Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 V 410



Urteilskopf

137 V 410

42. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. K. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_111/2011 vom 12. Oktober 2011

Regeste

Art. 10 EOG; Art. 1 Abs. 2 lit. c EOV; Qualifikation von Personen, die
unmittelbar vor dem Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen haben oder diese
während des Dienstes beendet hätten.
Art. 1 Abs. 2 lit. c EOV statuiert lediglich die widerlegbare gesetzliche
Vermutung, dass solche Personen eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätten.
Trifft dies nicht zu, besteht nur Anspruch auf die Grundentschädigung für
erwerbslose Personen (E. 4.2).

Sachverhalt ab Seite 411

BGE 137 V 410 S. 411

A. Der 1982 geborene K. beendete am 30. November 2008 sein Studium und erlangte
am 22. Januar 2009 das Diplom als Master of Science ETH. Vom 8. Dezember 2008
bis 15. März 2009 leistete er Zivildienst und wurde dafür mit dem Minimalansatz
von Fr. 54.- resp. ab Januar 2009 Fr. 62.- pro Tag entschädigt. Die
Ausgleichskasse des Kantons Zürich bestätigte diese Ansätze mit Verfügung vom
6. April 2010, woran sie mit Einspracheentscheid vom 17. Mai 2010 festhielt.

B. Die Beschwerde des K. wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
mit Entscheid vom 16. Dezember 2010 ab.

C. K. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem
Antrag, unter Aufhebung des Entscheids vom 16. Dezember 2010 seien die
Tagesansätze der EO-Entschädigung auf Basis des branchenüblichen Anfangslohnes
festzusetzen.
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragen
die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

D. In einem vom Bundesgericht angeordneten zweiten Schriftenwechsel äusserten
sich die Parteien zur Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 9 Abs. 3 EOG (SR
834.1) resp. der Absolvierung einer Rekrutenschule.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Der zivildienstleistenden Person (vgl. Art. 1a Abs. 2 EOG), die keine
Rekrutenschule absolviert hat, stehen für die Anzahl Tage des Zivildienstes,
die der Dauer einer Rekrutenschule entsprechen, in der Regel 25 Prozent des
Höchstbetrages der Gesamtentschädigung zu. Eine teilweise absolvierte
Rekrutenschule wird angerechnet (Art. 9 Abs. 3 EOG).
BGE 137 V 410 S. 412

2.2 Während anderer Dienste beträgt die tägliche Grundentschädigung in der
Regel 80 Prozent des durchschnittlichen vordienstlichen Erwerbseinkommens (Art.
10 Abs. 1 EOG). War die dienstleistende Person vor Beginn des Dienstes nicht
erwerbstätig, so entspricht die tägliche Grundentschädigung den Mindestbeträgen
gemäss Artikel 16 Absätze 1-3 (Art. 10 Abs. 2 EOG). Der Bundesrat kann für
Dienstleistende, die nur vorübergehend nicht erwerbstätig waren oder die wegen
des Dienstes keine Erwerbstätigkeit aufnehmen konnten, besondere Vorschriften
über die Bemessung ihrer Entschädigung erlassen (Art. 11 Abs. 2 EOG).
Den Erwerbstätigen gleichgestellt sind: a. Arbeitslose; b. Personen, die
glaubhaft machen, dass sie eine Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen
hätten, wenn sie nicht eingerückt wären (dazu BGE 136 V 231); sowie c.
Personen, die unmittelbar vor dem Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen haben
oder diese während des Dienstes beendet hätten (Art. 1 Abs. 2 EOV [SR 834.11]).
Für Personen, die glaubhaft machen, dass sie während des Dienstes eine
unselbstständige Erwerbstätigkeit von längerer Dauer aufgenommen hätten oder
einen wesentlich höheren Lohn als vor dem Einrücken erzielt hätten, wird die
Entschädigung auf Grund des Lohns berechnet, der ihnen entgangen ist. Haben sie
unmittelbar vor dem Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen oder hätten sie
diese während des Dienstes beendet, so wird die Entschädigung auf Grund des
ortsüblichen Anfangslohns im betreffenden Beruf berechnet (Art. 4 Abs. 2 EOV).

