Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 138 III 145



Urteilskopf

138 III 145

22. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Stadt Zürich
gegen X. und Betreibungsamt Bern Mittelland (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_404/2011 vom 26. Januar 2012

Regeste

Art. 111 SchKG, Art. 289 Abs. 2 ZGB; privilegierte Anschlusspfändung, Übergang
des Privilegs auf das Gemeinwesen.
Das Gemeinwesen ist nach Art. 289 Abs. 2 ZGB berechtigt, den privilegierten
Anschluss an die Pfändung zu verlangen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 145

BGE 138 III 145 S. 145

A. In der gegen X. laufenden Betreibung der Krankenkasse A. vollzog das
Betreibungsamt Bern-Mittelland, Dienststelle Mittelland, am 10. Dezember 2010
die Pfändung (Gruppe Nr. x). Auf entsprechende Mitteilung hin gelangte die
Stadt Zürich, Soziale Dienste/Alimentenstelle, am 5. Januar 2011 an das
Betreibungsamt. Sie verlangte den privilegierten Anschluss an die Pfändung nach
Art. 111 SchKG für Alimentenforderungen gegenüber dem Schuldner, die sie für
dessen Sohn vom 1. Juli 2008 bis 1. Januar 2011 bevorschusst hatte. Darauf
teilte das Betreibungsamt der Stadt Zürich am 14. Januar 2011 mit, dass
Unterhaltsbeiträge, die durch das Gemeinwesen
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bevorschusst werden, zur privilegierten Anschlusspfändung nicht berechtigt
seien.

B. Gegen die Verfügung des Betreibungsamtes erhob die Stadt Zürich Beschwerde
beim Obergericht des Kantons Bern, Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und
Konkurssachen, welche mit Entscheid vom 7. Juni 2011 abgewiesen wurde.

C. Die Stadt Zürich ist am 16. Juni 2011 mit Beschwerde in Zivilsachen an das
Bundesgericht gelangt. Die Beschwerdeführerin verlangt, der Entscheid der
Aufsichtsbehörde vom 7. Juni 2011 sei aufzuheben und das Betreibungsamt sei
anzuweisen, den privilegierten Anschluss an die Pfändung vom 10. Dezember 2010
zu gewähren. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in Zivilsachen gut.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Anlass zur vorliegenden Beschwerde gibt das Begehren der Beschwerdeführerin,
welche gestützt auf Art. 111 SchKG an der gegenüber dem Schuldner vollzogenen
Pfändung teilnehmen will. Nach dieser Gesetzesbestimmung können bestimmte
Personen an einer Pfändung ohne vorgängige Betreibung innert 40 Tagen nach
ihrem Vollzug teilnehmen (Abs. 1), u.a. die Kinder des Schuldners für
Forderungen aus dem elterlichen Verhältnis (Abs. 1 Ziff. 2). Sodann bestimmt
Art. 289 Abs. 2 ZGB, dass der Unterhaltsanspruch mit allen Rechten auf das
Gemeinwesen übergeht, falls das Gemeinwesen für den Unterhalt aufkommt
(Subrogation bzw. Legalzession nach Art. 289 Abs. 2 ZGB; BGE 137 III 193 E. 2.1
S. 197). Dass die Beschwerdeführerin als Gemeinwesen bevorschusste
Unterhaltsansprüche für das Kind des Schuldners geltend macht, steht nicht in
Frage. Streitpunkt ist hingegen, ob sie infolge Subrogation die privilegierte
Anschlusspfändung nach Art. 111 SchKG verlangen kann.

