Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 V 351



Urteilskopf

137 V 351

35. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt
für Sozialversicherungen gegen L. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_286/2011 vom 11. August 2011

Regeste

Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung nach Inkrafttreten der 5.
IV-Revision.
Entgegen dem Verweis in Art. 42 Abs. 4 in fine IVG richtet sich der zeitliche
Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung nicht nach Art. 29 Abs. 1 IVG.
Vielmehr gelangt weiterhin sinngemäss Art. 28 Abs. 1 IVG zu den
Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente zur Anwendung (E. 4 und 5).

Sachverhalt ab Seite 352

BGE 137 V 351 S. 352

A.a Der am 29. Dezember 1944 geborene L. meldete sich, vertreten durch seinen
Vormund, am 22. Mai 2007 erstmals für eine Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung an. Der behandelnde Arzt, Dr. med. F., Arzt für
Allgemeine Medizin, diagnostizierte eine ankylosierende Coxarthrose rechts, ein
ausgeprägtes Ulcus cruris links, rheumatoide Arthritis und einen Verdacht auf
Borderline-Persönlichkeit. Mit Verfügung vom 18. Februar 2008 verneinte die IV-
Stelle des Kantons Thurgau (nachfolgend: IV-Stelle) einen Anspruch des L. auf
Hilflosenentschädigung. Die Abklärungen hätten ergeben, dass er lediglich in
einer Lebensverrichtung (Fortbewegung) hilflos sei. Ausserdem seien die
Voraussetzungen der Regelmässigkeit, Dauer und Intensität lebenspraktischer
Begleitung nicht erfüllt.

A.b Am 14. Dezember 2009 meldete sich L. erneut zum Bezug von
Hilflosenentschädigung an. Dabei machte er eine besonders aufwendige Pflege und
daraus resultierende ungedeckte Kosten geltend. Die IV-Stelle wies dieses
zweite Begehren mit Verfügung vom 18. Oktober 2010 ab. Es liege keine
aufwendige Pflege vor und es sei nicht Aufgabe der Hilflosenentschädigung, für
Kosten aufzukommen, die von der Krankenkasse nicht gedeckt würden.

B. Auf Beschwerde des L. hob das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die
Verfügung der IV-Stelle vom 18. Oktober 2010 auf und leitete die Sache zur
weiteren Behandlung an die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau weiter. Zur
Begründung führte es aus, Grundlage eines allfälligen Anspruchs auf
Hilflosenentschädigung bilde in materieller Hinsicht nicht das Bundesgesetz
über die Invalidenversicherung (IVG), sondern dasjenige über die Alters- und
Hinterlassenenversicherung (AHVG), da der fragliche Anspruch frühestens sechs
Monate nach der (Neu-)Anmeldung, d.h. am 14. Juni 2010 und somit nach Erreichen
des AHV-Alters am 29. Dezember 2009, habe entstehen können. Die diesbezügliche
Beurteilung falle daher in die Zuständigkeit der Ausgleichskasse (Entscheid vom
2. März 2011).

C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) reicht dagegen Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein und
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beantragt, der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 2. März 2011 sei
aufzuheben und es sei die Sache an dieses zur materiellen Prüfung der Verfügung
der IV-Stelle vom 18. Oktober 2010 zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde, die
IV-Stelle schliesst auf Gutheissung und L. verzichtet auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Streitig ist die frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 106 Abs. 1 BGG), wann
der allfällige Anspruch des Beschwerdegegners auf Hilflosenentschädigung
frühestens entstehen konnte und welche Stelle in der Folge zuständig ist,
darüber zu befinden.

2. Nach Art. 42 Abs. 4 IVG, in Kraft seit 1. Januar 2004, wird die
Hilflosenentschädigung frühestens ab der Geburt und spätestens bis Ende des
Monats gewährt, in welchem vom Rentenvorbezug gemäss Artikel 40 Absatz 1 AHVG
Gebrauch gemacht oder in welchem das Rentenalter erreicht wird. Der
Anspruchsbeginn richtet sich nach Vollendung des ersten Lebensjahres nach
Artikel 29 Absatz 1. In einer Fussnote (188), die unmittelbar nach dem Verweis
auf Art. 29 Abs. 1 IVG platziert ist, findet sich der Zusatz "Heute gemäss Art.
28 Abs. 1 Bst. b" ("Actuellement par l'art. 28 al. 1 let. b"; "Ora: dall'art.
28 cpv. 1 lett. b").
Wie das BSV in seiner Beschwerde ausführt, wurde die Fussnote 188 nach der
parlamentarischen Schlussabstimmung über die 5. IV-Revision, in Kraft seit 1.
Januar 2008, auf seine Intervention hin von der Redaktionskommission der
Bundesversammlung angebracht. Sie ist somit nicht unmittelbarer Ausdruck des
Gesetzgebers.