3. Der Beschwerdeführer absolvierte die Rekrutenschule, weshalb Art. 9 Abs. 3
EOG für die Bemessung der Entschädigung nicht anwendbar ist. Streitig und zu
prüfen ist, ob er für die Dienstzeit als Nichterwerbstätiger oder
Erwerbstätiger zu qualifizieren ist und ihm demnach eine Entschädigung gemäss
Art. 10 Abs. 2 EOG oder gemäss Art. 4 Abs. 2 Satz 2 EOV zusteht. Die Vorinstanz
ist der Auffassung, Art. 1 Abs. 2 lit. c EOV enthalte eine mit einer Umkehr der
Beweislast verbundene gesetzliche Vermutung für eine (hypothetische)
Erwerbstätigkeit, welche sie im konkreten Fall für widerlegt gehalten hat.
Folglich hat sie für die Entschädigungsbemessung Art. 4 Abs. 2 EOV die
Anwendung versagt und lediglich den Anspruch auf eine Minimalentschädigung
bejaht. Demgegenüber beruft sich der Beschwerdeführer auf den Wortlaut von Art.
1 Abs. 2 lit. c und Art. 4 Abs. 2 EOV; überdies macht er geltend, sich bereits
während des Dienstes um eine Arbeitsstelle bemüht zu haben.
BGE 137 V 410 S. 413

4.

4.1 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis
einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung
hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm
darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte
Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge,
ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das
Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich
ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Ordnung zu
unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf
die streitige Frage eine klare Antwort geben (BGE 136 III 23 E. 6.6.2.1 S. 37;
BGE 136 V 195 E. 7.1 S. 203; BGE 135 V 50 E. 5.1 S. 53; BGE 134 II 308 E. 5.2
S. 311). Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die
gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm
eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen (BGE 137 V
167 E. 3.3 S. 170 f. mit Hinweisen).

4.2

4.2.1 Dem Beschwerdeführer ist beizupflichten, dass ihm, im Gegensatz zu
Personen, die von Art. 1 Abs. 2 lit. b EOV erfasst werden, grundsätzlich nicht
obliegt, eine hypothetische Erwerbstätigkeit glaubhaft zu machen. Das ändert
indessen nichts daran, dass die Vorinstanz - in Übereinstimmung mit der
Auffassung des BSV (vgl. Rz. 5006 der Wegleitung zur Erwerbsersatzordnung für
Dienstleistende und Mutterschaft [WEO]) - die Vorschrift von Art. 1 Abs. 2 lit.
c EOV zu Recht als widerlegbare gesetzliche Vermutung aufgefasst hat. Die
formell-gesetzliche Bestimmung von Art. 10 Abs. 2 EOG trifft für die
Entschädigungsbemessung eine sachlich begründete Unterscheidung zwischen
(hypothetisch) Erwerbstätigen und Erwerbslosen. Diese Vorgabe kann nicht
mittels Regelung in der entsprechenden Verordnung geändert werden ("lex
superior derogat legi inferiori"). Art. 1 Abs. 2 lit. c EOV erlaubt demnach
nicht die Umqualifikation einer grundsätzlich nicht erwerbstätigen Person zu
einer erwerbstätigen. Er kann daher nur so verstanden werden, dass er lediglich
die Beweisanforderungen für die Qualifikation modifiziert: Während sich für
Arbeitslose im Sinn von Art. 10 AVIG (SR 837.0) die grundsätzliche
Erwerbstätigkeit schon aus diesem Gesetz ergibt, müssen von lit. b erfasste
Personen die hypothetische Aufnahme
BGE 137 V 410 S. 414
einer Erwerbstätigkeit zwar nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
nachweisen (vgl. zum Regelbeweismass BGE 126 V 353 E. 5b S. 360 mit Hinweisen),
aber immerhin glaubhaft machen. Unter lit. c fallende Personen profitieren von
einer noch weiter gehenden Beweiserleichterung, indem - im Sinne einer
gesetzlichen Vermutung - die Beweislast zu Gunsten des Leistungsansprechers
umgekehrt und dessen Erwerbstätigkeit unterstellt wird. Diese Vermutung kann
indessen durch den Beweis des Gegenteils umgestossen werden (BGE 120 II 393 E.
4b S. 397; BGE 117 V 153 E. 2c S. 156; Urteil 9C_749/2009 vom 12. November 2009
E. 2.2), indem die Verwaltung Umstände geltend macht, welche darauf schliessen
lassen, dass der Leistungsansprecher auch ohne Dienstabsolvierung keine
Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der
Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 2 EOV: Die massgebliche Bestimmung von
Art. 1 Abs. 2 der auf den 31. Juni 2005 aufgehobenen EOV vom 24. Dezember 1959
(AS 1959 2143) lautete wie folgt: "Haben [Personen] unmittelbar vor dem
Einrücken ihre Ausbildung abgeschlossen oder hätten sie diese während des
Dienstes beendet, so wird vermutet, dass sie eine Erwerbstätigkeit aufgenommen
hätten." Den Erläuterungen des BSV zur revidierten EOV http://www.bsv.admin.ch/
themen/eo/00054/index.html-lang=de (besucht am 23. September 2011) lässt sich
entnehmen, dass die neue Fassung des Artikels "im Grossen und Ganzen die
Grundzüge" der aufgehobenen Bestimmung wiedergibt.

