Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 V 210



Urteilskopf

137 V 210

28. Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. D. gegen IV-Stelle des
Kantons Solothurn (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_243/2010 vom 28. Juni 2011

Regeste

Art. 29 Abs. 1 und 2, Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 43 Abs. 1
und Art. 61 lit. c ATSG; Art. 59 Abs. 3 IVG; Art. 72bis IVV (in Kraft bis 31.
März 2011); Einholung von Administrativ- und Gerichtsgutachten bei
Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS); Wahrung eines fairen Verwaltungs- und
Beschwerdeverfahrens.

Regeste

Grundlagen (E. 1).
Verfassungs- und konventionsrechtliche Einwendungen gegen Begutachtungen durch
die MEDAS (E. 1.1). Rechts-, insbesondere tarifvertragliche Grundlagen der
MEDAS-Begutachtungen (E. 1.2.1 und 1.2.2). Ergebnisse der Instruktion (E.
1.2.3-1.2.5). Unabhängigkeit der MEDAS nach geltender Rechtsprechung (E. 1.3)
im Lichte der Praxis der Konventionsorgane (E. 1.4).

Regeste

Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der gestützt auf das Rechtsgutachten
Müller/Reich erhobenen Rügen (E. 2).
Die Beschaffung medizinischer Entscheidungsgrundlagen durch externe
Gutachtensinstitute wie die MEDAS in der schweizerischen Invalidenversicherung
sowie deren Verwendung auch im Gerichtsverfahren ist an sich verfassungs- und
konventionskonform (E. 2.1-2.3), was insbesondere die Rechtsvergleichung
bestätigt (E. 2.2.3). Latente Gefährdungen der Verfahrensgarantien, wie sie
sich aus dem Ertragspotential der Tätigkeit der MEDAS zuhanden der
Invalidenversicherung ergeben (E. 2.4). Notwendigkeit von Korrektiven (E. 2.5).

Regeste

Verfassungs- und konventionsrechtlich gebotene Korrektive auf administrativer
Ebene (E. 3).
Vergabe der MEDAS-Begutachtungsaufträge nach dem Zufallsprinzip (E. 3.1),
Mindestdifferenzierung des Gutachtenstarifs (E. 3.2), Verbesserung und
Vereinheitlichung der Qualitätsanforderungen und -kontrolle (E. 3.3). Eine
Stärkung der Partizipationsrechte (E. 3.4) ist infolge der in den letzten
Jahren eingetretenen Verschlechterung der rechtstatsächlichen Rahmenbedingungen
für eine korrekte MEDAS-Begutachtung geboten (E. 3.4.2.5): Bei Uneinigkeit ist
die Expertise durch eine beim kantonalen Versicherungsgericht (bzw.
Bundesverwaltungsgericht) anfechtbare Zwischenverfügung anzuordnen (Änderung
der Rechtsprechung gemäss BGE 132 V 93; E. 3.4.2.6); der versicherten Person
stehen vorgängige Mitwirkungsrechte zu (Änderung der Rechtsprechung gemäss BGE
133 V 446; E. 3.4.2.9).

Regeste

Verfassungs- und konventionsrechtlich gebotene Korrektive auf gerichtlicher
(erstinstanzlicher) Ebene (E. 4).
Bei festgestellter Abklärungsbedürftigkeit hat das angerufene kantonale
Versicherungsgericht (bzw. das Bundesverwaltungsgericht) grundsätzlich selber
eine medizinische Begutachtung anzuordnen (Änderung der Rechtsprechung gemäss
ARV 1997 S. 85, C 85/95 E. 5d mit Hinweisen, und Urteil H 355/99 vom 11. April
2000 E. 3b; E. 4.4.1.3 und 4.4.1.4). Die Kosten einer gerichtlich angeordneten
MEDAS-Begutachtung können der IV auferlegt werden (E. 4.4.2).

Regeste

Umsetzung des Urteils (E. 5).
Mit den Anforderungen gemäss E. 3 und 4 ist das MEDAS-System weiterhin
verfassungs- und konventionskonform. Soweit justiziabel, sind die Korrektive
ohne Weiteres umsetzbar und auf laufende Verfahren grundsätzlich anwendbar.
Soweit für ihre Verwirklichung der Verordnungsgeber, die Aufsichtsbehörde oder
die Durchführungsstellen gefordert sind (Korrektive gemäss E. 3.1, 3.2 und
3.3), ist das Urteil ein Appellentscheid.

Regeste

Fallerledigung (E. 6).
Angesichts verschiedener Mängel der administrativen Entscheidungsgrundlagen hat
die Vorinstanz ein Gerichtsgutachten einzuholen.

Regeste

Kosten- und Entschädigungsfolgen (E. 7).
Die Rückweisung entspricht einem vollen Obsiegen; die Beschwerdeführerin wird
gemäss gebotenem Aufwand ihres Rechtsvertreters entschädigt.

Sachverhalt ab Seite 214

BGE 137 V 210 S. 214

A.

A.a Die 1968 geborene D. erlitt als Folge eines Verkehrsunfalls im Sommer 2003
- der vom Ehemann gelenkte Personenwagen kam von der Strasse ab und überschlug
sich - verschiedene Verletzungen im Bereich von Kopf und Hals sowie der linken
Hand. In ihrer Tätigkeit als Betriebsmitarbeiterin in einer Kantine war sie
zunächst vollständig arbeitsunfähig. Der Arbeitgeber löste die Anstellung auf
Ende 2003 auf. Am 20. August 2004 meldete sich D. unter Hinweis auf die
Unfallfolgen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die Klinik S.
erstattete am 9. Januar 2007 im Auftrag der obligatorischen Unfallversicherung
ein interdisziplinäres Gutachten. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn
(nachfolgend: IV-Stelle) erhielt Gelegenheit, Gutachterfragen zu stellen.
Gestützt auf die Akten, auf eigene Untersuchungen sowie auf eine Evaluation der
funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) diagnostizierten die Sachverständigen
Prof. A. (Neuropsychiatrie), Prof. O. (Neurologie) und Dr. E.
(Neurophysiologie) einen Status nach indirekter und direkter kraniozervikaler
Verletzung, myofasziale Symptome im Rahmen eines kraniozervikalen
Beschleunigungstraumas (entsprechend einem zervikobrachialen bzw.
zervikozephalen Syndrom) sowie eine affektive Störung mit Symptomen eines
mittelschweren depressiven Syndroms und einer Angststörung mit Anteilen einer
Agoraphobie (im Sinne einer Residualsymptomatik aus einer posttraumatischen
Belastungsstörung). Die Leistungsfähigkeit sei in erster Linie wegen der - als
wahrscheinlich anhaltend bezeichneten - psychischen Beeinträchtigung mindestens
um drei Viertel vermindert; eine gegenseitige Beeinflussung der somatischen und
psychischen Beschwerden führe dazu, dass eine Berufstätigkeit kaum mehr
zumutbar erscheine. Der obligatorische Unfallversicherer sprach D. mit
Verfügung vom 20. Juni 2007 eine Invalidenrente auf der Grundlage einer
vollständigen Erwerbsunfähigkeit und eine Entschädigung für einen
Integritätsschaden von 70 Prozent zu.
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A.b Am 1. Juni 2007 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, es sei eine
weitere medizinische Abklärung durch die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS)
notwendig. Ein Briefwechsel zwischen der IV-Stelle und der Versicherten ergab
keine Einigung über die Notwendigkeit der Begutachtung, worauf die Verwaltung
D. zu entsprechenden ärztlichen Untersuchungen aufbot. Das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn wies die dagegen eingereichte
Rechtsverweigerungsbeschwerde ab (Entscheid vom 21. Dezember 2007). Die
Versicherte zog dieses Erkenntnis an das Bundesgericht weiter und machte
geltend, es sei auf der Grundlage der vorhandenen medizinischen Akten über den
Rentenanspruch zu befinden. Das Bundesgericht erwog, die Anordnung einer
Begutachtung stelle nach der Rechtsprechung keine Verfügung dar. Einwendungen
materieller Natur seien im Rahmen der Beweiswürdigung zu behandeln. Die
IV-Stelle verfüge bei der von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärung des
rechtserheblichen Sachverhalts über ein erhebliches Ermessen. Die Verwaltung
habe dieses - mit Blick auf die konkreten Umstände und angesichts der grossen
Tragweite einer allfälligen Rentenzusprechung an die erst 40-jährige
Versicherte - nicht offensichtlich verletzt, als sie eine weitere medizinische
Begutachtung anordnete, weil der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) im Gutachten
der Klinik S. widersprüchliche oder nicht nachvollziehbare Schlussfolgerungen
erkannte. Im Weiteren seien Einwendungen gegen die Zumutbarkeit der
Begutachtung gegebenenfalls im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der (bei
andauerndem Widerstand der Versicherten) im Mahn- und Bedenkzeitverfahren nach
Art. 43 Abs. 3 ATSG (SR 830.1) zu erlassenden materiellen Verfügung zu
behandeln (Urteil 9C_157/2008 vom 20. März 2008).