2.1 Sowohl Art. 28 IVG als auch Art. 29 IVG haben im Rahmen der 5. IV-Revision
eine Änderung erfahren. Bis Ende Dezember 2007 lauteten die beiden Bestimmungen
im Wesentlichen wie folgt (nachstehend zitiert als aArt. 28 und 29 IVG):
Art. 28 Massgebende Invalidität
^1 Ist ein Versicherter zu mindestens 40 Prozent invalid, so hat er Anspruch
auf eine Rente. Diese wird wie folgt nach dem Grad der Invalidität abgestuft:
(...)
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Art. 29 Beginn des Anspruchs
^1 Der Rentenanspruch nach Artikel 28 entsteht frühestens in dem Zeitpunkt, in
dem der Versicherte:
a. mindestens zu 40 Prozent bleibend erwerbsunfähig (Art. 7 ATSG) geworden ist
oder
b. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich
mindestens zu 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen war.
^2 Die Rente wird vom Beginn des Monats an ausgerichtet, in dem der Anspruch
entsteht, jedoch frühestens von jenem Monat an, der auf die Vollendung des 18.
Altersjahres folgt. Der Anspruch entsteht nicht, solange der Versicherte ein
Taggeld nach Artikel 22 beanspruchen kann.

2.2 Seit 1. Januar 2008 lauten Art. 28 und 29 IVG in den hier interessierenden
Punkten wie folgt:
Art. 28 Grundsatz
^1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a. ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit sich im Aufgabenbereich zu
betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen,
erhalten oder verbessern können;
b. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich
mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen sind; und
c. nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG)
sind.
(...)
Art. 29 Beginn des Anspruchs und Auszahlung der Rente
^1 Der Rentenanspruch entsteht frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach
Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Artikel 29 Absatz 1 ATSG, jedoch
frühestens im Monat, der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt.
^2 Der Anspruch entsteht nicht, solange die versicherte Person ein Taggeld nach
Artikel 22 beanspruchen kann.
(...)

3. Die Vorinstanz vertritt in ihrem Entscheid vom 2. März 2011 die Auffassung,
es sei nach wie vor von der Parallelität der Voraussetzungen für den
Anspruchsbeginn bei der Rente einerseits und bei der Hilflosenentschädigung
anderseits auszugehen. Auf Grund deren Art und Charakter als finanzielle
Leistung der Invalidenversicherung bestehe kein Anlass, davon abzuweichen. Die
Fussnote 188
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betreffe die allgemeine Umschreibung der Voraussetzungen für den
Anspruchsbeginn, der bis 31. Dezember 2007 im vormaligen Art. 29 Abs. 1 IVG
umschrieben gewesen sei. Dem stehe Art. 35 IVV (SR 831.201) nicht entgegen, da
die Anspruchsvoraussetzungen im übergeordneten Gesetz geregelt seien. Die
Regelung von Art. 35 IVV besage lediglich, dass die Hilfsbedürftigkeit
sachverhaltlich eingetreten sein müsse. Damit sei vom Grundsatz auszugehen,
dass Art. 29 Abs. 1 IVG, wonach der Leistungsanspruch frühestens nach Ablauf
von sechs Monaten nach Geltendmachung des Anspruchs im Sinne von Art. 29 Abs. 1
ATSG (SR 830.1) entstehe, auch für die Hilflosenentschädigung gelte.

3.1 In der Vernehmlassung beruft sich die Vorinstanz auf den klaren Wortlaut
von Art. 42 Abs. 4 IVG. Eine Auslegung praeter legem auf Grund einer Fussnote
in der Amtlichen Sammlung, die vom Parlament nicht verabschiedet worden sei,
sei nicht statthaft. Auch sei nicht ersichtlich, weshalb die Regelung des
Anspruchsbeginns bei der Hilflosenentschädigung eher derjenigen für die
Eingliederungsmassnahmen als derjenigen für die Renten entsprechen solle.

