Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 V 31



Urteilskopf

137 V 31

4. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Avenir gegen
R. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_697/2010 vom 4. Januar 2011

Regeste

Art. 25 KVG; Art. 20 und 20a KLV; Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL; Anhang 2
KLV); ärztliche Behandlung mittels Michiganschiene.
Die direkt mit der Michiganschiene selbst und ihrer Herstellung verbundenen
Leistungen sind nicht kostenvergütungspflichtig; nicht unter die obligatorische
Leistungspflicht fallen namentlich sämtliche unter Ziff. L 4177 des
Zahnarzttarifs abgerechneten Leistungen (Präzisierung der Rechtsprechung gemäss
BGE 136 V 84; E. 2).

Sachverhalt ab Seite 31

BGE 137 V 31 S. 31

A. Mit Verfügung vom 4. November 2009 und bestätigendem Einspracheentscheid vom
13. Januar 2010 verneinte die Avenir Versicherungen (nachfolgend: Avenir) im
Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung den Anspruch der R. auf
Vergütung der Kosten einer Therapie mittels Michiganschiene (Aufbissbehelf
zwecks Entlastung der Kiefermuskeln und -gelenke), soweit die Kosten von
insgesamt Fr. 966.25 für die Michiganschiene als solche
BGE 137 V 31 S. 32
(Tarifposition Ziff. L 4177: "Michigan-Schiene" [Fr. 269.70]) und die damit in
engem Zusammenhang stehenden medizinischen Massnahmen betreffend
(Tarifpositionen Ziff. 4075: Zentrikregistrat [Fr. 34.10]; Ziff. 4090:
Abformung des Kiefers Zahnarzt [Fr. 74.40]; Kosten Labor extern: Fr. 588.05).
Hinsichtlich der in der zahnärztlichen Gesamtrechnung zusätzlich aufgeführten
Kosten in der Höhe von Fr. 254.20 (Tarifpositionen Ziff. 4001: Befundaufnahme
beim Recallpatienten [Fr. 43.40]; Ziff. 4160: MAP Anamnese und Aufklärung [Fr.
27.90]; Ziff. 4165: Muskelbefund [Fr. 49.60]; Ziff. 4186: Instruktion
Physiotherapie [Fr. 83.70]; Ziff. 4190: MAP-Nachkontrolle [Fr. 49.60]) hatte
die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit Abrechnung vom 27. Juli 2009
anerkannt.

B. Die dagegen erhobene Beschwerde der R. mit dem Antrag auf Kostenübernahme in
der Höhe von Fr. 966.25 (abzüglich 10 % Selbstbehalt) hiess das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 30. Juni 2010 in dem
Sinne teilweise gut, dass es den Einspracheentscheid vom 13. Januar 2010 aufhob
und die Sache zum Erlass eines neuen Entscheids im Sinne der Erwägungen an die
Avenir zurückwies; in der Begründung stellte das Gericht fest, die Krankenkasse
habe "zusätzlich zu den bereits vergüteten Kosten von Fr. 254.20 noch Fr.
134.85 zu übernehmen".

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
Avenir, in Aufhebung des kantonalen Entscheids vom 30. Juni 2010 sei der
Einspracheentscheid vom 13. Januar 2010 zu bestätigen.
Die Versicherte und die Vorinstanz beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Unstrittig handelt es sich bei der Therapie mittels Michiganschiene nicht um
eine zahnärztliche Behandlung im Sinne von Art. 31 KVG in Verbindung mit Art.
17 ff. der Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung,
KLV; SR 832.112.31), sondern um eine von einem Zahnarzt durchgeführte ärztliche
Behandlung im Sinne von Art. 25 KVG (BGE 128 V 143).
BGE 137 V 31 S. 33
Streitig und zu prüfen ist der Umfang der Leistungspflicht gemäss Art. 25 KVG,
insbesondere die Kostenvergütungspflicht bezüglich der vom Zahnarzt unter der
Tarifposition Ziff. L 4177 "Michigan-Schiene" (Tarifvertrag zwischen der
Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft SSO und dem Konkordat der
Schweizerischen Krankenversicherer [heute: santésuisse]) berechneten Leistung
(Rechnung vom 1. Juli 2009).

