Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 548



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Urteilskopf

138 III 548

80. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Erbengemeinschaft des W. gegen Ausgleichskasse Schwyz (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_928/2011 vom 9. Juli 2012

Regeste

Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG und Art. 17 Abs. 5 ELV; Art. 4 ff. des Bundesgesetzes
vom 4. Oktober 1991 über das bäuerliche Bodenrecht (BGBB); Verzichtsvermögen.
Ob der Verkauf einer Liegenschaft (bestehend u.a. aus Wiesland mit Wohnhaus und
einem Kleingebäude, Acker, Wiese, Weide, Hoch- und Flachmoor einschliesslich
weiterer verpachteter Parzellen mit Acker-, Wies- und Weidland) an ein
erbberechtigtes Kind zum Ertragswert einen Vermögensverzicht darstellt, hängt
in erster Linie davon ab, ob es sich dabei um ein landwirtschaftliches Gewerbe
im Sinne des bäuerlichen Bodenrechts handelt (E. 7).

Sachverhalt ab Seite 549

BGE 138 III 548 S. 549

A. W. bezog ab 1. August 2007, seine Ehefrau S. ab 1. Februar 2008,
Ergänzungsleistungen (EL) zur Altersrente der AHV. Mit Verfügung vom 1. Januar
2011 setzte die Ausgleichskasse Schwyz (nachfolgend: Ausgleichskasse) die
Ergänzungsleistungen für 2011 auf monatlich Fr. 2'922.- und Fr. 3'121.- fest.
Bei der Berechnung des Anspruchs berücksichtigte sie einnahmenseitig u.a.
jeweils Fr. 66'663.- "Übriges Vermögen Schenkung". Mit Eingaben vom 13. und 19.
Januar 2011 erhob G., der jüngere Sohn der beiden EL-Bezüger, Einsprache und
beantragte, die 2007 von seinem Vater erworbene Liegenschaft sei zum
Ertragswert (Fr. 216'217.-) und nicht zum Vermögenswert (Fr. 320'507.-)
anzurechnen. Im Februar 2011 verstarb W. Mit Verfügung vom 8. März 2011 setzte
die Ausgleichskasse die Ergänzungsleistung für S. ab 1. März 2011 neu auf
monatlich Fr. 2'894.- fest, dies unter Anrechnung von Fr. 133'326.-
"ÜbrigesVermögen Schenkung". Mit Einspracheentscheid vom 14. Juli 2011
bestätigte sie gegenüber der Erbengemeinschaft W. sel. die Verfügung vom 1.
Januar 2011.

B. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der Erbengemeinschaft des W. sel.
und von S. hob das Verwaltungsgericht des Kantons
BGE 138 III 548 S. 550
Schwyz die Verfügung vom 8. März 2011 auf und wies die Sache an die
Ausgleichskasse zurück, damit sie nach Vornahme ergänzender Abklärungen im
Sinne der Erwägungen über den EL-Anspruch der Ehefrau des Verstorbenen ab dem
1. März 2011 neu verfüge. Im Übrigen wies es das Rechtsmittel ab (Entscheid vom
27. Oktober 2011).

C. Die Erbengemeinschaft des W. sel. und S. führen gemeinsam Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren,
Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien dahingehend abzuändern, dass
überhaupt kein Verzichtsvermögen angerechnet werden dürfe und die Sache sei zur
entsprechenden Neufestsetzung der Ergänzungsleistungen für den Verstorbenen und
seine Ehefrau, eventualiter zu ergänzenden Abklärungen an die Ausgleichskasse
zurückzuweisen.
Das kantonale Gericht und die Ausgleichskasse verzichten auf eine
Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen
lassen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

7. Die Vorinstanz ist ohne Weiterungen davon ausgegangen, bei dem vom
verstorbenen EL-Bezüger mit Kaufvertrag vom 31. Oktober 2007 entäusserten
Grundstück Y., bestehend u.a. aus Wiesland mit Wohnhaus und einem Kleingebäude,
Acker, Wiese, Weide, Hoch- und Flachmoor einschliesslich weiterer Parzellen mit
Acker-, Wies- und Weidland, handle es sich um ein landwirtschaftliches Gewerbe
im Sinne des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über das bäuerliche Bodenrecht
(BGBB; SR 211.412.11).