A.c Im Frühsommer 2008 nahm die MEDAS eine polydisziplinäre Begutachtung vor.
Die Expertise vom 18. Juli 2008 stützt sich insbesondere auf zwei Teilgutachten
neurologischer (Dr. N.) sowie psychiatrischer (Frau Dr. B.) Richtung. Eine
neurologische Diagnose wurde nicht gestellt; das myofasziale zervikogene
Schmerzsyndrom gehe in der orthopädischen Diagnose (rezidivierende Beschwerden
der Wirbelsäule bei Fehlstatik, Haltungsinsuffizienz, muskulärem Hartspann,
verschmächtigter Rumpf- und verkürzter Ischiokruralmuskulatur) auf. Die
Psychiaterin fand eine generalisierte Angststörung und stellte einen
Schmerzmittelabusus fest; Letzterer führe wohl zu geklagten Symptomen wie
Vergesslichkeit, zeitweiliger Orientierungslosigkeit, Gereiztheit und
Lärmempfindlichkeit. Eine
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relevante depressive Symptomatik sei nicht mehr nachweisbar. Keine der
gestellten Diagnosen wirke sich auf die Arbeitsfähigkeit aus.
Mit Verfügung vom 21. Januar 2009 lehnte die IV-Stelle mangels eines
invalidisierenden Leidens die Ansprüche auf berufliche Eingliederungsmassnahmen
und Invalidenrente ab.

B. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die hiergegen erhobene
Beschwerde ab. Es erwog im Wesentlichen, dem MEDAS-Gutachten komme höherer
Beweiswert zu als dem Gutachten der Klinik S. Letztes sei zwar umfassend,
überzeuge aber in seinen - widersprüchlichen - Schlussfolgerungen zur
Arbeitsfähigkeit nicht. Keiner der Einwände der Beschwerdeführerin gegen das
Gutachten der MEDAS (Abhängigkeit im Verhältnis zur Invalidenversicherung,
fehlender FMH-Titel der Zusatzgutachter, Verständigungsschwierigkeiten bei der
Untersuchung, nur knappe Bezugnahme auf die Vorakten, unangemessenes Verhalten
der psychiatrischen Konsiliarsachverständigen gegenüber der Probandin) dringe
durch. Die Beschwerdeführerin sei mithin seit Frühjahr 2004 in der Lage, einer
leichten bis mittelschweren Arbeit nachzugehen. Der Einkommensvergleich führe
zu einem nicht leistungsbegründenden Invaliditätsgrad von rund zwei Prozent
(Entscheid vom 5. Februar 2010).

C.

C.a

C.a.a D. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, es sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell
sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese sei
anzuweisen, ein unabhängiges Obergutachten einzuholen, welches der
Neubeurteilung zugrundezulegen sei. Dabei sei der Beschwerdeführerin
Gelegenheit zu geben, sich zu den Gutachtervorschlägen des kantonalen Gerichts
zu äussern oder diesem eigene Vorschläge zu unterbreiten.

C.a.b Die Beschwerdeführerin bringt dem Bundesgericht am 1. September 2010 eine
Aufsichtsbeschwerde vom 25. Juni 2010 der Rechtsberatungsstelle UP für
Unfallopfer und Patienten beim Eidg. Departement des Innern (EDI) gegen das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) zur Kenntnis.

C.b Die IV-Stelle verzichtet auf eine Beschwerdeantwort. Das BSV nimmt am 28.
Oktober 2010 ausführlich Stellung und reicht eine Dokumentation zum
Gutachtenwesen in der Invalidenversicherung ein, nachdem es mit
instruktionsrichterlicher Anfrage vom 28. Juni
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2010 hinsichtlich verschiedener Punkte (unter anderem pauschale Entschädigung
der MEDAS, Sachverständigenauswahl, Sicherung von Qualität und Unabhängigkeit
der Abklärungsstellen) sowie der ins Recht gelegten Aufsichtsbeschwerde an das
EDI (Schreiben des Bundesgerichts vom 6. September 2010) zur Vernehmlassung
aufgefordert worden war.

C.c Die Beschwerdeführerin repliziert mit Eingabe vom 16. Dezember 2010 zur
Stellungnahme des BSV. Dieses lässt sich hierzu vernehmen (Schreiben vom 10.
Januar 2011).

C.d Mit instruktionsrichterlicher Anfrage vom 13. Dezember 2010 werden alle
über einen Vertrag mit dem BSV verfügenden Medizinischen Abklärungsstellen
ersucht, über statistische Daten (betreffend Zusammensetzung der Auftraggeber
und attestierte Arbeitsunfähigkeiten) sowie über Massnahmen der
Qualitätssicherung Auskunft zu erteilen.

C.e In ihrer Stellungnahme zu den Ergebnissen der instruktionsrichterlichen
Erhebung (Schreiben vom 4. März 2011 mit beigelegter synoptischer Darstellung
der gemachten Angaben) erneuert die Beschwerdeführerin die gestellten Begehren
(Eingabe vom 8. April 2011). Die IV-Stelle und das BSV verzichten darauf, sich
dazu zu äussern. Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

