5A_433/2007 vom 18. September 2007 E. 1, nicht
publ. in: BGE 133 III 638, betreffend eine vorsorgliche Beweisführung nach
früherem Berner Zivilprozessrecht). Dagegen ist die Beschwerde in Zivilsachen
zulässig.
(...)

2. (...)

2.4

2.4.1 Art. 158 ZPO regelt die vorsorgliche Beweisführung. Nach Abs. 1 nimmt das
Gericht jederzeit Beweis ab, wenn das Gesetz einen entsprechenden Anspruch
gewährt (lit. a) oder die gesuchstellende Partei eine Gefährdung der
Beweismittel oder ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft macht (lit. b). Nach
Abs. 2 finden die Bestimmungen über die vorsorglichen Massnahmen Anwendung.
Art. 77 PatG (SR 232.14) in der vom Inkrafttreten der ZPO am 1. Januar 2011 bis
zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 20. März 2009 über das
Bundespatentgericht (PatGG; SR 173.41) am 1. Januar 2012 geltenden Fassung
besteht aus einem Absatz und sieht vor, dass eine Person, die um die Anordnung
vorsorglicher Massnahmen ersucht, insbesondere verlangen kann, dass das Gericht
eine genaue Beschreibung der angeblich widerrechtlich angewendeten Verfahren
(lit. a Ziff. 1) oder der hergestellten Erzeugnisse und
BGE 138 III 76 S. 80
der zur Herstellung dienenden Einrichtungen und Geräte (lit. a Ziff. 2)
anordnet (AS 2010 1739). Diese Norm entspricht Abs. 1 lit. b der auf 1. Januar
2012 in Kraft getretenen Fassung von Art. 77 PatG (AS 2010 513, 2011 2241).
Gemäss Abs. 2 hat die Partei, die eine genaue Beschreibung beantragt, glaubhaft
zu machen, dass ein ihr zustehender Anspruch verletzt ist oder eine Verletzung
zu befürchten ist.
Beim Anspruch auf eine genaue Beschreibung gemäss Art. 77 PatG (in alter wie
neuer Fassung) handelt es sich um einen gesetzlichen Anspruch i.S. von Art. 158
Abs. 1 lit. a ZPO (WALTER FELLMANN, in: Kommentar zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung, Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2010, N. 9 zu Art. 158
ZPO; PETER GUYAN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung,
2010, N. 2 zu Art. 158 ZPO; Botschaft vom 7. Dezember 2007 zum
Patentgerichtsgesetz, BBl 2007 455, 495). Unter den Voraussetzungen von Art. 77
PatG kann damit eine genaue Beschreibung von Verfahren, Erzeugnissen sowie zur
Herstellung dienenden Hilfsmitteln gestützt auf Art. 158 Abs. 1 lit. a ZPO
bereits vor einem allfälligen Hauptverfahren als vorsorgliche Beweismassnahme
verlangt werden.
Davon unabhängig ist die von der Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall
beantragte Durchführung eines Augenscheins i.S. von Art. 181 f. ZPO als
vorsorgliche Beweismassnahme gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO. Dass den
Parteien auch bei patentrechtlichen Streitigkeiten die Möglichkeit offensteht,
die vorsorgliche Abnahme anderer Beweismittel als der genauen Beschreibung nach
Art. 77 PatG, also z.B. die Einvernahme von Zeugen, die Edition von
Konstruktionszeichnungen oder Wartungshandbüchern etc., gestützt auf Art. 158
Abs. 1 lit. b ZPO zu erwirken, wird in der Literatur als selbstverständlich
erachtet (MARK SCHWEIZER, Vorsorgliche Beweisabnahme nach schweizerischer
Zivilprozessordnung und Patentgesetz, ZZZ 2010 S. 16; ders., Der Anspruch auf
genaue Beschreibung gemäss Art. 77 PatG-Gedanken eines Mitglieds des
Bundespatentgerichts, sic! 12/2010, S. 932; sodann FABIAN WIGGER, Der neue
Immaterialgüterrechtsprozess, sic! 2/2011, S. 147 f. mit Hinweis auf Voten von
Andri Hess-Blumer und Felix Addor). Es ist in der Tat kein Grund ersichtlich,
weshalb das allgemeine zivilprozessuale Instrumentarium nicht auch im Bereich
des Patentrechts zur Anwendung gelangen soll. Ein Augenschein gemäss Art. 181
f. ZPO kann auch in patentrechtlichen Streitigkeiten gestützt auf Art. 158 Abs.
1 lit. b ZPO als vorsorgliche Beweismassnahme angeordnet werden,
BGE 138 III 76 S. 81
sofern die gesuchstellende Partei ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft macht.
Der Begründung der Vorinstanz kann damit insoweit nicht gefolgt werden, als sie
eine vorsorgliche Durchführung eines Augenscheins gestützt auf Art. 158 Abs. 1
lit. b ZPO nur dann als zulässig erachten will, wenn gleichzeitig die
spezialgesetzlichen Voraussetzungen von Art. 77 PatG erfüllt sind.

