Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 702



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Urteilskopf

138 III 702

106. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X.
Versicherung AG gegen Y. Versicherung (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_277/2012 / 4A_217/2012 vom 9. Oktober 2012

Regeste

Anwendungsbereich des Rechtsbehelfs nach Art. 51 Abs. 1 ZPO.
Intertemporalrechtliche Anwendbarkeit nach Art. 404 Abs. 1 und Art. 405 Abs. 1
ZPO. Zeitlicher Anwendungsbereich im Verlauf des Prozesses (Art. 51 Abs. 3 ZPO;
E. 3.2 und 3.4).

Erwägungen ab Seite 702

BGE 138 III 702 S. 702
Aus den Erwägungen:

3.

3.2 Die Vorinstanz verneinte die intertemporalrechtliche Anwendbarkeit von Art.
51 ZPO (SR 272). Sie vermochte daher den Mangel des Vorentscheids vom 1. März
2012 infolge der Mitwirkung des befangenen Handelsrichters Hablützel nicht
gestützt auf diese Bestimmung zu beheben. Sie hielt dazu zunächst zutreffend
und
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unangefochten fest, auf das vorliegende, am 21. Mai 2010 eingeleitete Verfahren
sei nach Art. 404 Abs. 1 ZPO bis zum Endentscheid, der das vorinstanzliche
Verfahren abschliesst, das frühere kantonale Prozessrecht und nicht die ZPO
(einschliesslich deren Art. 51) anwendbar (vgl. dazu BGE 138 I 1 E. 2.1 S. 2
f.). Sodann prüfte die Vorinstanz, ob die Anwendung von Art. 51 ZPO auf Art.
405 Abs. 1 ZPO gestützt werden könnte, wonach für die Rechtsmittel das Recht
gilt, das bei der Eröffnung des Entscheides in Kraft ist. Sie anerkannte zwar,
dass diese Bestimmung auf alle Arten von Rechtsmitteln, namentlich auch auf
Rechtsbehelfe anwendbar sei. Erfasst seien indessen nur die unter dem 9. Titel
der ZPO ("Rechtsmittel") genannten Rechtsbehelfe, weshalb ein Gesuch nach Art.
51 ZPO nicht darunterfalle.
(...)

3.4 Der Wortlaut von Art. 405 Abs. 1 ZPO spricht von "Rechtsmitteln" gegen
einen eröffneten "Entscheid". Rechtsmittel im Sinne dieser Bestimmung richten
sich damit gegen einen gerichtlichen Entscheid, mithin gegen einen formellen
Entscheid des Gerichts, wenn von der Möglichkeit einer
Rechtsverzögerungsbeschwerde gegen einen Nichtentscheid nach Art. 319 lit. c
ZPO abgesehen wird (vgl. FREI/WILLISEGGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Zivilprozessordnung, 2010, N. 6 f. zu Art. 405 ZPO). Als Rechtsmittel in diesem
Sinn werden in der Lehre die im 9. Titel der ZPO (Art. 308 ff.) aufgeführten
Rechtsmittel bzw. Rechtsbehelfe der Berufung, der Beschwerde, der Erläuterung
und der Berichtigung genannt (FREI/WILLISEGGER, a.a.O., N. 6 zu Art. 405 ZPO;
DENIS TAPPY, in: CPC, Code de procédure civile commenté, François Bohnet und
andere [Hrsg.], 2011, N. 3 zu Art. 405 ZPO; FREIBURGHAUS/AFHELDT, in: Kommentar
zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere [Hrsg.],
2010, N. 7 ff. zu Art. 405 ZPO). Im Gegensatz zu Rechtsmitteln in diesem Sinn
kann sich ein Aufhebungsantrag nach Art. 51 Abs. 1 ZPO gegen Amtshandlungen
schlechthin richten, d.h. auch gegen Prozesshandlungen des Gerichts, die nicht
in einem formellen Entscheid ergangen und eröffnet worden sind, wie z.B. die
Einvernahme von Zeugen. Bei solchen handelt es sich um Realakte, bei denen der
einzuschlagende Rechtsweg nicht immer einfach und klar vorgegeben ist, da
eigentliche Rechtsmittel regelmässig eine Verfügung oder einen Erlass als
Anfechtungsobjekt voraussetzen (vgl. BGE 128 I 167 E. 4.5 S. 174; BGE 121 I 87
E. 1b S. 91).
BGE 138 III 702 S. 704
Bei Art. 51 Abs. 1 ZPO handelt es sich um eine Spezialbestimmung, welche die
Aufhebung und Wiederholung von Amtshandlungen im weitesten Sinn ermöglicht,
wenn ein Ausstandsgrund vor Abschluss bzw. während des laufenden Verfahrens vor
der betreffenden Instanz entdeckt wird (Art. 51 Abs. 3 ZPO e contrario), und
die für diesen Fall die Geltendmachung des Ausstandsgrundes mittels Anfechtung
eines Zwischenentscheides mit einem Rechtsmittel im eigentlichen Sinn
ausschliesst. Die Ergreifung eines Rechtsmittels im Sinne von Art. 405 Abs. 1
ZPO kommt in zutreffender Auslegung von Art. 51 Abs. 3 ZPO zur Geltendmachung
eines Ausstandsgrunds nur dann in Betracht, wenn der Ausstandsgrund nach
Abschluss des Verfahrens vor der betreffenden Instanz (mithin nach Ergehen
eines formellen Endentscheids), aber vor Ablauf der Rechtsmittelfrist, also vor
der Rechtskraft des Entscheids entdeckt wird (Botschaft zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung, BBl 2006 7221 ff., 7273 Ziff. 5.2.3 zu Art. 49 E-ZPO;
TAPPY, a.a.O., N. 3 und 15 f. zu Art. 51 ZPO; STEPHAN WULLSCHLEGER, in:
Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere
[Hrsg.], 2010, N. 10 zu Art. 51 ZPO; MARK LIVSCHITZ, in: Schweizerische
Zivilprozessordnung [ZPO], Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 6 zu Art. 51
ZPO).
Die Vorinstanz verneinte damit zutreffend, dass Art. 51 Abs. 1 ZPO im
vorliegenden Fall gestützt auf Art. 405 Abs. 1 ZPO angewendet werden kann. Da
auf das Verfahren vor Handelsgericht im Übrigen das bisherige kantonale
Prozessrecht anwendbar bleibt (Art. 404 Abs. 1 ZPO), fällt eine Anwendung von
Art. 51 ZPO auch insoweit ausser Betracht.

3.5 Die Beschwerde 4A_277/2012 ist somit abzuweisen, soweit darauf eingetreten
werden kann. Nach dem Dargelegten fällt eine Aufhebung des Vorentscheids vom 1.
März 2012 gestützt auf Art. 51 Abs. 1 ZPO intertemporalrechtlich ausser
Betracht. Im Folgenden ist daher die gegen den Vorentscheid vom 1. März 2012
gerichtete Beschwerde 4A_217/2012 zu prüfen.
Für die verfassungsrechtlichen Aspekte dieses Urteils siehe die in BGE 138 I
406 publizierten E. 5.3 und 5.4 S. 407 ff.