C.f Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zu folgenden
Rechtsfragen ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 BGG durchgeführt:
1. Soll die Rechtsprechung gemäss BGE 132 V 93 dahingehend geändert werden,
dass die Anordnung einer Administrativbegutachtung mittels Zwischenverfügung
ergeht, die beim kantonalen Sozialversicherungsgericht (bzw.
Bundesverwaltungsgericht) integral anfechtbar ist?
(dazu unten E. 3.4.2.6);
2. Soll die Rechtsprechung gemäss BGE 133 V 446 dahingehend geändert werden,
dass der versicherten Person vorgängig der Begutachtung über Art. 44 ATSG
hinaus die Mitwirkungsrechte nach Art. 55 ATSG in Verbindung mit Art. 19 VwVG
und Art. 57 ff. BZP zustehen?
(dazu unten E. 3.4.2.9);
3. Soll die Rechtsprechung, wonach das (kantonale) Gericht prinzipiell die
freie Wahl hat, bei festgestellter Abklärungsbedürftigkeit die Sache an den
Versicherungsträger zurückzuweisen oder aber selber zur Herstellung der
Spruchreife zu schreiten (vgl. statt vieler ARV 1997 S. 85, C 85/95
BGE 137 V 210 S. 218
E. 5d mit Hinweisen; Urteil H 355/99 vom 11. April 2000 E. 3b), dahingehend
geändert werden, dass das angerufene Gericht grundsätzlich selber eine
medizinische Begutachtung anordnet, statt die Sache an den Versicherer
zurückzuweisen?
(dazu unten E. 4.4.1.3).
Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben diese Rechtsfragen einstimmig
bejaht (Anfrage der II. sozialrechtlichen Abteilung vom 23. Mai 2011; Antwort
der I. sozialrechtlichen Abteilung vom 22. Juni 2011).
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Die Beschwerdeführerin macht in grundsätzlicher Weise geltend, die
gegenwärtige Ausgestaltung des Verfahrens zur Beurteilung von
Leistungsansprüchen gegenüber der Invalidenversicherung halte im Hinblick auf
das Gewicht der von den (MEDAS) erstellten Gutachten den Anforderungen an ein
faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht stand. Aufgrund des grossen
Volumens der von den IV-Stellen erteilten Aufträge müsse bezweifelt werden,
dass die MEDAS gegenüber der Verwaltung unabhängig seien. Diese Argumentation
stützt sich auf ein Rechtsgutachten von Prof. Dr. iur. JÖRG PAUL MÜLLER und Dr.
iur. JOHANNES REICH vom 11. Februar 2010 (Rechtsgutachten zur Vereinbarkeit der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur medizinischen Begutachtung durch
Medizinische Abklärungsstellen betreffend Ansprüche auf Leistungen der
Invalidenversicherung mit Art. 6 der Konvention vom 4. November 1950 zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [nachfolgend: Rechtsgutachten
MÜLLER/REICH]). Nach Ansicht der Rechtsgutachter besteht unter dem Blickwinkel
des Gebotes der Verfahrensfairness, genauer der prozessualen Chancengleichheit,
das Problem, dass das Administrativgutachten, wenn im Gerichtsverfahren
verwendet, de facto den Stellenwert eines Gerichtsgutachtens erhalte (vgl. die
Richtlinien für die Beweiswürdigung gemäss BGE 125 V 351 E. 3b S. 352). Mithin
bestehe ein allfälliger Beweisnachteil des Leistungsansprechers im
gerichtlichen Prozess fort, wenn die betreffende (Administrativ-)Expertise auch
jetzt noch die (in medizinischen Belangen) massgebende Entscheidungsgrundlage
bilde (in diesem Sinne die am 19. März 2010 eingereichte, derzeit hängige
Parlamentarische Initiative Kiener Nellen Nr. 10.429).
BGE 137 V 210 S. 219

1.2

1.2.1 Nach Art. 43 Abs. 1 ATSG prüft der Versicherungsträger die Begehren,
nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die
erforderlichen Auskünfte ein (Satz 1). Das Gesetz weist dem Durchführungsorgan
die Aufgabe zu, den rechtserheblichen Sachverhalt nach dem
Untersuchungsgrundsatz abzuklären, so dass gestützt darauf die Verfügung über
die in Frage stehende Leistung ergehen kann (Art. 49 ATSG; SUSANNE
LEUZINGER-NAEF, Die Auswahl der medizinischen Sachverständigen im
Sozialversicherungsverfahren [Art. 44 ATSG], in: Soziale Sicherheit -
SozialeUnsicherheit, Riemer-Kafka/Rumo-Jungo [Hrsg.], 2010, S. 413 f.). Auf dem
Gebiet der Invalidenversicherung obliegen diese Pflichten der (örtlich
zuständigen) Invalidenversicherungsstelle (IV-Stelle; Art. 54-56 i.V.m. Art. 57
Abs. 1 lit. c-g IVG). Was den für die Invaliditätsbemessung (Art. 16 ATSG und
Art. 28 ff. IVG) erforderlichen medizinischen Sachverstand angeht, kann die
IV-Stelle sich hierfür auf den Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; Art. 59 Abs.
2 und 2^bis IVG), die Berichte der behandelnden Ärztinnen und Ärzte (Art. 28
Abs. 3 ATSG) oder auf externe medizinische Sachverständige wie die
medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) stützen (Art. 59 Abs. 3 IVG).
Ständiger und damit wichtigster medizinischer Ansprechpartner in der täglichen
Arbeit sind für die IV-Stellen die RAD, welche ihnen nach Art. 59 Abs. 2^bis
IVG zur Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruches
zur Verfügung stehen (Satz 1); die RAD setzen die für die Invalidenversicherung
nach Art. 6 ATSG massgebende funktionelle Leistungsfähigkeit der Versicherten
fest, eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder Tätigkeit im Aufgabenbereich
auszuüben (Satz 2); sie sind in ihrem medizinischen Sachentscheid im Einzelfall
unabhängig (Satz 3; vgl. auch die Ausführungsbestimmungen in den Art. 47-49 IVV
[SR 831.201], insbesondere die Anforderung, wonach die RAD von den IV-Stellen
in personeller Hinsicht getrennt sein müssen). Der Beweiswert von RAD-Berichten
nach Art. 49 Abs. 2 IVV ist mit jenem von externen medizinischen
Sachverständigengutachten (BGE 125 V 351 E. 3b/bb S. 353) vergleichbar, sofern
sie den von der Rechtsprechung umschriebenen Anforderungen an ein ärztliches
Gutachten genügen (SVR 2009 IV Nr. 56 S. 174, 9C_323/2009 E. 4.3.2). Die
IV-Stellen werden aber stets externe (meist polydisziplinäre) Gutachten
einholen, wenn der ausgeprägt interdisziplinäre Charakter einer medizinischen
BGE 137 V 210 S. 220
Problemlage dies gebietet, wenn der RAD nicht über die fachlichen Ressourcen
verfügt, um eine sich stellende Frage beantworten zu können, sowie wenn
zwischen RAD-Bericht und allgemeinem Tenor im medizinischen Dossier eine
Differenz besteht, welche nicht offensichtlich auf unterschiedlichen
versicherungsmedizinischen Prämissen (vgl. SVR 2007 IV Nr. 33 S. 117, I 738/05
E. 5.2) beruht.