7.1

7.1.1 Nach Art. 4 BGBB gelten für Grundstücke, die für sich allein oder
zusammen mit andern Grundstücken ein landwirtschaftliches Gewerbe bilden, die
besonderen Bestimmungen dieses Gesetzes über die landwirtschaftlichen Gewerbe
(Abs. 1). Die Bestimmungen über landwirtschaftliche Gewerbe gelten nicht für
landwirtschaftliche Grundstücke, die: a. zu einem landwirtschaftlichen Gewerbe
gemäss Artikel 8 gehören; b. (...; Abs. 3). Laut Art. 8 BGBB finden die
Bestimmungen über die einzelnen landwirtschaftlichen Grundstücke auf ein
landwirtschaftliches Gewerbe Anwendung, wenn es: a. seit mehr als sechs Jahren
rechtmässig ganz oder weitgehend
BGE 138 III 548 S. 551
parzellenweise verpachtet ist und diese Verpachtung im Sinne von Artikel 31
Absatz 2 Buchstaben e und f des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1985 über die
landwirtschaftliche Pacht (LPG; SR 221.213.2) weder vorübergehenden Charakter
hat noch aus persönlichen Gründen erfolgt ist; b. unabhängig von seiner Grösse
wegen einer ungünstigen Betriebsstruktur nicht mehr erhaltungswürdig ist. Ein
Grundstück gilt als landwirtschaftlich, das für die landwirtschaftliche oder
gartenbauliche Nutzung geeignet ist (Art. 6 Abs. 1 BGBB).

7.1.2 Gemäss Art. 7 BGBB gilt als landwirtschaftliches Gewerbe eine Gesamtheit
von landwirtschaftlichen Grundstücken, Bauten und Anlagen, die als Grundlage
der landwirtschaftlichen Produktion dient und zu deren Bewirtschaftung, wenn
sie landesüblich ist, mindestens eine Standardarbeitskraft nötig ist. Der
Bundesrat legt die Faktoren und die Werte für die Berechnung einer
Standardarbeitskraft in Abstimmung mit dem Landwirtschaftsrecht fest (Abs. 1;
vgl. Art. 2a der Verordnung vom 4. Oktober 1993 über das bäuerliche Bodenrecht
[VBB; SR 211.412.110]). Bei der Beurteilung, ob ein landwirtschaftliches
Gewerbe vorliegt, sind diejenigen Grundstücke zu berücksichtigen, die diesem
Gesetz unterstellt sind (Art. 2 [Allgemeiner Geltungsbereich]; Abs. 3). Die
Verpachtung einzelner Parzellen eines landwirtschaftlichen Gewerbes für sich
allein betrachtet ändert nichts an dieser Eigenschaft (EDUARD HOFER, in: Das
bäuerliche Bodenrecht, Kommentar zum Bundesgesetz über das bäuerliche
Bodenrecht vom 4. Oktober 1991, 2. Aufl. 2011, N. 37f zu Art. 7 BGBB; vgl. BGE
111 II 487 E. 3a S. 492).
Die Kantone können landwirtschaftliche Betriebe, welche die Voraussetzungen
nach Artikel 7 hinsichtlich der Standardarbeitskräfte nicht erfüllen, den
Bestimmungen über die landwirtschaftlichen Gewerbe unterstellen; die minimale
Betriebsgrösse ist dabei in einem Bruchteil einer Standardarbeitskraft
festzulegen und darf 0,75 Standardarbeitskräfte nicht unterschreiten (Art. 5
lit. a BGBB). Nach § 22 Abs. 2 des schwyzerischen Gesetzes vom 26. November
2003 über die Landwirtschaft (SRSZ 312.100) sind landwirtschaftliche Betriebe
im Berggebiet gemäss Art. 1 Abs. 3 der Verordnung vom 7. Dezember 1998 über den
landwirtschaftlichen Produktionskataster und die Ausscheidung von Zonen
(Landwirtschaftliche Zonen-Verordnung; SR 912.1) den Bestimmungen über die
landwirtschaftlichen Gewerbe unterstellt, sofern für ihre Bewirtschaftung
mindestens 0,75 Standardarbeitskräfte (SAK) nötig sind (Art. 5 lit. a BGBB).
Das Berggebiet im Sinne von Art. 1 Abs. 3 der Landwirtschaftliche
Zonen-Verordnung umfasst die Bergzonen I-IV.
BGE 138 III 548 S. 552

