Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 708



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

138 III 708

108. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. AG gegen
Y. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_284/2012 vom 25. September 2012

Regeste

Art. 31 des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen
Strassengüterverkehr (CMR); negative Feststellungsklage; Einrede der
Rechtshängigkeit.
Die Zuständigkeitsbestimmung von Art. 31 Abs. 1 CMR schliesst die negative
Feststellungsklage nicht aus (E. 3.3).
Die bei einem nach Art. 31 Abs. 1 CMR zuständigen Gericht erhobene negative
Feststellungsklage begründet im Verfahren einer später erhobenen Leistungsklage
nach Art. 31 Abs. 2 CMR die Einrede der Rechtshängigkeit (E. 3.4 und 3.5).

Erwägungen ab Seite 708

BGE 138 III 708 S. 708
Aus den Erwägungen:

3. Die Parteien sind sich zu Recht darüber einig, dass im vorliegenden Fall das
Übereinkommen vom 19. Mai 1956 über den Beförderungsvertrag im internationalen
Strassengüterverkehr (CMR; SR 0.741.611) anwendbar ist. Das Übereinkommen gilt
für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf Strassen,
wenn der Ort der
BGE 138 III 708 S. 709
Übernahme des Gutes und der für die Ablieferung vorgesehene Ort in zwei
verschiedenen Staaten liegen und wenn mindestens der eine Vertragsstaat ist
(Art. 1 Abs. 1 CMR). Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanzen hätten Art.
31 Abs. 2 CMR falsch ausgelegt und seien deshalb zu Unrecht auf ihre
Leistungsklage nicht eingetreten. Sie bestreitet zunächst, dass eine negative
Feststellungsklage nach Art. 31 Abs. 1 CMR überhaupt zulässig sei und bringt
sinngemäss vor, das in den Niederlanden von der Beklagten befasste Gericht
hätte auf deren Klage gar nicht eintreten dürfen. Sie rügt sodann, die
Vorinstanz habe zu Unrecht Identität zwischen der in den Niederlanden hängigen
negativen Feststellungsklage der Beklagten und ihrer Forderungsklage angenommen
sowie zu Unrecht die Vollstreckbarkeit der negativen Feststellungsklage bejaht.

3.1 Für die Auslegung von Normen in internationalen Verträgen sind die Art. 31
ff. des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge
(Wiener Übereinkommen, VRK; SR 0.111) massgebend. Danach ist ein Vertrag nach
Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen
in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und
Zweckes auszulegen (Art. 31 Abs. 1 VRK). Der Wortlaut einer Vertragsnorm in
seiner gewöhnlichen Bedeutung und im systematischen Zusammenhang des Vertrags
ist danach ebenso massgebend wie die beim Abschluss des Vertrags getroffenen
Übereinkünfte (Art. 31 Abs. 2 VRK) und die spätere Übung bei der Anwendung des
Vertrags, sofern daraus eine Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine
Auslegung hervorgeht (Art. 31 Abs. 3 lit. b VRK). In diesem Rahmen ist das
Verständnis der Bestimmungen, wie sie in Urteilen der Gerichte anderer
Vertragsstaaten zum Ausdruck kommt, zu berücksichtigen. Die Vorinstanz hat
insofern zutreffend die zwei gleichentags ergangenen Urteile des deutschen
Bundesgerichtshofs vom 20. November 2003, auf die sich die Beschwerdeführerin
beruft (BGH I ZR 102/02 und I ZR 294/02), ebenso berücksichtigt wie das Urteil
des österreichischen Obersten Gerichtshofs vom 17. Februar 2006 (OGH 10 Ob 147/
05y) und das Urteil des englischen Court of Appeal vom 23. Januar 2001 ([2001]
EWCA Civ 61), welche zur Auslegung von Art. 31 CMR ergangen sind.