1.2.2 Nach Art. 72^bis IVV trifft das BSV mit Spitälern oder anderen geeigneten
Stellen Vereinbarungen über die Errichtung von medizinischen Abklärungsstellen,
welche die zur Beurteilung von Leistungsansprüchen erforderlichen ärztlichen
Untersuchungen vornehmen. Weiter trägt die Verordnung dem Bundesamt auf,
Organisation und Aufgaben der MEDAS und die Kostenvergütung zu regeln. Diese
Verordnungsbestimmung wurde lite pendente auf den 1. April 2011 aufgehoben (AS
2011 561); nach den übergangsrechtlichen Regeln ist sie für den vorliegenden
Fall indessen beachtlich (vgl. BGE 130 V 329 und 445).
Das BSV hat mit derzeit achtzehn Medizinischen Begutachtungsstellen
Rahmenvereinbarungen im Sinne von Art. 72^bis IVV abgeschlossen (in
alphabetischer Reihenfolge):
ABI Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH, Basel;
Academy of Swiss Insurance Medicine (asim) Begutachtung, Universitätsspital
Basel;
Begutachtungszentrum BL (BEGAZ) GmbH, Binningen;
Centre d'Expertise Médicale (CEMed), Nyon;
Clinique CORELA, Centre d'Observation Médicale de l'Assurance Invalidité, Genf;
Clinique romande de réadaptation, Sitten;
Etablissements publics pour l'intégration (EPI), Centre d'expertise médicale,
Genf;
MEDAS Inselspital Bern;
MEDAS Interlaken GmbH, Unterseen;
MEDAS Oberaargau AG, Langenthal;
MEDAS Ostschweiz, St. Gallen;
MEDAS Zentralschweiz, Luzern;
Medizinisches Zentrum Römerhof (MZR), Zürich;
Policlinique Médicale Universitaire (PMU), Centre d'expertises médicales (CEM),
Lausanne;
Servizio Accertamento Medico (SAM), Ospedale Regionale Bellinzona e Valli,
Bellinzona;
Swiss Medical Assessment- and Business-Center (SMAB) AG, Bern;
BGE 137 V 210 S. 221
Zentrum für medizinische Begutachtung (ZMB), Basel, und
Zentrum für versicherungsmedizinische Begutachtung (ZVMB) GmbH, Bern.
Die Vereinbarungen enthalten im Wesentlichen übereinstimmende Abmachungen.
Inhaltlich unterscheiden sie sich in der Regel einzig hinsichtlich der Anzahl
der Gutachten, zu deren Erstellung sich die beauftragten Stellen verpflichten.
Die Bestimmungen lauten (in der deutschsprachigen Version) folgendermassen:
1. Die Beauftragte führt im Auftrag des BSV bzw. der IV-Stellen
polydisziplinäre medizinische Gutachten durch. Polydisziplinäre Gutachten
enthalten mindestens drei unterschiedliche Expertisen, wobei die Bearbeitung
des Gesamtgutachtens durch einen dritten ärztlichen Gutachter einen Teil davon
darstellt.
Der Begutachtungsauftrag beginnt ab Eingang der schriftlichen Auftragserteilung
durch die jeweilige IV-Stelle und endet mit der Ablieferung eines schriftlichen
Gutachtens unter Einhaltung der formalen Qualitätsvorgaben. Die
Aktenbeschaffung ist Sache der auftraggebenden IV-Stelle. Die Beauftragte ist
berechtigt, unvollständige Dossiers zur Aktenvervollständigung an die
auftraggebende IV-Stelle zurückzuschicken.
2. Die Begutachtungen werden auf das medizinisch Notwendige beschränkt. Dabei
werden das aktuelle wissenschaftliche Krankheitsverständnis und die relevante
Rechtsprechung berücksichtigt. Sie bezwecken
- die Erhebung medizinischer Befunde sowie das Beschreiben der Diagnose(n) und
der funktionellen Leistungsfähigkeit;
- die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der versicherten Person aus ärztlicher
Sicht, gestützt auf die von den Gutachtern erhobenen Befunde in der bisher oder
zuletzt ausgeübten Tätigkeit sowie in anderen den medizinischen Befunden
angepassten Tätigkeiten;
- die Auskunft über medizinisch zumutbare Möglichkeiten zur Verbesserung der
Leistungsfähigkeit (durch medizinische, berufliche Massnahmen und/oder
Hilfsmittel) und deren Realisierbarkeit im Hinblick auf die Eingliederung.
3. Die Pauschale für ein polydisziplinäres Gutachten beträgt CHF 9'000.-.
4. Eine einmalige Aufwandsentschädigung von CHF 1'500.- wird vergütet, wenn ein
aufgebotener Versicherter unentschuldigt nicht zur Begutachtung erscheint oder
wenn der vom Versicherten bestätigte Termin weniger als 30 Tage vor dem
vereinbarten Untersuchungsdatum annulliert wird. (...)
5. Die Beauftragte verpflichtet sich, mindestens ... polydisziplinäre Gutachten
pro Jahr durchzuführen.
6. Die schriftlichen Gutachten müssen innerhalb einer Frist von drei Monaten
durchgeführt werden. (...) Die Daten sind auf dem Gutachten zu
BGE 137 V 210 S. 222
vermerken und werden vom BSV im Rahmen der formalen Qualitätskontrolle (siehe
Punkt 10) evaluiert.
7. Erweist sich ein Gutachten als formal mangelhaft und nicht gemäss Auftrag
erstellt, so schickt es die IV-Stelle der Beauftragten innerhalb von 15
Arbeitstagen nach Eingang zur kostenlosen Überarbeitung zurück. Das Gutachten
wird innert 10 Arbeitstagen ab Eingang beim Beauftragten überarbeitet und
wieder an die IV-Stelle weitergeleitet.
8. Die Abklärungsergebnisse sind mit den Versicherten in geeigneter Form
besprochen. Versicherte, denen die abendliche Rückkehr an ihren Wohnort nicht
möglich oder nicht zumutbar ist, werden einfach und zweckmässig untergebracht.
Für die Unterbringung des Versicherten werden keine zusätzlichen Kosten
vergütet.
9. Die Beauftragte führt eine fortlaufende Qualitätskontrolle der Tätigkeit
ihrer Mitarbeiter sowie ihrer Gutachten durch. Die Qualitätsanforderungen im
Anhang bilden eine entsprechende Grundlage.
10. Das BSV führt regelmässig formale Qualitätskontrollen der polydisziplinären
Gutachten durch.
11. Die Beauftragte teilt bei Änderungen dem BSV unverzüglich die Namen der
Trägerschaft und der ärztlichen Leitung mit.
12. Die begutachtenden Medizinalpersonen besitzen eine in der Schweiz
anerkannte Facharztausbildung. Sie nehmen zudem regelmässig an
versicherungsmedizinischen Fortbildungen teil.
13. Die Beauftragte ist gegenüber dem BSV oder den IV-Stellen nicht
weisungsgebunden und erstellt die Gutachten nach bestem ärztlichen Wissen und
Gewissen entsprechend dem anerkannten Wissenstand der Medizin.
14. Der vorliegende Vertrag ersetzt den bisher bestehenden Vertrag mit allen
Anhängen zwischen der Beauftragten und dem BSV vollständig.
15. Der Vertrag wird auf unbefristete Zeit abgeschlossen.
16. Er kann mit eingeschriebenem Brief unter Einhaltung einer Kündigungsfrist
von 6 Monaten auf den 30. Juni oder den 31. Dezember von einer Vertragspartei
gekündigt werden. (...)
17. Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien werden durch das zuständige
kantonale Schiedsgericht am Geschäftssitz der Trägerschaft der Beauftragten
nach Artikel 27^bis IVG erledigt.
18. Dieser Vertrag tritt per ... in Kraft.
Beilage-Anhang über Qualitätsanforderungen
Der Anhang, auf den in den Vereinbarungen verwiesen wird, hat folgenden
Wortlaut:
BGE 137 V 210 S. 223
ANHANG
Qualitätsanforderungen hinsichtlich des (juristischen) Beweiswertes eines
Gutachtens
Der Bericht soll
- Für die streitigen Belange umfassend sein
- Auf allseitigen Untersuchungen beruhen
- Die geklagten Beschwerden der versicherten Person (vP) berücksichtigen
- In Kenntnis der Vorakten abgegeben werden
- In der Darstellung der medizinischen Zusammenhänge einleuchtend sein
- In der Beurteilung der medizinischen Situation nachvollziehbar sein
- Abweichende Aussagen in den Akten eingehend diskutieren und begründen
- Schlussfolgerungen mit versicherungsmedizinisch begründeten Stellungnahmen
des Experten aufweisen.
(BGE 122 V 160 E. 1c mit Hinweisen; vgl. auch Ulrich Meyer-Blaser, Die
Rechtspflege in der Sozialversicherung, in: Basler juristische Mitteilungen
[BJM], 1989, S. 30 ff.)
Anforderungen hinsichtlich Gliederung des Gutachtens
Das Gutachten besteht aus mindestens folgenden 8 Abschnitten:
A Grundlagen
B Vorgeschichte gemäss Aktenlage
C Eigene Befragung (Anamnese)
D Untersuchung
E Diagnosen/Differenzialdiagnosen
F Versicherungsmedizinische Beurteilung
G Synthese
H Beantwortung der Fragen
(G. Riemer-Kafka, Universität Luzern (Hrsg.), Versicherungsmedizinische
Gutachten, Ein interdisziplinärer juristisch-medizinischer Leitfaden, 2007
[...])
Die unteraufgeführte Statistik ist unaufgefordert quartalsweise in
elektronischer Form (EXCEL) [Adresse beim BSV] zuzustellen.
- Versicherten-Nr.
- Auftraggebende IV-Stelle
- Poststempel/Eingangsdatum
- Daten der verschiedenen Untersuchungen
- Toxikologische Untersuchungen
- Versanddatum an die IV-Stelle
BGE 137 V 210 S. 224
- Effektive Dauer in Arbeitstagen, bei Überschreitung der Frist kurze
Begründung
- Bei Nichterscheinen: Datum des versäumten Untersuchungstermins, sowie Datum
der Annullierung bzw. Vermerk 'unentschuldigt nicht erschienen'.