7.2 Vorliegend fragt sich, ob es sich beim Gegenstand des Kaufvertrages vom 31.
Oktober 2007 (Grundstück Y. und sechs weitere Parzellen mit Acker-, Wies- und
Weidland) überhaupt um ein landwirtschaftliches Gewerbe im Sinne von Art. 7
Abs. 1 BGBB oder um einen vom Kanton gestützt auf Art. 5 lit. a BGBB den
diesbezüglichen Gesetzesbestimmungen unterstellten landwirtschaftlichen Betrieb
nach § 22 Abs. 2 des kantonalen Landwirtschaftsgesetzes handelt, oder ob ein
unter Art. 8 BGBB fallender Sachverhalt gegeben ist. Davon hängt entscheidend
ab, ob im Zusammenhang mit der Veräusserung des gesamten landwirtschaftlichen
Grundeigentums des verstorbenen EL-Bezügers (Ziff. 13 des Kaufvertrages vom 31.
Oktober 2007) ein Vermögensverzichtstatbestand im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit.
g ELG (SR 831.30) und Art. 17 Abs. 5 ELV (SR 831.301) gegeben ist:

7.2.1 Nach Art. 42 BGBB haben, wenn ein landwirtschaftliches Gewerbe veräussert
wird, die nachgenannten Verwandten des Veräusserers ein Vorkaufsrecht in
folgender Rangordnung, wenn sie es selber bewirtschaften wollen und dafür
geeignet erscheinen: 1. jeder Nachkomme; 2. (...; Abs. 1). Wird ein
landwirtschaftliches Grundstück veräussert, so hat jeder Nachkomme des
Veräusserers ein Vorkaufsrecht daran, wenn er Eigentümer eines
landwirtschaftlichen Gewerbes ist oder wirtschaftlich über ein solches verfügt
und das Grundstück im ortsüblichen Bewirtschaftungsbereich dieses Gewerbes
liegt (Abs. 2). Gemäss Art. 44 BGBB können die Berechtigten das Vorkaufsrecht
an einem landwirtschaftlichen Gewerbe zum Ertragswert und an einem
landwirtschaftlichen Grundstück zum doppelten Ertragswert geltend machen.
Ebenfalls hat der Pächter unter bestimmten Bedingungen ein Vorkaufsrecht, wenn
ein landwirtschaftliches Gewerbe oder ein landwirtschaftliches Grundstück
veräussert wird. Das Vorkaufsrecht der Verwandten geht indessen vor (Art. 47
BGBB).
Selbstbewirtschafter ist, wer den Boden selber bearbeitet und, wenn es sich um
ein landwirtschaftliches Gewerbe handelt, dieses zudem persönlich leitet. Für
die Selbstbewirtschaftung geeignet ist, wer die Fähigkeiten besitzt, die nach
landesüblicher Vorstellung notwendig sind, um den landwirtschaftlichen Boden
selber zu bearbeiten und ein landwirtschaftliches Gewerbe zu leiten (Art. 9
Abs. 1 und 2 BGBB). Den Boden im Sinne dieser Bestimmung selber bearbeiten
bedeutet, die im Betrieb anfallenden Arbeiten auf dem Feld, im Stall, auf dem
Hof (inkl. Administrativarbeiten) und im Zusammenhang mit der Vermarktung der
Produkte zu einem wesentlichen Teil selber verrichten (ZBGR 87/2006 S. 273,
5A.20/2004 E. 3.2; BGE 115 II 181
BGE 138 III 548 S. 553
E. 2a S. 183 ff.). Die bearbeitete Fläche muss nicht notwendigerweise ein
landwirtschaftliches Gewerbe sein (BRUNO BEELER, Bäuerliches Erbrecht gemäss
dem Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht [BGBB] vom 4. Oktober 1991,
1998, S. 112 f.). Es kann auch ein für die landwirtschaftliche Nutzung
geeignetes, landwirtschaftliches Grundstück im Sinne von Art. 6 Abs. 1 BGBB
sein (PAUL RICHLI, Landwirtschaftliches Gewerbe und Selbstbewirtschaftung -
zwei zentrale Begriffe des Bundesgesetzes über das bäuerliche Bodenrecht, AJP
1993 S. 1067). Auch wer eine landwirtschaftliche Tätigkeit als
Freizeitbeschäftigung ausübt, kann - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - als
Selbstbewirtschafter gelten (Urteil 2C_855/2008 vom 11. Dezember 2009 E. 2.1).