4.2.2 Was der Beschwerdeführer gegen diese Auslegung von Art. 1 Abs. 2 lit. c
EOV vorbringt, hält nicht stand: Zwar trifft zu, dass die Verwaltung bei
entsprechenden Anhaltspunkten prüfen muss, auf welcher Grundlage die
Entschädigung zu bemessen ist. Dass dies aber einen unverhältnismässig hohen
Verwaltungsaufwand zur Folge haben oder nur schwer praktikabel sein soll, ist
nicht ersichtlich. Auch eine Rechtsunsicherheit entsteht daraus nicht, obliegt
es doch der Verwaltung, anhand besonderer Umstände mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass der Dienstleistende ohnehin keine
Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Dass die Bemessung des Erwerbsersatzes an
den Status als erwerbstätige oder erwerbslose Person resp. an den durch den
Dienst verursachten Erwerbsausfall anknüpft (vgl. Art. 10 EOG; PASCAL MAHON, Le
régime des allocations pour perte de gain, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd.
XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1925 Rz. 17), erscheint sachgerecht und wird auch vom
Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt. Schliesslich ist eine
BGE 137 V 410 S. 415
Verletzung des Rechtsgleichheitsgebotes (Art. 8 Abs. 1 BV) nicht ersichtlich,
gilt doch die in Art. 1 Abs. 2 lit. c EOV statuierte Vermutung, auch ohne dass
davon erfasste Personen die (hypothetische) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit
glaubhaft machen müssen. Die vorinstanzliche Auslegung von Art. 1 Abs. 2 lit. c
EOV stellt daher keine Rechtsverletzung dar.

4.3

4.3.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, der Beschwerdeführer habe sich nach
Dienstende am 15. März 2009 bis zum 29. Juni 2009 im Ausland aufgehalten. Unter
diesen Umständen sei nicht davon auszugehen, dass er unmittelbar nach
Studienabschluss eine Erwerbstätigkeit hätte aufnehmen wollen. Daran ändere
nichts, dass sich der Beschwerdeführer mit E-Mail vom 18. Februar 2009 um eine
(nicht ausgeschriebene) Stelle beworben habe.

4.3.2 Es ist nicht ersichtlich und wird auch nicht vorgebracht, dass diese
Feststellungen (zur Qualifikation als Tatfrage vgl. Urteile 9C_447/2011 vom 21.
Juli 2011 E. 4.1.2; 9C_152/2010 vom 24. August 2011 E. 4.3) offensichtlich
unrichtig sein sollen. Weitere Stellenbewerbungen als die erwähnte sind nicht
aktenkundig und wurden nicht geltend gemacht. Dem unmittelbar an den Dienst
anschliessenden und über drei Monate dauernden Auslandaufenthalt steht
lediglich eine einzige Arbeitsbemühung gegenüber, weshalb namentlich die
vorinstanzliche Schlussfolgerung betreffend die Erwerbstätigkeit
nachvollziehbar ist. Schliesslich beruhen die Feststellungen nicht auf einer
Rechtsverletzung, so dass sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben (Art.
105 Abs. 1 und 2 BGG).

4.4 Nach dem Gesagten hat das kantonale Gericht zu Recht einen höheren Anspruch
als jenen auf die Grundentschädigung für erwerbslose Personen gemäss Art. 10
Abs. 2 EOG verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.