3.1 Die Beschwerdeführerin stellt zunächst die Zuständigkeit der
Aufsichtsbehörde in Frage. Dieses Vorbringen ist nicht haltbar. Es geht hier
nicht um die Entscheidung, ob der Beschwerdeführerin materiell ein
Unterhaltsanspruch in der geltend gemachten Höhe zusteht, was im
Anschlussprozess zu klären wäre (Art. 111 Abs. 5 SchKG), sondern darum, ob ein
nach Art. 111 SchKG privilegierter Forderungsanspruch vorliegt. Der Streit
dreht sich m.a.W. um die Legitimation eines Gläubigers zur Stellung des
Anschlusspfändungsbegehrens.
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Diese zu prüfen ist Sache des Betreibungsamtes, dessen Entscheid mit Beschwerde
nach Art. 17 SchKG weitergezogen werden kann (BGE 61 III 80 E. 2 S. 84; ZR 1905
Nr. 86 E. 1 S. 137).

3.2 Das Bundesgericht hat die Frage, ob das Unterhaltsbeiträge bevorschussende
Gemeinwesen den privilegierten Pfändungsanschluss (Art. 111 SchKG) verlangen
kann, noch nicht entschieden. In der Lehre und Praxis findet sich keine
einheitliche Antwort.

3.2.1 Ein Teil der Autoren vertritt die Auffassung, dass zu "allen Rechten",
die auf das Gemeinwesen übergehen (Art. 289 Abs. 2 ZGB), auch das Recht zum
privilegierten Pfändungsanschluss gehört, weil es um die qualitative Sicherung
der Durchsetzung des Unterhaltsanspruchs gehe (u.a. BREITSCHMID, Fragen um die
Zwangsvollstreckung bei Alimentenbevorschussung [...], SJZ 1992 S. 64;
HEGNAUER, Berner Kommentar, 1997, N. 97 zu Art. 289 ZGB; HAUSHEER/SPYCHER, in:
Handbuch des Unterhaltsrechts, 2. Aufl. 2010, S. 386 Rz. 6.42; BASTONS
BULLETTI, Les moyens d'exécution des contributions d'entretien après divorce et
les prestations d'aide sociale, in: Droit patrimonial de la famille, 2004, S.
72; MATHEY, La saisie de salaire et de revenu, 1989, S. 211 Rz. 457).

3.2.2 Nach anderer Meinung handelt es sich beim Anschlussrecht nach Art. 111
SchKG um ein Vorzugsrecht, welches mit Blick auf die persönliche Rücksichtnahme
untrennbar mit der Person des Abtretenden verbunden sei und nicht nach Art. 170
OR übergehe (u.a. JENT-SØRENSEN, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl. 2010, N. 15 zu Art. 111 SchKG;
GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la
faillite, Bd. II, 2000, N. 36 zu Art. 111 SchKG; PROBST, in: Commentaire
romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 10 zu Art. 170 OR; GIRSBERGER,
in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 9 zu Art. 170
OR). Die kantonale Rechtsprechung ist von dieser Auffassung bzw. von der
Verweigerung des Anschlussprivilegs nicht überzeugt (ZR 1991 Nr. 40 E. 4a S.
126 obiter dictum).

3.3 Nach dem Wortlaut von Art. 289 Abs. 2 ZGB geht der bevorschusste Unterhalt
"mit allen Rechten" ("avec tous les droits", "con tutti i diritti") auf das
Gemeinwesen über. Dies lässt den Einbezug des Übergangs des Rechts auf
privilegierte Anschlusspfändung grundsätzlich zu. Nichts anderes ergibt sich
aus der weiteren Auslegung der Bestimmung.
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3.3.1 Den Materialien lässt sich entnehmen, dass die Subrogation "namentlich"
die Unterhaltsklage (Art. 279 ff. ZGB), den Anspruch auf Schuldneranweisung
(Art. 291 ZGB) und auf Sicherstellung (Art. 292 ZGB) erfasst (Botschaft vom 5.
Juni 1974 über die Änderung des ZGB [Kindesverhältnis], BBl 1974 II 1, 64 Ziff.
322.6). Daraus kann ebenso wenig wie aus der systematischen Einordnung von Art.
289 Abs. 2 ZGB (im Kindesunterhaltsrecht) abgeleitet werden, dass der Übergang
von zwangsvollstreckungsrechtlichen Vorzugsrechten ausgeschlossen sei. Der
Revisionsgesetzgeber wollte die Geltendmachung und Vollstreckung des
Unterhaltsanspruchs erleichtern. Mit dem Ausbau der privatrechtlichen Regelung
wurde auch klargestellt, dass es sich bei der Bevorschussung des
Unterhaltsanspruchs durch das Gemeinwesen nicht um Sozialleistungen handelt.
Das Kind soll nicht Anspruch auf Bevorschussung haben, weil es Not leidet,
sondern weil der Unterhaltspflichtige säumig ist. Das Gemeinwesen erbringt die
Leistung an Stelle des Pflichtigen, weshalb der privatrechtliche (Unterhalts-)
Anspruch übergeht (Botschaft, a.a.O., 66 Ziff. 322.7).

