Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 565



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Urteilskopf

138 III 565

83. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. M. gegen V.
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_303/2012 vom 30. August 2012

Regeste

Berufung gegen Entscheide über die Zuteilung der Obhut über die Kinder im
Rahmen von Eheschutzmassnahmen bzw. vorsorglicher Massnahmen für die Dauer des
Scheidungsverfahrens; Aufschub der Vollstreckung des angefochtenen
erstinstanzlichen Entscheids (Art. 315 Abs. 5 ZPO).
Grundsätze für die Behandlung des Gesuchs um Aufschub der Vollstreckung eines
die Obhut regelnden erstinstanzlichen Massnahmeentscheides (E. 4.3).

Sachverhalt ab Seite 565

BGE 138 III 565 S. 565

A. M. (Mutter) und V. (Vater) sind die Eltern von T. (26. Dezember 2005) und S.
(4. Mai 2007). Während der Ehe wurden die Kinder zur Hauptsache vom Vater
betreut. Die Mutter verliess zusammen mit den beiden Kindern die eheliche
Wohnung und reichte später beim Einzelgericht im summarischen Verfahren des
Bezirksgerichts Uster ein Begehren um Erlass von Eheschutzmassnahmen und
Anordnung vorsorglicher Massnahmen ein. Die angerufene Instanz stellte die
beiden Kinder für die Dauer des Getrenntlebens unter die Obhut des Vaters.

B. Die Mutter gelangte gegen diesen Entscheid mit Berufung an das Obergericht
des Kantons Zürich mit dem Begehren um Zuteilung der Obhut über die Kinder. Des
Weiteren ersuchte sie darum, der Berufung aufschiebende Wirkung zu erteilen,
soweit ihr diese nicht von
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Gesetzes wegen zukomme. Dieses Gesuch wies der Präsident des Obergerichts mit
Verfügung vom 26. März 2012 ab.

C. Die Mutter (Beschwerdeführerin) hat beim Bundesgericht Beschwerde in
Zivilsachen erhoben. Sie beantragt, die Verfügung vom 26. März 2012 aufzuheben
und das Obergericht anzuweisen, ihrer Berufung gegen das erstinstanzliche
Massnahmenurteil aufschiebende Wirkung zu gewähren. V. (Beschwerdegegner)
schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde
ab.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.3 Die Beschwerdeführerin macht des Weiteren geltend, die Vorinstanz habe
entgegen dem Wortlaut von Art. 315 Abs. 5 ZPO (SR 272) nicht abgeklärt, ob ihr
bzw. dem Kind ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil drohe, wenn die
Kinder der Obhut des Beschwerdegegners anvertraut werden. Sie habe in der
Berufungsschrift ausführlich erklärt, dass das Wohl der Kinder beim
Beschwerdegegner gefährdet sei. Die Auslegung der Bestimmung durch die
Vorinstanz sei willkürlich; überdies sei das Ermessen willkürlich ausgeübt
worden.

4.3.1 Gemäss Art. 315 Abs. 4 lit. b ZPO hat die Berufung gegen vorsorgliche
Massnahmen keine aufschiebende Wirkung. Indes kann die Vollstreckung
vorsorglicher Massnahmen ausnahmsweise aufgeschoben werden, wenn der
betroffenen Partei ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht (Art.
315 Abs. 5 ZPO). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat die
Rechtsmittelinstanz der Berufung gegen den erstinstanzlichen Entscheid nur in
Ausnahmefällen aufschiebende Wirkung zu gewähren. Sie verfügt jedoch über einen
grossen Ermessensspielraum, der es ihr erlaubt, den Umständen des konkreten
Falles Rechnung zu tragen (BGE 137 III 475 E. 4.1 S. 478).

4.3.2 Davon ausgehend, dass bei Fragen der Obhut kurzfristige oder häufige
Veränderungen das Wohl des Kindes zu beeinträchtigen vermögen, hat sich das mit
einem Gesuch um Aufschub der Vollstreckung eines die Obhut regelnden
vorsorglichen Massnahmenentscheids befasste Gericht (Art. 315 Abs. 5 ZPO) von
folgenden Grundsätzen leiten zu lassen:
Verbleibt das Kind gestützt auf das erstinstanzliche Urteil bei jenem
Elternteil, der sich unmittelbar vor dem Eintritt der Umstände, die
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Anlass zum Massnahmeverfahren gegeben haben, hauptsächlich um das Kind
gekümmert hat, ist der Berufung des anderen Elternteils die aufschiebende
Wirkung in der Regel zu verweigern. Vorbehalten bleiben wichtige Gründe,
namentlich wenn die Vollstreckung des erstinstanzlichen Entscheids das
Kindeswohl unmittelbar gefährdet, was vom Gesuchsteller darzutun ist, und der
Entscheid als solcher offensichtlich unhaltbar erscheint.
Anders verhält es sich, wenn der erstinstanzliche Massnahmerichter in
Abweichung der bisherigen hauptsächlichen Betreuung des Kindes durch einen
Elternteil die Obhut dem andern zuweist. Bei dieser Ausgangslage gebietet im
Zweifel das Wohl des Kindes, den bisherigen Zustand aufrechtzuerhalten bzw.
wiederherzustellen und das Kind vorerst bei der bisherigen Hauptbezugsperson zu
belassen. Daher ist dem Gesuch um aufschiebende Wirkung der Berufung desjenigen
Elternteils, der bisher Hauptbezugsperson war, in der Regel stattzugeben.
Hingegen soll der Vollzug des erstinstanzlichen Urteils nicht aufgeschoben
werden, wenn die Berufung von vornherein als unzulässig oder in der Sache
selbst als offensichtlich unbegründet erscheint (vgl. dazu Urteil 5A_194/2012
vom 8. Mai 2012 E. 5.1.3); demgegenüber würde nicht genügen, die aufschiebende
Wirkung mit der Begründung zu verweigern, der angefochtene Entscheid erscheine
nicht unhaltbar.

4.3.3 Wie sich aus den Feststellungen des angefochtenen Entscheids ergibt, hat
sich der Beschwerdegegner vor der Trennung zur Hauptsache um die Betreuung der
Kinder gekümmert, während die Beschwerdeführerin einer ausserhäuslichen
Tätigkeit nachgegangen ist. Die Beschwerdeführerin hat am 19. September 2011
die eheliche Wohnung zusammen mit den Kindern verlassen und im Oktober 2011 ein
Massnahmeverfahren eingeleitet. Mithin hat der erstinstanzliche
Massnahmerichter die Obhut der vor der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes in
der Ehe geübten Rollenteilung entsprechend dem Beschwerdegegner zugewiesen.
Gründe, weshalb der erstinstanzliche Entscheid offensichtlich unhaltbar
erscheinen musste, hat die Beschwerdeführerin nicht darzutun vermocht; blosse
und zudem erstmals vor der Berufungsinstanz vorgetragene und nicht weiter
dokumentierte Behauptungen hinsichtlich der Gefährdung des Kindeswohls genügen
nicht, um von den soeben aufgezeigten Grundsätzen abzuweichen. Daher erweist
sich die Verweigerung der aufschiebenden Wirkung im vorliegenden Fall
jedenfalls im Ergebnis nicht als willkürlich; eine Verletzung von Art. 9 BV
liegt nicht vor.