2.1 Gemäss BGE 136 V 84 unterliegt die unter Ziff. L 4177 des Zahnarzttarifs
erwähnte Michiganschiene, sofern ihre Verwendung - wie hier (E. 2 Ingress) -
vom Zahnarzt im Rahmen einer ärztlichen Behandlung angeordnet wird, der
Positivlistenpflicht gemäss Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 20
und 20a Abs. 1 KLV. Da sie in der abschliessenden Mittel- und Gegenständeliste
(MiGeL; Anhang 2 KLV i.V.m. Art. 20a Abs. 1 KLV) nicht aufgeführt ist, ist die
Michiganschiene als solche samt Anfertigungskosten (Modelle, Gegenmodelle,
Anfertigung der Schiene im Zahntechniklabor) nicht kassenpflichtig; die
eigentlichen Behandlungskosten sind dagegen laut erwähntem Bundesgerichtsurteil
gestützt auf Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG zu vergüten. Ob solche im konkreten Fall
angefallen waren, hatte das Bundesgericht nicht zu prüfen (E. 5 in fine):
"Da der hier umstrittene Rechnungsbetrag in der Höhe von Fr. 563.20 nach Lage
der Akten allein die spezifischen Kosten für Material und Herstellung der
Schiene (Modelle, Gegenmodelle, Anfertigung der Schiene im Zahntechniklabor)
umfasst, ist die Leistungspflicht insgesamt zu verneinen. Nicht weiter zu
prüfen ist hier, ob und inwieweit im Rahmen der ärztlichen Therapie mittels
Michiganschiene zusätzlich eigentliche Behandlungskosten beim Zahnarzt
angefallen sind (Untersuchungen, Diagnostik, Anpassungen, Kontrollen, etc.),
welche gestützt auf Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG von der Kasse zu vergüten wären."
Im Urteil 9C_827/2009 vom 25. Februar 2010 war ein für eine Michiganschiene in
Rechnung gestellter Betrag von Fr. 592.70 streitig (Zahnarzt- und
Zahntechnikerkosten). Das Bundesgericht verneinte - mit derselben Begründung
wie im gleichentags ergangenen BGE 136 V 84 - den Anspruch auf Übernahme der
Kosten der Michiganschiene (gemäss Tarifposten Ziff. L 4177 "Michigan-Schiene")
durch die obligatorische Krankenversicherung, wobei es präzisierend festhielt
(E. 5):
"Dies betrifft die Kosten für die Schiene selbst und deren Anfertigung im
Zahntechniklabor, welche sich gemäss den letztinstanzlich unbestritten
gebliebenen, nicht offensichtlich unrichtigen Feststellungen der Vorinstanz auf
Fr. 592.70 belaufen; dagegen ist die Beschwerdegegnerin
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zutreffend davon ausgegangen und ist unstrittig, dass die im Rahmen der
ärztlichen Therapie mittels Michiganschiene angefallenen eigentlichen
Behandlungskosten beim Zahnarzt (wie Untersuchungen, Diagnostik, Anpassungen
und Kontrollen) gestützt auf Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG vergütungspflichtig
sind."

2.2 Im Lichte der vorstehend dargelegten Rechtsprechung gehen das kantonale
Gericht und die Beschwerdeführerin zutreffend davon aus, dass die im vor- und
letztinstanzlich umstrittenen Rechnungsbetrag von Fr. 966.25 enthaltenen Kosten
nur insoweit von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen
sind, als sie nicht Material und Anfertigung der Michiganschiene selbst
betreffen, sondern als "eigentliche Behandlungskosten" zu qualifizieren sind.
Als nicht leistungspflichtige Anfertigungskosten werden übereinstimmend die in
der Honorarrechnung des behandelnden Zahnarztes vom 1. Juli 2009 aufgeführten
Tarifpositionen Ziff. 4075 (Zentrikregistrat [Bissnahme]: Fr. 34.10) und Ziff.
4090 (Abformung durch Zahnarzt: Fr. 74.40) sowie die Kosten für "Labor extern"
in der Höhe von Fr. 588.05 eingestuft. Dies ist nicht zu beanstanden und mit
Blick auf die Parteivorbringen nicht weiter erläuterungsbedürftig. Was den im
umstrittenen Rechnungsbetrag verbleibenden, unter der Tarifposition Ziff. L
4177 "Michigan-Schiene" berechneten Betrag von Fr. 269.70 betrifft, verneint
die Krankenkasse die Leistungspflicht integral mit der Begründung, es handle
sich ausschliesslich um die - gemäss BGE 136 V 84 nicht vergütungspflichtigen -
Kosten für die Schiene selbst. Im angefochtenen Entscheid wird demgegenüber die
Hälfte dieses Betrags (Fr. 134.85) als von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zu übernehmende Behandlungskosten eingestuft. Die
Position Ziff. L 4177 sei - so die Begründung der Vorinstanz - in den
Erläuterungen zum Zahnarzttarif 94 (Ausgabe 2001) unter "3. Schienentherapie"
aufgeführt; gemäss Vorspann zu den Positionen 4175-4182 seien diese "ohne
allfällige Bissnahme, inkl. Abdruck, Eingliederung und Instruktion" tarifiert.
Der behandelnde Zahnarzt stufe die Leistungen unter der Position Ziff. L 4177
als "rein zahnärztliche Leistung ein" (im Rahmen einer amtlichen Erkundigung
eingeholtes Schreiben vom 8. Juni 2006). Dem sei bezüglich "Eingliederung und
Instruktion" (nicht aber "Abdruck") beizupflichten; bei Letzteren handle es
sich um Kosten im Zusammenhang mit der "Anpassung" der Schiene und damit gemäss
BGE 136 V 84 E. 5 um eigentliche Behandlungskosten, welche der
Vergütungspflicht nach Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG unterstünden.
BGE 137 V 31 S. 35