1.2.3 Das Bundesgericht erhob bei den MEDAS Daten zur Zusammensetzung der
Auftraggeberschaft, zu den attestierten Arbeitsunfähigkeiten und zur
Qualitätssicherung. Die gemachten Angaben lassen sich wie folgt synoptisch
darstellen:
(...)

1.2.4 Die Ergebnisse der instruktionsrichterlichen Erhebung bei den achtzehn
MEDAS bestätigen den Stellenwert der seit 1978 bestehenden spezialisierten
verwaltungsexternen Abklärungsinstitution (vgl. BGE 123 V 175 E. 4a S. 177;
CONSTANTIN SCHULER, BGE 123 V 25 Jahre Medizinische Abklärungsstellen der
Invalidenversicherung [MEDAS], Schweizerische Ärztezeitung [SAeZ] 2004 S. 2076
ff.) für die Feststellung von Gesundheitsschädigungen und ihrer funktionellen
Folgen. Zentrales Wesensmerkmal der MEDAS-Gutachten ist die interdisziplinäre
Ausrichtung. Bei komplexen gesundheitlichen Beeinträchtigungen muss die
Einschätzung der Leistungsfähigkeit auf umfassender, die Teilergebnisse
verschiedener medizinischer Disziplinen integrierender Grundlage erfolgen.
Dasselbe gilt mit Blick auf die mitunter schwierige Abgrenzung der im Sinne von
Art. 4 Abs. 1 IVG versicherten Zustände von invaliditätsfremden Faktoren. Ein
weiteres wesentliches Merkmal der Begutachtung durch die MEDAS ist, dass ihr
die rechtlich determinierten versicherungsmedizinischen Vorgaben
zugrundeliegen. Dergestalt sind die Schlussfolgerungen der MEDAS-Expertisen auf
die IV-spezifischen Tatfragen zugeschnitten, was ihnen hinsichtlich der
Beweiskraft oft einen entscheidenden Vorteil gegenüber (abweichenden) Berichten
aus therapeutischen Zusammenhängen verschafft (vgl. zur in ständiger
Rechtsprechung anerkannten Verschiedenheit von Behandlungs- und
Begutachtungsauftrag statt vieler: BGE 124 I 170 E. 4 S. 175; Urteile 9C_24/
2008 vom 27. Mai 2008 E. 2.3.2; I 701/05 vom 5. Januar 2007 E. 2 in fine und
Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 506/00 vom 13. Juni 2001 E. 2b).

1.2.5 In seiner Vernehmlassung vom 28. Oktober 2010 wies das Bundesamt darauf
hin, im Unterschied zu früheren Jahren sei heute ein Gutachtenmarkt vorhanden.
Um auch formell eine eindeutige Unabhängigkeit der MEDAS zum Ausdruck zu
bringen, sei man
BGE 137 V 210 S. 225
dazu übergegangen, keine organisatorischen Vorgaben mehr in die Vereinbarungen
aufzunehmen und nur noch die beiden essentialia negotii Preis und Leistung zu
regeln. Aus dem gleichen Grund sei beabsichtigt, Art. 72^bis IVV ersatzlos zu
streichen. Der Kontakt zu den MEDAS beschränke sich im Allgemeinen auf
Tarifverhandlungen. Mit dieser Bestimmung sei ursprünglich - aus einem akuten
Bedürfnis der Invalidenversicherung nach medizinischen Abklärungsstellen - ein
Sonderfall geschaffen worden zur allgemeinen Tarifvertragskompetenz gemäss Art.
27 IVG und Art. 24 Abs. 2 IVV. Mit Art. 72^bis IVV habe ein Markt geschaffen
werden sollen, damit geeignete Stellen gegründet würden. Dementsprechend habe
dannzumal eine bedeutend engere Beziehung zwischen MEDAS und IV bestanden.
Dieser Markt sei heute jedoch auch ohne aktives Zutun seitens des BSV
vorhanden, zumal die Nachfrage nach polydisziplinären Gutachten auch seitens
von Unfall- oder Haftpflichtversicherern sehr gross geworden sei. Nicht zuletzt
im Hinblick auf eine möglichst grosse Unabhängigkeit der Begutachtungsstellen
habe sich das BSV deshalb in den letzten Jahren in keiner Weise mehr aktiv bei
der Errichtung von MEDAS beteiligt und schon gar keine Fragen der Organisation
oder der Aufgaben mit diesen Stellen geregelt. Voraussetzung und Grundlage für
den Abschluss eines Tarifvertrages seien die rechtsprechungsgemässen
Anforderungen an die Gutachten. Wie die heutige Diskussion zeige, könnte diese
Zurückhaltung des BSV ihren Teil zur Akzeptanz von MEDAS-Begutachtungen
beigetragen haben. Die "Sonderbestimmung in Art. 72^bis IVV" habe in der
Diskussion über eine Abhängigkeit der MEDAS von der Invalidenversicherung dazu
geführt, dass das BSV in die Rolle einer Aufsichtsbehörde über die MEDAS
gedrängt worden sei. Das Bundesamt sei im Rahmen von Tarifvereinbarungen
grundsätzlich nur für die Festlegung des Tarifes (zwecks administrativer
Vereinfachung im Rahmen eines Massengeschäftes) und der damit verbundenen
Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden Leistung verantwortlich; in
keiner Weise nehme es eine Aufsichtsfunktion gegenüber den MEDAS wahr. Deswegen
sei die fragliche Bestimmung nunmehr aufzuheben; die allgemeine
Tarifvertragskompetenz nach Art. 27 IVG und Art. 24 Abs. 2 IVV reiche aus.
Die achtzehn MEDAS nahmen nach Angaben des BSV in den letzten Jahren 3079
(2006), 4814 (2007), 4869 (2008) und 4146 (2009) Begutachtungen vor (nicht
angetretene Untersuchungen nicht berücksichtigt). Die Pauschale für ein
Gutachten beträgt in der Invalidenversicherung gemäss für alle MEDAS
identischer Vereinbarung
BGE 137 V 210 S. 226
9'000 Franken (Stand Ende 2010). Der Pauschalbeitrag orientiert sich am
Arzttarif TARMED zur Verrechnung ambulanter Leistungen (1x Hauptgutachter,
Gutachten Kategorie D, Untersuchungsklasse 4, Schlussbesprechung UK1; 3x
Teilgutachter, Gutachten Kategorie D, Untersuchungsklasse 3). Sofern die
versicherte Person nicht zur Begutachtung erscheint (sogenannte "no shows")
oder der Auftrag weniger als 30 Tage vor dem vereinbarten Termin annulliert
wird, erhält die MEDAS pauschal 1'500 Franken. Einschliesslich dieser
Ausfallentschädigungen entstanden der Invalidenversicherung im Zusammenhang mit
den MEDAS Kosten in Höhe von 27,9 Mio. (2006), 43,7 Mio. (2007), 44,2 Mio.
(2008), 37,6 Mio. (2009) und 28,7 Mio. (2010, bis 3. Quartal) Franken.