3.2 Nach Art. 31 Abs. 1 CMR kann der Kläger, unter Vorbehalt einer
Gerichtsstandsvereinbarung (zugunsten eines Gerichts eines Vertragsstaats),
wegen aller Streitigkeiten aus einer diesem Übereinkommen unterliegenden
Beförderung die Gerichte eines Staates anrufen,
BGE 138 III 708 S. 710
auf dessen Gebiet (a) der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seine
Hauptniederlassung oder die Zweigniederlassung oder Geschäftsstelle hat, durch
deren Vermittlung der Beförderungsvertrag geschlossen worden ist, oder (b) der
Ort der Übernahme des Gutes oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegt.
Andere Gerichte können nicht angerufen werden.
Art. 31 Abs. 2 CMR lautet:
"Ist ein Verfahren bei einem nach Absatz 1 zuständigen Gericht wegen einer
Streitigkeit im Sinne des genannten Absatzes anhängig oder ist durch ein
solches Gericht in einer solchen Streitsache ein Urteil erlassen worden, so
kann eine neue Klage wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien nicht
erhoben werden, es sei denn, dass die Entscheidung des Gerichtes, bei dem die
erste Klage erhoben worden ist, in dem Staat nicht vollstreckt werden kann, in
dem die neue Klage erhoben wird."
In den Originalsprachen Französisch und Englisch:
"Lorsque dans un litige visé au par. 1 du présent article une action est en
instance devant une juridiction compétente aux termes
de ce paragraphe, ou lorsque dans un tel litige un jugement a été prononcé par
une telle juridiction, il ne peut être intenté aucune nouvelle action pour la
même cause entre les mêmes parties à moins que la décision de la juridiction
devant laquelle la première action a été intentée ne soit pas susceptible
d'être exécutée dans le pays où la nouvelle action est intentée."
"Where in respect of a claim referred to in paragraph 1 of this article an
action is pending before a court or tribunal competent under
that paragraph, or where in respect of such a claim a judgement has been
entered by such a court or tribunal no new action shall be started between the
same parties on the same grounds unless the judgement of the court or tribunal
before which the first action was brought is not enforceable in the country in
which the fresh proceedings are brought."

3.3 Art. 31 Abs. 1 CMR schliesst entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin
die negative Feststellungsklage nicht aus. Danach gelten die
Zuständigkeitsbestimmungen für sämtliche Streitigkeiten aus dem CMR
unterliegenden Verträgen ("Pour tous litiges auxquelles donnent lieu les
transports soumis à la présente Convention") und nicht nur für die Haftpflicht
des Frachtführers. Die Zuständigkeit knüpft sodann an die Parteirolle im
Prozess an und entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht an die
Gläubigerstellung nach materiellem Recht, wenn nach dem Wortlaut der Norm "der
Kläger (...) die Gerichte (...) anrufen" kann ("le demandeur peut saisir [...]
les juridictions" bzw. "the plaintiff may bring an action in any court or
tribunal").
BGE 138 III 708 S. 711
Für einen - impliziten - Ausschluss negativer Feststellungsklagen durch Art. 31
Abs. 1 CMR überhaupt ergeben sich entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin
weder aus der Systematik der Bestimmungen irgendwelche Anhaltspunkte noch liegt
eine solche Ansicht den Entscheiden des deutschen Bundesgerichtshofs vom 20.
November 2003 (BGH I ZR 102/02 und I ZR 294/02) zugrunde. Darin wird vielmehr
die Zulässigkeit der - je früher eingereichten - negativen Feststellungsklage
ausdrücklich bejaht, jedoch (analog der Praxis nach dem internen deutschen
Recht, wonach das Rechtsschutzinteresse an einer negativen Feststellungsklage
entfällt, wenn eine entsprechende Leistungsklage eingereicht wird) der Vorrang
der Leistungsklage vor einer hängigen negativen Feststellungsklage auch für
Klagen aus Verträgen bejaht, die dem CMR unterstehen. Zur Begründung wird
angeführt, eine negative Feststellungsklage begründe die Einrede der
Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR nicht, weil dem
Anspruchsteller das Wahlrecht nach Art. 31 Abs. 1 CMR nicht entzogen werden
dürfe (so auch HERBER/PIPER, Internationales Strassentransportrecht, München
1996, N. 26 zu Art. 31 CMR). Die Beschwerdeführerin belegt sodann nicht, dass
der angebliche Wille der Parteien des Übereinkommens, negative
Feststellungsklagen überhaupt auszuschliessen, aus Dokumenten beim
Vertragsschluss abgeleitet werden könnte.
Es ist davon auszugehen, dass die Beklagte gestützt auf Art. 31 Abs. 1 CMR vor
einem zuständigen Gericht in den Niederlanden eine Klage eingereicht hat, mit
der sie die Feststellung begehrt, dass sie der Klägerin (sowie weiteren
Parteien) aus dem Zigarettendiebstahl nicht haftet, aus dem die Klägerin im
vorliegenden Verfahren ihre Forderung ableitet. Es stellt sich allein die
Frage, ob die Einrede der Rechtshängigkeit nach Art. 31 Abs. 2 CMR begründet
ist.