2.4.2 Gemäss der Botschaft wird mit dem Begriff des schutzwürdigen Interesses
in Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO auf die Möglichkeit Bezug genommen, eine
vorsorgliche Beweisführung auch zur Abklärung der Beweis- und Prozessaussichten
durchzuführen. Diese Möglichkeit soll dazu beitragen, aussichtslose Prozesse zu
vermeiden (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung,
BBl 2006 7315). Mit der blossen Behauptung eines Bedürfnisses, Beweis- und
Prozessaussichten abzuklären, ist ein schutzwürdiges Interesse an einer
vorsorglichen Beweisführung jedoch noch nicht hinreichend glaubhaft gemacht.
Eine vorsorgliche Beweisführung kann nur mit Blick auf einen konkreten
materiellrechtlichen Anspruch verlangt werden, hängt doch das Interesse an
einer Beweisabnahme vom Interesse an der Durchsetzung eines damit zu
beweisenden Anspruchs ab. Die Gesuchstellerin, die sich auf Art. 158 Abs. 1
lit. b ZPO stützt, muss daher glaubhaft machen, dass ein Sachverhalt vorliegt,
gestützt auf den ihr das materielle Recht einen Anspruch gegen die
Gesuchsgegnerin gewährt, und zu dessen Beweis das abzunehmende Beweismittel
dienen kann (SCHWEIZER, a.a.O., S. 7; ISAAK MEIER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 2010, S. 311; HANS SCHMID, in: Schweizerische
Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, Oberhammer [Hrsg.], 2010, N. 4 zu Art. 158
ZPO; JOHANN ZÜRCHER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner und
andere [Hrsg.], 2011, N. 15 zu Art. 158 ZPO; LAURENT KILLIAS UND ANDERE,
Gewährt Art. 158 ZPO eine "pre-trial discovery" nach US-amerikanischem Recht?,
in: Innovatives Recht, Festschrift für Ivo Schwander, Lorandi/Staehelin
[Hrsg.], 2011, S. 941; in diesem Sinne auch FRANCESCO TREZZINI, in: Commentario
al Codice di diritto processuale civile svizzero [CPC], 2011, S. 760; a.M. aber
wohl WALTER FELLMANN, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung,
Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 2010, N. 23 zu Art. 158 ZPO, der auch im
Anwendungsbereich von Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO keine Glaubhaftmachung eines
Hauptanspruches zu verlangen scheint). Lediglich für Tatsachen, die mit dem
vorsorglich
BGE 138 III 76 S. 82
abzunehmenden Beweismittel bewiesen werden sollen, kann keine eigentliche
Glaubhaftmachung verlangt werden, denn sonst würde der Zweck von Art. 158 Abs.
1 lit. b ZPO, die vorprozessuale Abklärung von Beweisaussichten zu ermöglichen,
vereitelt. Stellt das abzunehmende Beweismittel das einzige dar, mit dem die
Gesuchstellerin ihren Anspruch beweisen kann, muss es genügen, dass sie das
Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen lediglich substanziiert behauptet
(vgl. SCHWEIZER, a.a.O., S. 7 f.).

2.4.3 Die Vorinstanz hat Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO im Ergebnis nicht
willkürlich angewendet, wenn sie von der Beschwerdeführerin zwar nicht die
Glaubhaftmachung der mit dem beantragten Augenschein zu beweisenden
patentverletzenden Handlung verlangt hat, sehr wohl aber der Voraussetzungen
einer Teilnahmehandlung gemäss Art. 66 lit. d PatG, auf welche die
Beschwerdeführerin ihren Anspruch aus "mittelbarer Patentverletzung"
vornehmlich stützt. Dass die Vorinstanz auch Art. 66 lit. d PatG willkürlich
ausgelegt hätte, macht die Beschwerdeführerin zu Recht nicht geltend. Die Rüge,
die Vorinstanz habe in willkürlicher Weise den Anspruch der Beschwerdeführerin
auf Klärung der Beweis- und Prozessaussichten vereitelt, ist damit unbegründet.