3.3.2 Zweck der Subrogation ist demnach, dass der Unterhaltsschuldner nicht von
seiner Nachlässigkeit profitieren soll. Aus diesem Grund kann das
bevorschussende Gemeinwesen die Schuldneranweisung nach Art. 291 ZGB verlangen,
wie das Bundesgericht kürzlich entschieden hat (BGE 137 III 193 E. 3.4 S. 201).
Die gleiche Überlegung gilt für das Recht des Gemeinwesens, die privilegierte
Anschlusspfändung nach Art. 111 SchKG zu verlangen. Sie dient - ebenso wie die
Schuldneranweisung - nicht dem unmittelbaren Unterhalt des Berechtigten,
sondern vielmehr der Sicherung der Durchsetzung der Unterhaltsforderung (vgl.
BREITSCHMID, a.a.O.). Demnach verlangt eine auf Art. 289 Abs. 2 ZGB bzw. die
zivilrechtliche Funktion der Subrogation abgestimmte Handhabung von Art. 111
SchKG, dass das Anschlussprivileg ohne Weiteres an der Unterhaltsforderung
haftet (privilegium causae) und vom bevorschussenden Gemeinwesen geltend
gemacht werden kann.

3.4 Betreibungs- oder obligationenrechtliche Aspekte stehen dieser Auslegung
nicht entgegen.

3.4.1 Wohl hat das Anschlussprivileg nach Art. 111 SchKG seinen Grund in der
für bestimmte Gläubiger bestehenden Schwierigkeit, wegen des familien- oder
vormundschaftlichen Verhältnisses ihre Forderung durch selbständige
Schuldbetreibung durchzusetzen (BGE 72 I 151 S. 154). Um den Nachteil gegenüber
Fremdgläubigern wettzumachen, erleichtert das Gesetz den betreffenden
benachteiligten
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Gläubigern die Teilnahme an einer bereits vollzogenen Pfändung durch ein
doppeltes Vorrecht (Anschluss innert längerer Frist, ohne vorgängige
Betreibung). Es ist jedoch nicht einzusehen, weshalb ein Schuldner, dessen
Unterhaltsleistungen das Gemeinwesen bevorschussen muss, besser fahren soll
(weil er nur mit vorgängiger Betreibung belangt werden kann) als ein Schuldner,
dessen Gläubiger nicht auf die Bevorschussung angewiesen ist. Diese
Unterscheidung, auf welche die Beschwerdeführerin zu Recht hinweist, ist durch
den Zweck von Art. 111 SchKG nicht geboten und lässt sich betreibungsrechtlich
nicht rechtfertigen.