3.2 Das Beschwerde führende BSV ist der Ansicht, dass sich der Anspruchsbeginn
der Hilflosenentschädigung im Rahmen der 5. IV- Revision nicht geändert habe.
Die Hilflosenentschädigung sei damals - mit Ausnahme kleiner Anpassungen - kein
Thema gewesen. Geändert hätten jedoch diverse Bestimmungen im Zusammenhang mit
dem Rentenanspruch und mit dem Beginn des Anspruchs auf
Eingliederungsmassnahmen. Bei den Renten sei neben der Neufassung der
Anspruchsvoraussetzungen in Art. 28 Abs. 1 IVG vor allem auch eine Neuordnung
des Rentenbeginns in Art. 29 Abs. 1 IVG geschaffen worden. Ziel dieser
Neuordnung sei eine möglichst frühzeitige Erfassung der beeinträchtigten
Personen, um die Chancen auf eine noch erfolgreiche Eingliederung oder eine
Sicherung des noch bestehenden Arbeitsplatzes so hoch wie möglich zu halten.
Die sechs Monate, die nach der Anmeldung zunächst zurückzulegen seien, bis ein
Rentenanspruch entstehen könne, entspreche der Zeit der Frühintervention, jener
Zeit also, in der die versicherten Personen ihr Augenmerk auf die Eingliederung
richten sollen und in der die Rentenperspektive möglichst ausgeblendet sein
solle. Die Änderungen zum Anspruchsbeginn bei der Rente seien demnach durch das
neue Eingliederungssystem bedingt und stellten keine Sparmassnahme dar. Für die
Hilflosenentschädigung würden die Ziele von Art. 29 Abs. 1 IVG nicht passen.
Weder gelte es, für die Zeit der
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Frühintervention die Perspektive weg von der Hilflosenentschädigung zu nehmen,
noch sei es in Bezug auf die Eingliederungswirksamkeit problematisch, wenn eine
Hilflosenentschädigung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt angemeldet und
folglich rückwirkend zugesprochen werde. Beim Verweis in Art. 42 Abs. 4 IVG
handle es sich um eine "gesetzgeberische Unterlassungssünde". Auf eine formelle
Berichtigung sei verzichtet worden, da Art. 42 IVG nicht Gegenstand der 5.
IV-Revision gewesen sei und die Bundesversammlung darüber streng formell
betrachtet keinen Beschluss gefasst habe. Immerhin sei mittlerweile im Rahmen
der Vorlage zur 6. IV-Revision (zweites Massnahmenpaket) eine ausdrückliche
Regelung des Anspruchsbeginns der Hilflosenentschädigung in Art. 42 Abs. 4^bis
IVG vorgeschlagen und damit eine formelle Korrektur des Verweises beabsichtigt.
Für Hilflosenentschädigungsfälle könne somit die Bestimmung zur Entstehung des
Rentenanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 IVG nicht angewendet werden. Vielmehr seien
Art. 28 Abs. 1 Bst. b IVG und Art. 24 ATSG heranzuziehen. Unter diesen
Umständen hätte im vorliegenden Fall ein allfälliger Anspruch auf
Hilflosenentschädigung bereits vor dem Eintritt ins AHV-Alter entstanden sein
können, womit korrekterweise die IV-Stelle die entsprechende
leistungsablehnende Verfügung erlassen habe.

4. Es ist der Vorinstanz zuzustimmen, dass der Wortlaut von Art. 42 Abs. 4 IVG
grundsätzlich klar ist und in Bezug auf den Beginn des Anspruchs auf
Hilflosenentschädigung unmissverständlich auf Art. 29 Abs. 1 IVG verweist. Von
diesem klaren Wortlaut ist indessen abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür
bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche
triftigen Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Sinn und
Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen
ergeben (BGE 137 I 77 E. 3.2.2 S. 84 mit Hinweis auf BGE 131 II 217 E. 2.3 S.
221).

