Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 V 362



Urteilskopf

137 V 362

36. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_55/2011 vom 20. Juni 2011

Regeste

Art. 29 Abs. 1 und 2, Art. 95 Abs. 1 und Art. 55 Abs. 2 AVIG; Art. 25 Abs. 1
ATSG; Rückforderung von gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG ausgerichteter
Arbeitslosenentschädigung.
Die Subrogation gemäss Art. 29 Abs. 2 AVIG verschafft der Arbeitslosenkasse
keinen Rückforderungsanspruch gegenüber dem Versicherten, sondern gegenüber dem
ehemaligen Arbeitgeber. Gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG ausgerichtete
Leistungen der Arbeitslosenkasse sind nicht unrechtmässig bezogen worden und
können daher nicht nach Art. 95 Abs. 1 AVIG und Art. 25 Abs. 1 ATSG
zurückgefordert werden. Die Sonderregelung für die Rückerstattung von
Insolvenzentschädigung von Art. 55 Abs. 2 AVIG kann nicht analog auf die
Rückforderung von gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG ausgerichteter
Arbeitslosenentschädigung angewendet werden (E. 4.1-4.3).

Sachverhalt ab Seite 363

BGE 137 V 362 S. 363

A.

A.a Der 1955 geborene H. war ab 15. März 2007 als Direktor Marketing und
Verkauf für die Firma X. AG tätig. Am 22. Juli 2008 kündigte diese das
Arbeitsverhältnis fristlos. H. stellte am 14. August 2008 Antrag auf
Arbeitslosenentschädigung ab 4. August 2008. Am 10. Oktober 2008 liess er Klage
gegen die Firma X. AG erheben und die Bezahlung von Fr. 69'000.- (Lohn während
vertraglich vereinbarter sechsmonatiger Kündigungsfrist) sowie eine
Entschädigung beantragen. Mit Subrogationsanzeigen vom 22. Oktober 2008 teilte
die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen dem Versicherten sowie der
ehemaligen Arbeitgeberin mit, in Anbetracht der ungeklärten Sachlage bezüglich
Lohnzahlungen während der vertraglichen Kündigungsfrist werde sie für den
Zeitraum ab 4. August 2008 bis 31. Januar 2009 Arbeitslosenentschädigung an den
Versicherten ausrichten, womit alle arbeitsvertraglichen Ansprüche im Umfang
ihrer Leistungen auf sie übergingen. Am 22. Oktober 2008 zeigte sie dem
zuständigen Kreisgericht an, dass sie sich als Hauptpartei an der
arbeitsrechtlichen Streitsache zwischen dem Versicherten und der Firma X. AG
beteilige. Mit Verfügung vom
BGE 137 V 362 S. 364
7. November 2008 stellte die Arbeitslosenkasse H. per 23. Juli 2008 für 50 Tage
in der Anspruchsberechtigung ein, da sie ihm vorsorglich ein Verschulden an der
Arbeitslosigkeit anlasten müsse. Nachdem der Versicherte hiegegen Einsprache
erhoben hatte, sistierte die Arbeitslosenkasse das Verfahren bis zum
rechtskräftigen Entscheid im arbeitsrechtlichen Verfahren. Am 19./20. Mai 2009
schloss H. mit seiner ehemaligen Arbeitgeberin einen Vergleich ab, wonach sich
Letztere verpflichtete, dem Versicherten Fr. 15'000.- und für den Fall, dass
die Arbeitslosenkasse den Prozess nach Rückzug der Klage durch den Versicherten
nicht fortführe, weitere Fr. 25'000.- zu bezahlen. H. liess dem Kreisgericht am
28. Mai 2009 mitteilen, er ziehe die Klage zurück, soweit er darüber infolge
Eintritts der Arbeitslosenkasse noch verfügen könne. Die Arbeitslosenkasse
stimmte dem Vergleich nicht zu, zog die Klage jedoch am 19. August 2009
ebenfalls zurück. Das arbeitsrechtliche Verfahren wurde daher am 1. September
2009 abgeschrieben.

A.b Mit Verfügung vom 19. August 2009 forderte die Arbeitslosenkasse von H.
zuviel bezogene Taggeldleistungen im Betrag von Fr. 38'002.55 (netto) zurück,
da er zufolge des Klagerückzuges keinen Anspruch mehr auf die ihm durch die
Arbeitslosenkasse vorausbezahlten Leistungen vom 4. August 2008 bis 31. Januar
2009 im Betrag von Fr. 36'997.25 habe. Mit Entscheid vom 11. November 2009
hiess die Arbeitslosenkasse die hiegegen erhobene Einsprache teilweise gut und
reduzierte die Rückforderung auf Fr. 25'000.-. Zur Begründung führte sie aus,
gestützt auf den Vergleich gemachte Zahlungen seien subrogationsweise auf die
Arbeitslosenkasse übergegangen und diese zwingende Subrogationsvorschrift könne
durch prozessuale Abmachungen der Parteien im Rahmen eines Vergleichs nicht
eingeschränkt werden.

B. Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher H. die Aufhebung des
Einspracheentscheids vom 11. November 2009, eventualiter dessen Abänderung
dahingehend, dass eine Rückforderung von Fr. 3'483.90 (brutto) erlassen werde,
beantragen liess, wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit
Entscheid vom 18. November 2010 ab.

C. H. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sowie
subsidiäre Verfassungsbeschwerde führen und die Aufhebung des angefochtenen
Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. November
2010 sowie von Ziffer 3 des
BGE 137 V 362 S. 365
Dispositivs des Einspracheentscheids der Arbeitslosenkasse vom 11. November
2009 beantragen. Zudem lässt er um Erteilung der aufschiebenden Wirkung
ersuchen.
Die Arbeitslosenkasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das
Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. Mit Verfügung vom 1. April 2011 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde
die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht tritt auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht ein,
heisst aber die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zu den
Voraussetzungen des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung im Allgemeinen
(Art. 8 Abs. 1 AVIG [SR 837.0]) sowie zur Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalls
im Besonderen (Art. 11 AVIG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Richtig wiedergegeben ist insbesondere, dass die Kasse gemäss Art. 29 Abs. 1
AVIG Arbeitslosenentschädigung auszahlt, wenn sie begründete Zweifel darüber
hat, ob der Versicherte für die Zeit des Arbeitsausfalls gegenüber seinem
bisherigen Arbeitgeber Lohn- oder Entschädigungsansprüche im Sinne von Art. 11
Abs. 3 AVIG hat oder ob sie erfüllt werden. Mit der Zahlung gehen alle
Ansprüche des Versicherten samt dem gesetzlichen Konkursprivileg im Umfang der
ausgerichteten Taggeldentschädigung auf die Kasse über. Diese darf auf die
Geltendmachung nicht verzichten, es sei denn, das Konkursverfahren werde durch
das Konkursgericht eingestellt. Die Ausgleichsstelle kann die Kasse überdies
ermächtigen, auf die Geltendmachung zu verzichten, wenn sich nachträglich
zeigt, dass der Anspruch offensichtlich unberechtigt ist oder sich nur mit
übermässigen Kosten durchsetzen lässt (Art. 29 Abs. 2 AVIG).

4. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat,
indem sie die Rückforderung der Arbeitslosenkasse gegenüber dem Versicherten
von zu viel bezogenen Taggeldleistungen in der Höhe von Fr. 25'000.- bestätigt
hat.
Die Bejahung eines Rückerstattungsanspruchs setzt einen Rückforderungstitel
voraus.
BGE 137 V 362 S. 366

4.1 Nach unbestrittener Feststellung der Vorinstanz hat die Arbeitslosenkasse
dem Versicherten nach der fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch
die Arbeitgeberin gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG Arbeitslosenentschädigung
ausgerichtet. Damit sind gemäss Art. 29 Abs. 2 AVIG die Ansprüche des
Versicherten im Umfang der ausgerichteten Taggeldentschädigung auf die Kasse
übergegangen. Diese gesetzliche Subrogation verschafft jedoch der
Arbeitslosenkasse - wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat - keinen
Rückforderungsanspruch gegenüber dem Versicherten, sondern einen Anspruch
gegenüber der ehemaligen Arbeitgeberin (vgl. ARV 2010 S. 293, 8C_787/2009 E.
3.1). Ob ein solcher nach dem Rückzug der Klage der Arbeitslosenkasse gegen die
Firma X. AG noch besteht oder ob die Arbeitslosenkasse durch ihr Verhalten auf
einen allfälligen Anspruch verzichtet hat, ist nicht Gegenstand des
vorliegenden Verfahrens.

4.2 Die Arbeitslosenkasse stützte ihre Rückforderung auf Art. 95 Abs. 1 AVIG
und Art. 25 ATSG (SR 830.1).

4.2.1 Gemäss Art. 95 Abs. 1 AVIG richtet sich die Rückforderung von Leistungen
mit Ausnahme der Fälle von Art. 55 AVIG nach Art. 25 ATSG. Gemäss Art. 25 Abs.
1 erster Satz ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten.