3.4.2 Zu Recht hat die Vorinstanz die Subrogation bzw. Legalzession nach Art.
289 Abs. 2 ZGB mit Blick auf Art. 170 Abs. 1 OR gewürdigt. Nach dieser
Bestimmung ist der Übergang der Vorzugs- und Nebenrechte eingeschränkt: Diese
Rechte gehen nicht über, wenn sie "untrennbar mit der Person des Abtretenden
verknüpft sind". Die Verknüpfung kann sich aus dem Willen der Parteien oder der
Natur der Rechte ergeben (BGE 103 II 75 E. 4 S. 79; GIRSBERGER, a.a.O.; PROBST,
a.a.O., mit weiteren Hinweisen). Für die Frage, ob das Anschlussrecht nach Art.
111 SchKG als "untrennbar mit der Person" betrachtet werden muss, ist auf die
"Natur" bzw. den Sinn und Zweck der Legalzession von Art. 289 Abs. 2 ZGB
abzustellen (vgl. BGE 137 III 193 E. 3.4 S. 201, betreffend
Schuldneranweisung). Wie dargelegt soll der Unterhaltsschuldner nicht von
seiner Nachlässigkeit profitieren (E. 3.3.2). Da mit der Bevorschussung der
Unterhaltsleistung durch das Gemeinwesen nicht eine Entlastung des Schuldners
eintreten soll, ist das Anschlussprivileg als privilegium causae aufzufassen
bzw. kann es nicht an der Person des Gläubigers haften. Es überzeugt daher
nicht, wenn die Aufsichtsbehörde der Beschwerdeführerin den Anschluss nach Art.
111 SchKG unter Hinweis auf Art. 170 OR verweigert hat.

3.4.3 Schliesslich kann entgegen der Auffassung der Vorinstanz (sowie offenbar
MEIER/STETTLER, Droit de filiation, 4. Aufl. 2009, S. 556 Fn. 2058) aus BGE 116
III 10 keine Verweigerung des Anschlussprivilegs abgeleitet werden. Nach der
zitierten Rechtsprechung kann bei der Einkommenspfändung (Art. 93 SchKG) nur
dann in das Existenzminimum des Schuldners eingegriffen werden, wenn die
Pfändung (oder der Arrest) von unterhaltsberechtigten Familienmitgliedern
verlangt wird, nicht aber, wenn das Gemeinwesen im Rahmen von Art. 289 Abs. 2
ZGB als Gläubiger auftritt (BGE 106 III 18 E. 2 S. 20; zuletzt BGE 137 III 193
E. 3.9 S. 204). Dieser Rechtsprechung liegt die sozialpolitische Überlegung
zugrunde, dass Schuldner und
BGE 138 III 145 S. 150
Gläubiger den gleich schweren wirtschaftlichen Einschränkungen unterliegen
sollen, wenn beide Einkommen den Notbedarf nicht zu decken vermögen (BGE 116
III 10 E. 4 S. 15); es überwiegt die Verknüpfung mit der Person. Der Eingriff
in den Notbedarf, der als Ausnahme zugelassen wird, haftet daher als
privilegium personae am Unterhaltsberechtigten (BGE 106 III 18 E. 2 S. 21). Dem
steht jedoch nicht entgegen, dass andere betreibungsrechtliche Privilegien von
der Subrogation nach Art. 289 Abs. 2 ZGB erfasst sind. Das Anschlussprivileg
erleichtert zwar die betreibungsrechtliche Geltendmachung der Forderung (keine
vorgängige Betreibung notwendig), ist jedoch mit dem Eingriff in das
Existenzminimum des Schuldners nicht vergleichbar. Die privilegierte
Anschlusspfändung gemäss Art. 111 SchKG wird daher von der Subrogation nach
Art. 289 Abs. 2 ZGB erfasst, ebenso wie das Privileg im Kollokationsplan (Art.
219 Abs. 4 Erste Klasse lit. c SchKG), was allgemein anerkannt ist (vgl. BGE 57
II 10 E. 3 S. 13 sowie u.a. GILLIÉRON, a.a.O., Bd. III, 2001, N. 84 zu Art. 219
SchKG; LORANDI, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und
Konkurs, a.a.O., N. 247 zu Art. 219 SchKG).

3.5 Nach dem Dargelegten ist mit Bundesrecht nicht vereinbar, wenn die
Aufsichtsbehörde die Legitimation der Beschwerdeführerin zum Anschlussbegehren
nach Art. 111 SchKG verweigert hat, weil sie eine Unterhaltsforderung gestützt
auf Art. 289 Abs. 2 ZGB geltend macht. Die Rüge einer Rechtsverletzung ist
begründet.