4.1 Art. 42 Abs. 4 IVG wurde im Rahmen der 4. IV-Revision, in Kraft seit 1.
Januar 2004, eingeführt und hat bis heute - abgesehen von der angebrachten
Fussnote 188 (vorne E. 2) - keine Änderung erfahren. Anlass für seine
Einführung war die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts (EVG), wonach
die Regeln über die Entstehung des Rentenanspruchs sinngemäss auch für den
Beginn des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung Geltung hätten (BBl 2001
3289 ad Art. 42 IVG). Das EVG hatte in seinem Urteil I 498/78
BGE 137 V 351 S. 357
vom 8. Mai 1979, auszugsweise publ. in: BGE 105 V 66, erwogen, dass das IVG in
Bezug auf den Anspruch auf Hilflosenentschädigung keine Wartezeit vorschreibe,
jedoch nur als hilflos gelte, wer dauernd der Hilfe Dritter oder der
persönlichen Überwachung bedürfe. Dieses Erfordernis sei erfüllt, wenn der
Zustand, der die Hilflosigkeit begründe, weitgehend stabilisiert und im
Wesentlichen irreversibel sei, wenn also analoge Verhältnisse wie bei der
ersten Variante von aArt. 29 Abs. 1 IVG gegeben seien. Ferner sei das
Erfordernis der Dauer als erfüllt zu betrachten, wenn die Hilflosigkeit während
360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch gedauert habe und voraussichtlich
weiterhin andauern werde (2. Variante). Da der Anspruch auf
Hilflosenentschädigung nicht von einem allfälligen Rentenanspruch abhängig sei,
entstehe er im Falle der ersten Variante somit im Zeitpunkt, in dem die
leistungsbegründende Hilflosigkeit als bleibend vorausgesehen werden könne, und
im Falle der zweiten Variante nach Ablauf der 360 Tage, sofern weiterhin mit
einer Hilflosigkeit der vorausgesetzten Art zu rechnen sei (BGE 105 V 66 E. 2
S. 67). Zwar stand im Zeitpunkt dieser Rechtsprechung eine (nochmals) ältere
Fassung von Art. 29 IVG in Kraft als im Zeitpunkt der Einführung von Art. 42
Abs. 4 IVG und vor Umsetzung der 5. IV-Revision (vgl. vorne E. 2.1). Die
Unterschiede sind aber im Zusammenhang mit der hier zu beurteilenden
Streitfrage von untergeordneter Bedeutung, zumal sie sich vor allem im
Masslichen finden (Höhe der Erwerbsunfähigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit [je zur
Hälfte]; vgl. Urteil I 498/78 vom 8. Mai 1979 E. I.1 und aArt. 29 Abs. 1 IVG).
Dieser altrechtliche Hintergrund darf nicht schon zum Schluss verleiten, dass
der in Art. 42 Abs. 4 IVG verankerte konnexe Anspruchsbeginn von
Hilflosenentschädigung und Rente als Fortschreibung seiner Parallelität zu
verstehen ist. Zum einen ist mit der 5. IV-Revision eine umfassende
Neugestaltung des Rentenanspruchs einhergegangen. Zum andern bildete die
Hilflosenentschädigung, wie das BSV zutreffend ausführt, als solche nicht
Gegenstand der besagten IV-Revision.