3.4 Die Einrede der Rechtshängigkeit nach Art. 31 Abs. 2 CMR setzt zunächst
voraus, dass dieselbe Sache zwischen denselben Parteien vor dem Gericht eines
anderen Vertragsstaats hängig ist. Während vorliegend nicht umstritten ist,
dass sich vor dem Gericht der Niederlande dieselben Parteien gegenüberstehen,
bestreitet die Beschwerdeführerin, dass dieselbe Sache dort streitig ist. Sie
begründet ihren Standpunkt im Wesentlichen im Sinne der Urteile des deutschen
BGH aus dem Jahre 2003, die dem CMR eine Wertung über die Wahlmöglichkeiten des
Forderungsgläubigers entnehmen, welche zum Ausschluss der Einrede der
Rechtshängigkeit führt, wenn im hängigen Verfahren derselbe Anspruch Gegenstand
einer negativen Feststellungsklage bildet.
BGE 138 III 708 S. 712
Die Praxis des deutschen BGH ist in der Literatur umstritten (vgl. KLAUS
DEMUTH, in: Kommentar zur CMR, Thume [Hrsg.], 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2007, N.
58 zu Art. 31 CMR; INGO KOLLER, Transportrecht, 7. Aufl., München 2010, N. 8 zu
Art. 31 CMR). Der österreichische Oberste Gerichtshof (Urteil des OGH 10 Ob 147
/05y vom 17. Februar 2006) und der englische Court of Appeal (Urteil vom 23.
Januar 2001, [2001] EWCA Civ 61) haben anders entschieden. Deren Ansicht kann
die überzeugenderen Argumente für sich beanspruchen. So geht es allgemein um
dieselbe Sache, wenn der Schuldner die Feststellung beansprucht, dass er aus
einem bestimmten Ereignis nichts schulde und der Gläubiger aus demselben
Sachverhalt eine Forderung einklagt. Dass es sowohl in den Niederlanden wie im
vorliegenden Verfahren um die Ersatzpflicht der Beklagten aus dem Schaden geht,
den der Zigarettendiebstahl verursacht hat, ist unbestritten. Gerade im
internationalen Verhältnis, in dem unterschiedliche prozessuale Regelungen der
Vertragsstaaten gelten, müssen über die Zuständigkeit - wozu die
Rechtshängigkeit gehört - einfache und praktikable Regeln gelten. Eine
Regelung, welche die negative Feststellungsklage grundsätzlich zulässt, jedoch
der Leistungsklage in der gleichen Sache den Vorrang gewährt, führt zu
Abgrenzungsfragen, wenn die Rechtshängigkeit oder die Rechtskraft in
unterschiedlichen Prozessordnungen unterschiedlich definiert wird. Dies würde
dem Ziel, sich widersprechende Urteile aus verschiedenen Vertragsstaaten zu
verhindern, entgegenwirken (vgl. DEMUTH, a.a.O., N. 58 zu Art. 31 CMR; KOLLER,
a.a.O., N. 8 zu Art. 31 CMR Fn. 93).
Es ist überdies, wie die Beschwerdeführerin mit ihrer Argumentation selbst
beweist, nicht sehr folgerichtig, zwar die negative Feststellungsklage im
Rahmen von Art. 31 Abs. 1 CMR grundsätzlich zuzulassen, sie jedoch mit der
Begründung der eingeschränkten Wahlmöglichkeit nach dieser Bestimmung dennoch
wieder auszuschliessen, sobald eine identische Leistungsklage eingereicht wird.
Das CMR zeichnet jedenfalls weder in dieser Bestimmung noch in der allgemeinen
Systematik einen Vorrang der Leistungsklage vor der identischen negativen
Feststellungsklage vor. Dass die zutreffende Auslegung von Art. 31 Abs. 2 CMR
mit der Praxis des EuGH zur Rechtshängigkeit nach Art. 21 des Brüsseler
Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
(EuGVÜ; vgl. nunmehr Art. 27 EuGVVO; Urteile des EuGH vom 6. Dezember 1994
C-406/92 Tatry/Maciej Rataj, Slg. 1994 I-5460; vom 8. Dezember 1987
BGE 138 III 708 S. 713
C-144/86 Gubisch Maschinenfabrik/Palumbo, Slg. 1987 4871) und des
schweizerischen Bundesgerichts zur entsprechenden Regelung des
Lugano-Übereinkommens (LugÜ; SR 0.275.12; vgl. BGE 136 III 523 E. 6; BGE 125
III 346 E. 4b S. 349; BGE 123 III 414 E. 5) übereinstimmt, steht der richtigen
Auslegung nicht entgegen, sondern kann als zusätzliche Bestätigung deren
Richtigkeit angeführt werden.