7.2.2 Wird ein landwirtschaftliches Gewerbe verpachtet, bleibt das
Vorkaufsrecht der Nachkommen bestehen, auch wenn sie es insofern nicht selber
bewirtschaften können, als sie den Boden nicht im Sinne von Art. 9 BGBB selber
bearbeiten können. Sie müssen jedoch dafür geeignet erscheinen. Dies ergibt
sich zwingend aus der Rangordnung, wonach das Vorkaufsrecht der Verwandten
demjenigen des Pächters vorgeht (Art. 47 Abs. 3 BGBB). Andernfalls könnte
dieses Privileg durch Verpachtung des landwirtschaftlichen Gewerbes oder
landwirtschaftlicher Grundstücke ausgehebelt werden. Umgekehrt wird die
Rechtsposition des Pächters dadurch geschützt, dass bei Veräusserung des
Pachtgegenstandes der Erwerber in den Pachtvertrag eintritt (Art. 14 LPG "Kauf
bricht Pacht nicht"; BGE 124 III 37 E. 2 S. 39). Gleiches muss umso mehr
gelten, wenn nur ein Teil des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens verpachtet
ist, der Erwerber den nicht verpachteten Teil selbst bewirtschaftet und er dazu
geeignet ist. Auch in einem solchen Fall muss der Nachkomme gestützt auf Art.
44 BGBB das Vorkaufsrecht am landwirtschaftlichen Gewerbe zum Ertragswert
geltend machen können.

7.2.3 Vorliegend steht fest, dass auf dem vom verstorbenen EL-Bezüger mit
Kaufvertrag vom 31. Oktober 2007 u.a. veräusserten Grundstück Y., umfassend
eine Fläche von 19'383 m² (= 1,9383 ha), zwei Pachtverträge lasteten, wobei
gemäss Angaben der Beschwerdeführerinnen das seit (...) verpachtete Land 1,8 ha
misst. Unter der Annahme, dass das Kaufobjekt ein landwirtschaftliches Gewerbe
im Sinne von Art. 7 Abs. 1 BGBB oder ein vom Kanton gestützt auf Art. 5 lit. a
BGBB den diesbezüglichen Gesetzesbestimmungen unterstellter
landwirtschaftlicher Betrieb nach § 22 Abs. 2 des kantonalen
Landwirtschaftsgesetzes war, hatte der Käufer Anspruch auf
BGE 138 III 548 S. 554
Übernahme zum Ertragswert und damit zu einem tieferen Wert als der Verkehrswert
nach Art. 17 Abs. 5 Satz 2 ELV. Ist dagegen von einem landwirtschaftlichen
Gewerbe auszugehen, auf das nach Art. 8 BGBB die Bestimmungen über die
einzelnen landwirtschaftlichen Grundstücke anzuwenden sind (HOFER, a.a.O., N. 2
f. zu Art. 8 BGBB; Urteil 2C_ 200/2009 vom 14. September 2009 E. 2.1), hatte
der Sohn des verstorbenen EL-Bezügers und Erwerber kein gesetzliches
Vorkaufsrecht. Ein solches setzte voraus, dass er Eigentümer eines
landwirtschaftlichen Gewerbes ist oder wirtschaftlich über ein solches verfügt
und das Grundstück im ortsüblichen Bewirtschaftungsbereich dieses Gewerbes
liegt (Art. 42 Abs. 2 BGBB), was nach Lage der Akten nicht zutrifft. Damit
hatte er aber auch keinen Anspruch auf Übernahme zum (doppelten) Ertragswert
und damit allenfalls zu einem tieferen Wert als der Verkehrswert nach Art. 17
Abs. 5 Satz 2 ELV. Es liegt bzw. läge insoweit eine (gemischte) Schenkung vor,
woran der vereinbarte Gewinnanspruch nach Art. 41 Abs. 1 BGBB nichts ändert
(FELIX SCHÖBI, Bäuerliches Bodenrecht. Eine Annäherung in drei Aufsätzen, 1994,
S. 70). Der noch unter dem alten Recht ergangene BGE 120 V 10, auf den sich die
Beschwerdeführerinnen in diesem Zusammenhang berufen, ist überholt.

7.3 Nach dem Gesagten kann nicht abschliessend beurteilt werden, ob im
Zusammenhang mit der Veräusserung des gesamten landwirtschaftlichen
Grundeigentums des verstorbenen EL-Bezügers (Ziff. 13 des Kaufvertrages vom 31.
Oktober 2007) ein Vermögensverzichtstatbestand im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit.
g ELG und Art. 17 Abs. 5 ELV gegeben ist. Die Ausgleichskasse wird die
notwendigen Abklärungen (vorab Qualifizierung des Kaufgegenstandes, allenfalls
- in einem zweiten Schritt - des zuweisungsberechtigten Erben) vorzunehmen
haben und danach die Ergänzungsleistung neu festsetzen (...).