4.2 Ziel der 5. IV-Revision war es u.a., die Neuberentungen zu dämpfen. Im
Hinblick darauf standen im Leistungsbereich zwei Gesichtspunkte im Vordergrund:
Einerseits sollten neu eine Früherfassung und eine Frühintervention bei
arbeitsunfähigen Versicherten erfolgen sowie Integrationsmassnahmen zur
Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung eingeführt und sollte der Bereich
der beruflichen
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Eingliederungsmassnahmen ausgeweitet werden. Anderseits sollte der Zugang zur
Invalidenrente durch eine Anpassung des Invaliditätsbegriffs und der
Voraussetzungen des Rentenanspruchs eingeschränkt werden (BBl 2005 4502 f.
Ziff. 1.2; THOMAS LOCHER, Invalidität, Invaliditätsgrad und Entstehung des
Rentenanspruchs nach dem Entwurf zur 5. IV-Revision, in: Medizin und
Sozialversicherung im Gespräch, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.],2006, S. 276;
vgl. auch ROSALBA AIELLO LEMOS CADETE, La 5^e révision de l'AI - 1^re étape de
l'assainissement de l'AI, in: La 5^e révision de l'AI, Kahil-Wolff/Simonin
[Hrsg.], 2009, S. 27 ff. und 37).
Die in Art. 29 Abs. 1 IVG stipulierte Wartezeit von sechs Monaten seit
Anmeldung dient der Zielerreichung des ersten Gesichtspunkts. Sie bezweckt,
während der Frühinterventionsphase von sechs Monaten bei den betroffenen
Personen die Anspruchsvoraussetzungen auf ordentliche Leistungen der
Invalidenversicherung zu klären und insbesondere einen Grundsatzentscheid
betreffend Rentenanspruch zu fällen. Die frühzeitige Klärung der Rentenfrage
ist oft wichtig, um anschliessend die Perspektive aller Beteiligten auf die
berufliche (Wieder-)Eingliederung zu konzentrieren. Mit Abschluss der Phase der
Frühintervention ist also festgestellt, welche beruflichen Massnahmen nötig
sind und allenfalls welche Rentenhöhe in Frage kommt, damit eine bestmögliche
Arbeitsintegration erreicht werden kann (BBl 2005 4519 dritter Absatz, Ziff.
1.6.1.2.2, 4568 f.). Diese (neue) Konzeption des Grundsatzes "Eingliederung
statt Rente" (BBl 2005 4524 Ziff. 1.6.1.3.3) hat keinen Zusammenhang mit der
Frage der Hilflosigkeit. Muss eine versicherte Person trotz einer an sich
bereits bestehenden Hilflosigkeit im Sinne von Art. 9 ATSG auf den Beginn der
Hilflosenentschädigung nur deshalb warten, weil die IV-Stellen gehalten sind,
vor dem Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung allfällige
Integrationsmassnahmen zu prüfen, wird mit Bezug auf den Beginn der
Hilflosenentschädigung ein Umstand berücksichtigt, der mit der Hilflosigkeit
nichts zu tun hat. Sinn und Zweck von Art. 29 Abs. 1 IVG sprechen somit gegen
die Befolgung des Wortlauts von Art. 42 Abs. 4 IVG.

4.3 Im Weiteren sind die bei der Hilflosenentschädigung verlangte Hilflosigkeit
und die bei der Rente vorausgesetzte Invalidität zwei verschiedene Begriffe,
wie das Bundesgericht unlängst in BGE 133 V 42 dargelegt hat. Sie haben nur so
viel gemeinsam, als beide an eine Beeinträchtigung der Gesundheit anknüpfen
(vgl. Art. 7 und 8 ATSG einerseits mit Art. 9 ATSG anderseits). Zwar hatte das
EVG
BGE 137 V 351 S. 359
im zitierten Urteil I 498/78 (vorne E. 4.1) davon gesprochen, dass der Anspruch
auf Hilflosenentschädigung eine "Invalidität" voraussetze (BGE 105 V 66 E. 2 S.
67). Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass die Umschreibung der
Hilflosigkeit in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung von Art. 42 Abs. 2
IVG mit Hilfe dieses Terminus erfolgte. Art. 9 ATSG, in Kraft seit 1. Januar
2003, geht von einer "Beeinträchtigung der Gesundheit" aus, was eine gewisse
Ausweitung darstellt. Indes war der Begriff der Hilflosigkeit schon vor
Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 nicht auf Invalide im Sinne von aArt.
4 IVG, d.h. auf Versicherte, die infolge eines geistigen oder körperlichen
Gesundheitsschadens in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt waren, beschränkt.
Das Wort "Invalidität" hatte im Zusammenhang mit der Hilflosenentschädigung
schon nach altem Recht nicht eine wirtschaftliche Bedeutung, sondern diejenige
der körperlichen und/oder geistigen Behinderung. So waren körperlich
Behinderte, wie z.B. Rollstuhlfahrer, die dank einer guten Eingliederung wegen
ihres Gesundheitsschadens keine Erwerbseinbusse erleiden, hingegen in den
alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd auf die Hilfe Dritter angewiesen sind,
schon bisher anspruchsberechtigt. Das ATSG hat deshalb mit der neuen
Formulierung von Art. 9 insbesondere einen redaktionellen Fehler eliminiert (
BGE 133 V 42 E. 3.4 S. 45 f.).
Wiewohl die Hilflosigkeit eine leistungsspezifische (vgl. Art. 4 Abs. 2 IVG)
Invalidität darstellt, unterscheidet sie sich klar von der rentenbegründenden
Invalidität, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dass Hilflosigkeit und
Invalidität zwei verschiedene Dinge sind, zeigt sich - umgekehrt - auch darin,
dass Versicherte, die vollständig invalid sind und daher eine ganze Rente
beziehen, ihre alltäglichen Lebensverrichtungen trotzdem selber besorgen können
und deshalb nicht notwendigerweise auch hilflos sind. Insoweit fehlt es an
einem vernünftigen Grund für den in Art. 42 Abs. 4 IVG - hinsichtlich des
Anspruchsbeginns - stipulierten Zusammenhang zwischen Hilflosenentschädigung
und Rente. Den Materialien zur 5. IV- Revision lässt sich nichts entnehmen,
weshalb die Hilflosenentschädigung erst ab dem Zeitpunkt des Rentenbeginns
laufen soll und nicht, wie bis anhin, wenn die Voraussetzungen für die
Entschädigung erfüllt sind (vgl. vorne E. 4.1).