3.5 Art. 31 Abs. 2 CMR behält schliesslich für die Einrede der Rechtshängigkeit
vor, dass die Entscheidung des Gerichts, bei dem die erste Klage anhängig
gemacht worden ist, in dem Staat nicht vollstreckt werden kann, in dem die neue
Klage erhoben wird. Die Vollstreckung von Urteilen, mit denen festgestellt
wird, dass eine Partei eine bestimmte Leistung nicht schuldet, erfolgt in
gleicher Weise wie diejenige von Entscheidungen, mit denen eine Leistungsklage
abgewiesen wird. Der Beklagte kann ihre Rechtskraft einredeweise geltend machen
(vgl. HERBER/PIPER, a.a.O., N. 25 zu Art. 31 CMR mit Verweisen; DEMUTH, a.a.O.,
N. 59 zu Art. 31 CMR; KOLLER, a.a.O., N. 8 zu Art. 31 CMR; STAUB/HELM,
Grosskommentar zum Handelsgesetzbuch, 4. Aufl., Berlin/New York 2002, N. 51 zu
Art. 31 CMR). In welcher Form die "Vollstreckung" erfolgt, regelt Art. 31 Abs.
2 in fine CMR nicht (vgl. auch das Urteil des englischen Court of Appeal vom
23. Januar 2001, [2001] EWCA Civ 61 Rz. 94,wonach "enforceable" im Kontext von
Art. 31 Abs. 2 CMR im Sinne von "capable of being given effect" zu verstehen
ist). Es ist nun jedoch nicht ersichtlich und die Beschwerdeführerin weist
nicht nach, dass im vorliegenden Fall Anhaltspunkte dafür bestehen könnten,
dass das Urteil der niederländischen Gerichte in der Schweiz nicht anerkannt
und damit - je nach Ausgang des Verfahrens - in der Form durchgesetzt werden
könnte, wie dies für entsprechende schweizerische Feststellungsurteile
vorgesehen ist.

3.6 Die Vorinstanz hat Art. 31 CMR zutreffend ausgelegt mit dem Schluss, dass
die Einrede der Rechtshängigkeit begründet ist und daher die Gerichte in der
Schweiz unzuständig sind.