4.2.2 Bei der Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung gestützt auf den
Sonderfall von Art. 29 Abs. 1 AVIG wird - wie die Vorinstanz zutreffend
ausgeführt hat - unter der Voraussetzung, dass begründete Zweifel über
Ansprüche aus Arbeitsvertrag bestehen, zugunsten des Leistungsbezügers das
Anspruchsmerkmal des anrechenbaren Arbeitsausfalls im Sinne einer
unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung als gegeben angenommen. Folgerichtig
stellt die spätere vollständige oder teilweise Erfüllung der im Bestand oder im
Hinblick auf die Realisierbarkeit mit Zweifeln behafteten Lohn- und
Entschädigungsansprüche im Sinne von Art. 11 Abs. 3 AVIG keinen prozessualen
Revisionsgrund dar und entfällt ebenfalls - systemkonform - eine
Rückerstattungspflicht im Sinne von Art. 25 Abs. 1 ATSG (BGE 127 V 475 E. 2 b/
bb S. 477; SVR 2006 ALV Nr. 28 S. 95, C 118/04 E. 1.4.2). Die gestützt auf Art.
29 Abs. 1 AVIG ausgerichteten Leistungen der Arbeitslosenkasse sind
zusammenfassend nicht unrechtmässig bezogen worden und können - wie das
kantonale Gericht korrekt festgehalten hat - nicht gestützt auf Art. 25 Abs. 1
ATSG zurückgefordert werden.
BGE 137 V 362 S. 367

4.3 Nachdem die Vorinstanz zutreffend erwogen hatte, dass das AVIG keinen
Rückforderungstitel für aufgrund von Art. 29 Abs. 1 AVIG erbrachte Leistungen
enthält, bestätigte sie den Rückforderungsanspruch gestützt auf eine analoge
Anwendung von Art. 55 Abs. 2 AVIG.

4.3.1 Gemäss Art. 55 Abs. 2 AVIG muss der Arbeitnehmer die
Insolvenzentschädigung in Abweichung von Art. 25 Abs. 1 ATSG zurückerstatten,
soweit die Lohnforderung u.a. vom Arbeitgeber nachträglich erfüllt wird.

4.3.2 Die Rückforderung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung ist in Art.
95 Abs. 1 AVIG verankert und richtet sich mit Ausnahme der Fälle von Art. 55
AVIG nach Art. 25 ATSG. Art. 55 Abs. 2 AVIG regelt die Rückerstattung von
Insolvenzentschädigung in bewusster Abweichung vom üblichen
Rückforderungssystem. Diese Sonderregelung kann nicht analog auf die
Rückforderung von gestützt auf Art. 29 AVIG ausgerichteter
Arbeitslosenentschädigung angewendet werden. Die in Art. 29 AVIG statuierte
Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung bei Zweifeln über Ansprüche aus
Arbeitsvertrag geht ausdrücklich von der Nichtrückerstattung aus, dies im
Gegensatz zur Normierung der Insolvenzentschädigung, welche eine entsprechende
Sonderregelung enthält. Die Insolvenzentschädigung deckt Lohnforderungen aus
einem Arbeitsverhältnis und die damit abgegoltene Lohnforderung hängt vom
weiteren Schicksal der arbeitsrechtlichen oder vollstreckungsrechtlichen
Durchsetzbarkeit ab (vgl. THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in:
Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 2364 Rz. 616 und S. 2373
Rz. 636). Dies ist bei der Ausrichtung von Taggeld bei Zweifeln über Ansprüche
aus Arbeitsvertrag nach Art. 29 AVIG nicht der Fall; Letztere bleibt
rechtmässig, auch wenn sich die Lohnforderung im Nachhinein als nicht
einbringlich erweist.

4.4 Einen Rückforderungstitel "Bereicherung" schliesslich kennt das AVIG nicht;
vielmehr wird generell die Unrechtmässigkeit des Bezugs vorausgesetzt. Diese
ist, wie oben dargelegt, vorliegend nicht gegeben. Ob der Beschwerdeführer
durch die gestützt auf die Vereinbarung vom 19./20. Mai 2009 erbrachten
Leistungen der ehemaligen Arbeitgeberin bereichert ist, worüber unter den
Parteien Uneinigkeit herrscht, braucht daher nicht näher geprüft zu werden.

4.5 Zusammenfassend gibt es für gestützt auf Art. 29 AVIG ausgerichtete
Arbeitslosenentschädigung keinen Rückforderungstitel
BGE 137 V 362 S. 368
gegenüber dem Versicherten. Indem das kantonale Gericht einen solchen in
analoger Anwendung der Sondernorm für Insolvenzentschädigung (Art. 55 Abs. 2
AVIG) bejaht und einen Rückerstattungsanspruch der Arbeitslosenkasse gegenüber
dem Beschwerdeführer in der Höhe von Fr. 25'000.- bestätigt hat, hat es
Bundesrecht verletzt. Der vorinstanzliche Entscheid und der Einspracheentscheid
der Arbeitslosenkasse vom 11. November 2009 sind daher aufzuheben.