4.4 In systematischer Hinsicht fällt auf, dass Art. 29 Abs. 1 IVG - anders als
die ursprüngliche Fassung in der Botschaft vom 22. Juni
BGE 137 V 351 S. 360
2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5.
Revision] - in zwei Teile geteilt wurde (vgl. vorne E. 2.2 und BBl 2005 4613).
Eine solche Zweiteilung war nie Diskussionspunkt im Rahmen der
parlamentarischen Beratungen, weder in den Kommissionen noch anlässlich der
Plenumsberatungen der Eidgenössischen Kammern (vgl. Protokoll der
nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 11.-13.
Januar 2006, S. 73-75; Protokoll der ständerätlichen Kommission für soziale
Sicherheit und Gesundheit vom 29./30. Mai 2006, S. 44-46; AB 2006 N 381 f.
unten und AB 2006 S 607). Gemäss BSV erfolgte die Zweiteilung durch die
Redaktionskommission. Sie ist formell - was den Aufgabenbereich der
Redaktionskommission beschlägt (Art. 57 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember
2002 über die Bundesversammlung [Parlamentsgesetz, ParlG; SR 171.10]) - mit
Blick auf den Wortlaut von Art. 42 Abs. 4 IVG insoweit nachvollziehbar, als
sich der gleichzeitige Bezug von Taggeld und Hilflosenentschädigung nicht
ausschliesst. Während Ersteres der Fristung des allgemeinen Lebensunterhalts
dient, kommt Letzterer schadenersatzähnlicher Charakter zu (Urteil 8C_309/2011
vom 31. Mai 2011 E. 3.3.3). Hätte der Gesetzgeber wirklich eine materielle
Gleichschaltung von Beginn des Rentenanspruchs und des Anspruchs auf
Hilflosenentschädigung gewollt, hätte er die Auswirkung der bundesrätlichen
Fassung von Art. 29 Abs. 1 IVG auf die Hilflosenentschädigung wohl diskutiert.
Dies gilt umso mehr, als der integrale Verweis auf Art. 29 Abs. 1 IVG am Ende
von Art. 42 Abs. 4 IVG in offenkundigem Widerspruch zum ersten Satz dieser
Bestimmung steht, der die altersmässige Voraussetzung abweichend von Art. 29
Abs. 1 IVG regelt.

4.5 Nach dem Gesagten entspricht die in Art. 42 Abs. 4 IVG statuierte
Verknüpfung von Hilflosenentschädigung und Rente nicht dem tatsächlichen Willen
des Gesetzgebers. Dass es mit der Fussnote 188 "nur" zu einer redaktionellen
Berichtigung gekommen ist, ändert nichts daran. Abgesehen von der grossen
Gefahr, dass die Fussnote leicht überlesen wird, steht hier nicht die
Zulässigkeit dieser formellen Korrektur zur Beurteilung, sondern der wahre
materielle Gehalt der auszulegenden Bestimmung (vorne E. 4). Im Übrigen soll,
wie das BSV in seiner Beschwerde festhält, dem Verweis in Art. 42 Abs. 4 IVG im
Rahmen der 6. IV-Revision (zweites Massnahmenpaket) Rechnung getragen werden.
BGE 137 V 351 S. 361

5.