1.3

1.3.1 Hinsichtlich der hier zentralen Frage nach der Unabhängigkeit der MEDAS
hielt das Bundesgericht in BGE 123 V 175 E. 4 S. 177 in Bestätigung einer
älteren Rechtsprechung (erwähnt in BGE 123 V 175 E. 4b S. 178) fest, dass die
fachlich-inhaltliche Weisungsunabhängigkeit der begutachtenden Ärzte der MEDAS
institutionell verankert und die nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK vorausgesetzte
Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der betreffenden Gutachter somit
gewährleistet ist (vgl. auch AHI 1997 S. 120 E. 2b, I 41/95; SVR 2001 IV Nr. 14
S. 43, I 146/96 E. 3; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 827/05 vom 18.
Oktober 2006 E. 3.2). Die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR; bis
1998) fällte am 20. April 1998 einen Nichtzulassungsentscheid betreffend BGE
123 V 175 (VPB 1998 Nr. 95 S. 917). Daran hat die Rechtsprechung in der Folge
konsequent festgehalten (vgl. statt vieler BGE 132 V 376 E. 6.2 S. 381; Urteile
8C_957/2010 vom 1. April 2011 E. 4.8 und 9C_134/2009 vom 5. August 2009 E. 2).

1.3.2 In der Tat darf unter den Aspekten von Unabhängigkeit und
Verfahrensfairness aus dem Umstand, dass die IV-Stelle - Durchführungsorgan der
Invalidenversicherung - im gerichtlichen Verfahren formell als Partei auftritt,
und aus ihrer Legitimation zur Erhebung von Beschwerden in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offensichtlich nicht gefolgert werden,
die Beweiserhebungen der Verwaltung im vorausgehenden nichtstreitigen Verfahren
seien Parteihandlungen (BGE 136 V 376 E. 4.2.2 S. 380).

1.3.3 Unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Abhängigkeit führen nach
ebenfalls gefestigter Rechtsprechung der regelmässige Beizug eines Gutachters
oder einer Begutachtungsinstitution durch
BGE 137 V 210 S. 227
den Versicherungsträger, die Anzahl der beim selben Arzt in Auftrag gegebenen
Gutachten und Berichte sowie das daraus resultierende Honorarvolumen für sich
allein genommen nicht zum Ausstand (SVR 2009 UV Nr. 32 S. 111, 8C_509/2008 E.
6; SVR 2008 IV Nr. 22 S. 69, 9C_67/2007 E. 2; RKUV 1999 S. 193, U 212/97 E. 2a/
bb). Hinsichtlich der MEDAS als Institution gilt sinngemäss ohnehin, dass sich
ein Ausstandsbegehren stets nur gegen Personen und nicht gegen Behörden richten
kann; nur die für eine Behörde tätigen Personen, nicht die Behörde als solche,
können befangen sein (SVR 2010 IV Nr. 2 S. 3, 9C_500/2009 E. 2.1; Urteil 9C_603
/2010 vom 6. Oktober 2010 E. 5.2).
Im Rahmen einer administrativen Sachverhaltsabklärung liegt selbst dann kein
formeller Ausstandsgrund vor, wenn von einer wirtschaftlichen Abhängigkeit der
MEDAS von der Invalidenversicherung auszugehen wäre; denn ein Ausstandsgrund
ist nicht schon deswegen gegeben, weil jemand Aufgaben für die Verwaltung
erfüllt, sondern erst bei persönlicher Befangenheit (SVR 2010 IV Nr. 66 S. 199,
9C_304/2010 E. 2.2).

1.3.4 Sämtliche Beweismittel, somit auch medizinische Berichte und
Sachverständigengutachten, unterliegen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit.
c ATSG), was bei überzeugendem Beweisergebnis seit jeher erlaubt, dass das
angerufene Gericht für seine Beurteilung abschliessend auf die im
Administrativverfahren eingeholten medizinischen Berichte und
Sachverständigengutachten abstellt (BGE 104 V 209; bestätigt in BGE 122 V 157).
Im Sinne einer Richtlinie ist den im Rahmen des Verwaltungsverfahrens
eingeholten Gutachten von externen Spezialärzten, welche aufgrund eingehender
Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten Bericht
erstatten und bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen
gelangen, volle Beweiskraft zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen
die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 125 V 351 E. 3b/bb S. 353).

1.4 Auch wenn ein Mangel an Neutralität des Sachverständigen unter bestimmten
Umständen eine Verletzung des fairen Verfahrens (und der Waffengleichheit als
dessen Teilgehalt) bedeuten kann, enthält Art. 6 Ziff. 1 EMRK hinsichtlich des
Sachverständigenbeweises weder eine Unabhängigkeitsgarantie, wie sie für
Gerichte gilt, noch eine Vorschrift über die Expertenauswahl (Urteile des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR]
BGE 137 V 210 S. 228
Sara Lind Eggertsdòttir gegen Island vom 5. Juli 2007 §§ 44 und 47; vgl. auch
die Urteile Bönisch gegen Österreich vom 6. Mai 1985, Serie A Bd. 92 §§ 30 ff.,
und Brandstetter gegen Österreich vom 28. August 1991, Serie A Bd. 211 § 44;
CHRISTOPH GRABENWARTER, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit,
1997, S. 631). So begründet der Umstand, dass Sachverständige bei einer der
Verfahrensparteien angestellt sind, allein noch keinen Verstoss gegen das Gebot
eines fairen Verfahrens (Urteil Shulepova gegen Russland vom 11. Dezember 2008
§ 62). Der EGMR hat die institutionelle Ordnung und die Beweisgrundsätze des
Abklärungsverfahrens der Invalidenversicherung denn auch nie beanstandet
(Nichtzulassungsentscheid 33957/96 vom 22. Juni 1999, in: VPB 2000 Nr. 138 S.
1341, betreffend BGE 122 V 157). Ebenso wenig Anstoss genommen haben die
Strassburger Organe an der Rechtsprechung, die ein abschliessendes Abstellen
auf MEDAS-Gutachten erlaubt (bereits erwähnter Nichtzulassungsentscheid der
EKMR 39759/98 vom 20. April 1998, in: VPB 1998 Nr. 95 S. 917, betreffend BGE
123 V 175). Kann das Verfahren insgesamt als fair qualifiziert werden, so
bedeutet auch die Ablehnung des Antrages einer Partei auf Einholung eines
Gerichtsgutachtens über einen streitigen Sachverhalt keine Verletzung von Art.
6 Ziff. 1 EMRK (Urteil des EGMR H. gegen Frankreich vom 24. Oktober 1989, Serie
A Bd. 162 §§ 61 ff.).
Unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit ist es somit grundsätzlich
zulässig, dass ein Gericht auf die vom Versicherungsträger korrekt erhobenen
Beweise abstellt und auf ein eigenes Beweisverfahren verzichtet, sofern das
rechtliche Gehör in allen seinen Teilaspekten gewahrt bleibt (BGE 135 V 465 E.
4.3.2 S. 469). Ebenso wenig erfordert der Anspruch auf Zugang zu einer
unabhängigen gerichtlichen Instanz im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, deren
Überprüfungsbefugnis auch den Sachverhalt umfasst, dass anlässlich einer
gerichtlichen Überprüfung in jedem Fall ein Gerichtsgutachten eingeholt wird.

2. Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben die Entwicklungen im Bereich
der IV-Begutachtungen in den letzten Jahren mit zunehmender Sorge verfolgt
(vgl. die im Geschäftsbericht 2009 des Bundesgerichts gemachten Ausführungen,
S. 16). Der Fall der Beschwerdeführerin bietet Anlass, die dargelegte Sach- und
Rechtslage im Umfeld der MEDAS im Lichte der wesentlich auf das Rechtsgutachten
MÜLLER/REICH abgestützten Rügen einer näheren Prüfung zu unterziehen.
BGE 137 V 210 S. 229

2.1

2.1.1 Sowohl auf der Stufe der Verwaltung wie auf derjenigen der Gerichte sind
das Untersuchungsprinzip (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) und die
verfassungsrechtlich garantierten (Art. 29 ff. BV), gesetzlich
bereichsspezifisch verankerten Partizipationsrechte zu respektieren. Unter
Letztere fallen namentlich das rechtliche Gehör (Art. 42 ATSG; BGE 132 V 368),
die Mitwirkung bei der gutachtlichen Abklärung des medizinischen Sachverhalts
(Art. 44 ATSG) und die Akteneinsicht (Art. 47 ATSG; SVR 2010 IV Nr. 14 S. 44,
8C_576/2009 E. 2.2 und 2.3). Diese Beteiligungsrechte müssen so ausgestaltet
sein, dass die in Verfassung und EMRK enthaltenen Garantien des fairen
Verfahrens (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 1 und 2 sowie Art. 30 Abs. 1 BV)
insgesamt gewährleistet sind. Zu einem fairen Verfahren gehört ferner der
Grundsatz der freien Beweiswürdigung (für das Verwaltungsverfahren: Art. 55
ATSG i.V.m. Art. 19 VwVG [SR 172.021] und Art. 40 BZP [SR 273]; für das
erstinstanzliche Beschwerdeverfahren: Art. 61 lit. c ATSG).

2.1.2

2.1.2.1 Auch der Grundsatz der prozessualen Chancengleichheit
("Waffengleichheit") ist Ausdruck des Fairnessgebots. Er betrifft den Anspruch
der versicherten Person, nicht in eine prozessuale Lage versetzt zu werden, aus
der heraus sie keine vernünftige Chance hat, ihre Sache dem Gericht zu
unterbreiten, ohne gegenüber der anderen Partei klar benachteiligt zu sein (BGE
135 V 465 E. 4.3.1 S. 469 in fine mit Hinweis auf die Urteile des EGMR Steel
und Morris gegen Vereinigtes Königreich vom 15. Mai 2005, Recueil CourEDH
2005-II S. 45 § 62, und Yvon gegen Frankreich vom 24. April 2003, Recueil
CourEDH 2003-V S. 29 § 31; RENÉ WIEDERKEHR, Fairness als Verfassungsgrundsatz,
2006, S. 25 ff.). Dieses formale Prinzip ist schon dann verletzt, wenn eine
Partei bevorteilt wird; nicht notwendig ist, dass die Gegenpartei dadurch
tatsächlich einen Nachteil erleidet (Urteil 1P.14/2005 vom 28. Februar 2005 E.
3.4, mit Hinweis auf MARK VILLIGER, Handbuch der EMRK, 2. Aufl. 1999, Rz. 480).
Das Gebot der Waffengleichheit gebietet jedoch "keinen umfassenden Ausgleich
verfahrensspezifischer Unterschiede in der Rollenverteilung" (so - in einem
strafprozessrechtlichen Zusammenhang - das Urteil des deutschen
Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 2044/07 vom 15. Januar 2009, Absatz-Nr. 78).

2.1.2.2 Im vorliegend interessierenden Zusammenhang hat das Bundesgericht aus
dem Prinzip der Waffengleichheit über eine formale
BGE 137 V 210 S. 230
Gleichheit der prozessualen Rechtspositionen der Prozessparteien hinaus auch
eine durch das Gericht zu verwirklichende materielle Gleichwertigkeit der
Parteien im Sinne einer prozessualen Chancengleichheit abgeleitet. Im Verfahren
um Sozialversicherungsleistungen besteht ein relativ hohes Mass an Ungleichheit
der Beteiligten (zu Gunsten der Verwaltung), indem einer versicherten Person
mit oftmals nur geringen finanziellen Mitteln eine spezialisierte
Fachverwaltung mit erheblichen Ressourcen, besonders ausgebildeten
Sachbearbeitern und juristischen und medizinischen Fachpersonen gegenübersteht
(BGE 135 V 465 E. 4.3.6). Im deutschen Sozialversicherungsprozess muss - als
Ausgleich dafür, dass die Versicherungsträger im Verwaltungsverfahren in der
Regel Ärzte ihrer Wahl beiziehen - auf Antrag des Versicherten hin unter
bestimmten Voraussetzungen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden (§ 109
Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]; BLEY, in: Gesamtkommentar
Sozialversicherung, SGG, Baumeister und andere [Hrsg.], 1994, S. 922 ad § 109
SGG); ein solches (gerichtliches) Gutachten hat nicht grundsätzlich einen
geringeren Beweiswert, wenn es vom behandelnden Arzt erstattet worden ist. Die
Beurteilung der Kostenübernahmepflicht erfolgt nicht allein nach dem Ausgang
des Rechtsstreits, sondern entscheidend danach, ob das Gutachten zur weiteren
Sachaufklärung beigetragen hat (STEFFEN ROLLER, in: Handkommentar zum
Sozialgerichtsgesetz, Lüdtke [Hrsg.], 3. Aufl. 2009, N. 1 ff. ad § 109 SGG;
KLAUS NIESEL, Der Sozialgerichtsprozess, 2. Aufl. 1991, S. 55 ff.).

2.1.2.3 Werden strukturelle Nachteile festgestellt, von welchen
Leistungsansprecher der Sozialversicherung typischerweise betroffen sind,
bedarf es gegebenenfalls struktureller Korrektive. Prozessuale
Chancengleichheit darf aber nicht dahin missverstanden werden, gestützt auf das
Fairnessgebot könnten prozessuale Ansprüche geltend gemacht werden, um die
objektive materielle Rechtsstellung im Einzelfall zu verbessern;
Waffengleichheit meint nicht Gleichwertigkeit der materiellen Erfolgschancen
(vgl. für das deutsche Recht: AXEL TSCHENTSCHER, Indienstnahme der Gerichte für
die Effizienz der Verwaltung, in: Funktionen und Kontrolle der Gewalten, Demel
und andere [Hrsg.], Giessen 2001, S. 176).