2.3 Es trifft zu, dass das Bundesgericht in den unter E. 2.1 hievor erwähnten
Urteilen als vergütungspflichtige Behandlungskosten im Rahmen der Therapie
mittels Michiganschiene beispielhaft auch die "Anpassungen" genannt hat (BGE
135 V 84 E. 5 S. 95; 9C_827/2009 E. 5 in fine). Für sich betrachtet lässt die
gewählte Formulierung Raum für die dargelegte vorinstanzliche Interpretation
und Schlussfolgerung (E. 2.2 hievor). Aufgrund der Umschreibung des
Streitgegenstands (BGE 136 V 84 E. 3 S. 87 f.; Urteil 9C_827/2009 E. 3) und des
Dispositivs in den erwähnten zwei Fällen erscheint jedoch klar, dass das
Bundesgericht sämtliche unter der Tarifposition Ziff. L 4177 "Michigan-Schiene"
berechneten Leistungen als Nicht- Pflichtleistung beurteilt hat. Analog war
bereits im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 101/03 vom 22. Juli 2004
betreffend Behandlung mittels Serenox-Schiene entschieden worden: Dort war
Streitgegenstand "la confection et la mise en place" (a.a.O., E. 2. und 4.3)
einer Serenox-Schiene im Gesamtbetrag von Fr. 1'700.-; das Eidg.
Versicherungsgericht lehnte die Kostenübernahme mangels Erwähnung der
Serenox-Schiene in der MiGeL integral ab. Zu verweisen ist zudem auf BGE 136 V
84 E. 4.2.3 in fine, wonach angesichts der Subsumtion der Michiganschiene unter
die listenpflichtigen Gegenstände nach Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG in Verbindung
mit Art. 20 KLV eine obligatorische Kostenübernahme für dieses Produkt gestützt
auf Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG ausser Betracht fällt, da die Tatbestände Art. 25
Abs. 2 lit. a und b KVG sich in Bezug auf ein- und dasselbe Leistungselement
als Rechtsgrund der Leistungspflicht gegenseitig ausschliessen. Die
Tarifposition Ziff. L 4177 "Michigan-Schiene" ist mit den darin enthaltenen
Posten Abdruck, Eingliederung und Instruktion - wie grundsätzlich alle im
Zahnarzttarif genannten Einzelpositionen resp. Ziffern (vgl. auch www.sso.ch ->
Recht/Tarif -> Zahnarzt-Tarif) - sachlich als eine Einzelleistung zu
qualifizieren; die Unterteilung in verschiedene, einerseits nach Art. 25 Abs. 2
lit. a KVG kostenvergütungs- und andererseits nach Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG
nicht kostenvergütungspflichtige Leistungselemente ist systemwidrig. Im Übrigen
entbehrt es auch der Logik, die Anpassung (samt "Eingliederung und
Instruktion") eines Gegenstands der obligatorischen Kostenvergütung zu
unterstellen, der selbst nicht leistungspflichtig ist. Es verhält sich (unter
umgekehrten Vorzeichen) ähnlich wie bei Brillengläsern oder Kontaktlinsen,
deren Anpassung nicht separat als ärztliche Leistung vergütet wird, sondern im
Listenpreis der MiGeL inbegriffen ist (Ziff. 25.02
BGE 137 V 31 S. 36
MiGeL; vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 35/01 vom 25. März 2003).
BGE 136 V 84 ist nach dem Gesagten wie folgt zu präzisieren: Im Rahmen der
Michiganschiene-Therapie gestützt auf Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmende ärztliche Leistungen
sind nur diejenigen, die nicht direkt mit der Michiganschiene selbst und ihrer
Herstellung verbunden sind. Darunter fallen z.B. die - auch in casu
übernommenen (vgl. oben Sachverhalt, lit. A) - Diagnosen, die Befunderstellung
sowie die Nachkontrollen; nicht dazu gehören dagegen namentlich die Leistungen
gemäss Tarifpositionen Ziff. L 4177 ("Michigan-Schiene", inkl. Abdruck,
Eingliederung und Instruktion), Ziff. 4075 (Zentrikregistrat) und Ziff. 4090
(Abformung durch den Zahnarzt) sowie die Kosten des Zahntechniklabors.

2.4 Aufgrund vorstehender Erwägung ist die vorinstanzlich bezüglich der
Tarifposition Ziff. L 4177 bejahte Leistungspflicht als bundesrechtswidrig
(Art. 95 BGG) einzustufen und die Beschwerde der Avenir gutzuheissen.