5.1 Entgegen dem wörtlich verstandenen Verweis in Art. 42 Abs. 4 in fine IVG
richtet sich der zeitliche Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung
somit nicht nach Art. 29 Abs. 1 IVG. Vielmehr gelangt weiterhin sinngemäss die
Bestimmung zu den Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente zur Anwendung, also
Art. 28 Abs. 1 IVG. Dazu hat die II. sozialrechtliche Abteilung die Zustimmung
der I. sozialrechtlichen Abteilung eingeholt (Anfrage vom 4. August 2011;
Antwort vom 10. August 2011; Art. 23 Abs. 2 BGG).
Der Entstehungsgrund der bleibenden Erwerbsunfähigkeit wurde mit der 5.
IV-Revision fallen gelassen (vgl. vorne E. 2.1 und 2.2), die 2. Variante von
aArt. 29 Abs. 1 IVG - d.h. Hilflosigkeit während eines Jahres ohne wesentlichen
Unterbruch und voraussichtlich weiterhin andauernd - dagegen beibehalten
(nunmehr Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG [vorne E. 2.2]). Anders als in der Fassung
vor der 5. IV-Revision, in welcher die fragliche Litera lediglich alternativ
gemeint ist, ist sie in der seit 1. Januar 2008 gültigen Fassung kumulativer
Tatbestand (ULRICH MEYER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2. Aufl.
2010, S. 269 f.; vgl. auch die Botschaft zur 5. IV-Revision betreffend Art. 28
IVG, BBl 2005 4568). In Anbetracht der begrifflichen Differenz zwischen
"Hilflosigkeit" und "Invalidität" (vorne E. 4.3) bedeutet dieser Umstand aber
nicht, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung
gleichermassen auszudehnen sind. Gleichzeitig steht die Rechtmässigkeit von Rz.
8092 des Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der
Invalidenversicherung (KSIH) fest, in der ebenfalls Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG
als anwendbar erklärt wird. Ob und inwieweit eine Zusprechung der
Hilflosenentschädigung - aus gesetzessystematischen Gründen - nach wie vor auch
vor Ablauf des Wartejahres in Betracht kommt (vorne E. 4.1; MEYER, a.a.O., S.
430), braucht an dieser Stelle nicht beantwortet zu werden (vgl. hinten E.
5.2).
Der Anspruch auf Hilflosenentschädigung kann solange geltend gemacht werden,
als die Frist gemäss Art. 24 ATSG läuft. Das Bundesgericht hat erst kürzlich im
Zusammenhang mit einer Hilflosenentschädigung entschieden, dass bei einer
Anmeldung nach dem 1. Januar 2008 lediglich die bis zum 1. Januar 2007
(Zeitpunkt des Inkrafttretens der 5. IV-Revision abzüglich 12 Monate)
entstandenen Ansprüche verwirkt sind. Mit dem Ausserkrafttreten von aArt. 48
BGE 137 V 351 S. 362
Abs. 2 IVG ist somit Art. 24 Abs. 1 ATSG sofort und uneingeschränkt anwendbar
geworden, d.h. es gilt eine fünfjährige Verwirkungsfrist ab Entstehung des - am
1. Januar 2008 nach altem Recht noch nicht verwirkten - Anspruchs auf die
einzelne Leistung (Urteile 9C_42/2011 vom 27. April 2011 E. 4.2 und 8C_233/2010
vom 7. Januar 2011 E. 4.2.3).

5.2 Für den hier zu beurteilenden Fall bedeutet dies, dass ein Anspruch des
Versicherten auf Hilflosenentschädigung vor Erreichen des 65. Altersjahrs
möglich war, für welche Prüfung die IV-Stelle zuständig ist (Art. 40 Abs. 1
IVV). Die Vorinstanz hat deren Verfügung vom 18. Oktober 2010 demnach zu
Unrecht aufgehoben und die Sache an die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau
weitergeleitet. Vielmehr wäre sie zu einer materiellen Auseinandersetzung mit
dem Fall verpflichtet gewesen.