2.1.2.4 Das aus der Bundesverfassung und aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK fliessende
Gebot des fairen Verfahrens muss im Verlauf des funktionellen Instanzenzuges
insgesamt eingehalten werden. In diesem Sinne entfaltet Art. 6 Ziff. 1 EMRK
Vorwirkungen auf das der gerichtlichen Instanz vorgelagerte
Verwaltungsverfahren (ULRICH
BGE 137 V 210 S. 231
MEYER-BLASER, Der Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK] auf
das schweizerische Sozialversicherungsrecht, ZSR113/1994 I S. 389 ff.,
insbesondere S. 401; vgl. oben E. 1.4). Die Beurteilung der Waffengleichheit
und Verfahrensfairness kann also nicht nach der Ausgestaltung einer Ebene -
Administrativ-, erst- oder zweitinstanzliches Beschwerdeverfahren - allein
beurteilt werden. In der erforderlichen Gesamtbetrachtung - insbesondere zur
Beurteilung der Frage, wie mit Administrativgutachten im gerichtlichen Prozess
im Lichte verfassungs- und konventionsrechtlicher Gehörs-, Beteiligungs- und
Fairnessanforderungen umzugehen sei - spielt eine wichtige Rolle, inwieweit
Parteirechte im vorangegangenen Verwaltungsverfahren verwirklicht worden sind.

2.1.3 Im Verwaltungsverfahren müssen Personen, die Entscheidungen über Rechte
und Pflichten zu treffen oder vorzubereiten haben, darunter auch
Sachverständige, in den Ausstand treten, wenn sie in der Sache ein persönliches
Interesse haben oder aus anderen Gründen in der Sache befangen sein könnten
(Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 36 Abs. 1 ATSG; vgl. auch Art. 10 Abs. 1 VwVG und Art.
34 BGG i.V.m. Art. 19 VwVG und Art. 58 Abs. 1 BZP; BGE 120 V 357 E. 3a S. 364).
Im gerichtlichen Verfahren hat nach Art. 30 Abs. 1 BV jede Person unter anderem
Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Die durch Verfassung
und Konvention gewährleistete Unabhängigkeit des Gerichts als Staatsorgan
stellt sicher, dass der privaten Partei im Verwaltungsprozess kein Nachteil
erwächst, wenn der Staat (gegebenenfalls in Form der dezentralisierten
mittelbaren Staatsverwaltung) prozessual Gegenpartei ist. Das Gericht zieht
Sachverständige bei, soweit zur Aufklärung des Sachverhaltes besondere
Fachkenntnisse erforderlich sind (vgl. Art. 57 Abs. 1 Satz 1 BZP). Da Gutachten
wegen dieser Hilfsfunktion oft ein bestimmendes Element des rechtlichen
Erkenntnisses bilden, müssen medizinische Sachverständige grundsätzlich
gleichermassen unabhängig und unparteilich sein wie die Richterinnen und
Richter (vgl. BGE 132 V 93 E. 7.1 S. 109; BGE 120 V 357 E. 3b in fine S. 367;
LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 422). Sichergestellt werden soll dadurch, dass ein
Gutachten nicht durch sachfremde, ausserhalb des Verfahrens liegende Umstände
beeinflusst wird (vgl. BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240). Diese elementare
rechtsstaatliche Anforderung gilt auch für medizinische Administrativgutachten,
sobald sie die Grundlage für die verfügungsweise Entscheidung über einen
geltend gemachten Rechtsanspruch bilden, und erst recht, wenn sie im
anschliessenden
BGE 137 V 210 S. 232
Beschwerdeverfahren als Basis gerichtlicher Beurteilung verwendet werden. Die
formelle Natur der Verletzung des Anspruchs auf einen unabhängigen Experten
führt dazu, dass ein Gutachten, das die erforderlichen Attribute nicht
aufweist, als Beweismittel auszuschliessen ist, unabhängig davon, wie es sich
mit den materiellen Einwendungen tatsächlich verhält (BGE 125 II 541 E. 4d S.
546; BGE 120 V 357 E. 3b in fine S. 367).

2.2

2.2.1 Die Beschwerdeführerin macht unter Berufung auf das Rechtsgutachten
MÜLLER/REICH geltend, die Zugrundelegung der von der IV-Stelle eingeholten
Expertise der MEDAS im Beschwerdeverfahren verletze Verfassung und Konvention.
Die Rechtsgutachter gehen davon aus, die IV-Stellen würden aufgrund ihrer
Beschwerdelegitimation im bundesgerichtlichen Verfahren (Art. 62 Abs. 1^bis
ATSG und Art. 89 IVV i.V.m. Art. 201 Abs. 1 Satz 1 AHVV [SR 831.101])zur
Partei. Die beigezogenen MEDAS-Administrativgutachten seien folglich als
Beweismittel einer Partei zu betrachten, womit dem gesamten Abklärungsverfahren
der Anschein der Einseitigkeit anhafte. Dies stelle die konventionsrechtlich
geforderte Fairness und Waffengleichheit in Frage, zumal die externen
Gutachterstellen von der Invalidenversicherung wirtschaftlich abhängig seien.

2.2.2 Das Bundesgericht hat in BGE 136 V 376 dargelegt, dass diese Kritik im
Ansatz unzutreffend ist, weil sie die verfassungs- und gesetzesrechtlichen
Grundlagen der schweizerischen Verwaltungsrechtspflege ausblendet. Danach
handelt die IV-Stelle im Verwaltungsverfahren nicht als Partei, sondern als zur
Neutralität und Objektivität verpflichtetes Organ des Gesetzesvollzugs. Solange
kein Beschwerdeverfahren angehoben ist, läuft ein Einparteienverfahren mit dem
Leistungsgesuchssteller als Partei und der IV-Stelle als Behörde, welche nach
den Grundsätzen des Amtsbetriebes die Herrschaft über das Verfahren innehat.
Nach dem Übergang zum Anfechtungsstreitverfahren wird die Verwaltung zwar im
prozessualen Sinne zur Partei; sie bleibt lite pendente indessen weiterhin an
die rechtsstaatlichen Grundsätze (Art. 5 BV) gebundenes, der Objektivität und
Neutralität verpflichtetes Organ. Daher hat sie nicht auch im materiellen Sinn
Parteieigenschaft. Von dieser Rechtslage geht die Judikatur über die
Beweiskraft versicherungsmedizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351;
BGE 122 V 157) aus. Sind formell einwandfreie und materiell schlüssige (das
heisst beweistaugliche und beweiskräftige) medizinische Entscheidungsgrundlagen
des
BGE 137 V 210 S. 233
Versicherungsträgers (Administrativgutachten) vorhanden, so besteht daher nach
der Rechtsprechung kein Anspruch auf eine gerichtliche Expertise (BGE 135 V 465
E. 4 S. 467). Gemäss der Rechtsauffassung, wie sie in der gesetzlichen Ordnung
über die Amtsermittlungspflicht des Sozialversicherungsträgers zum Ausdruck
kommt, wird Beweis über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche schwergewichtig
auf der Stufe des Administrativverfahrens geführt, nicht im gerichtlichen
Prozess. Hierin liegt eine Grundentscheidung des Gesetzgebers, deren Abänderung
im formellen Gesetz vollzogen werden müsste (vgl. Art. 164 Abs. 1 lit. e-g BV).
Die Verwaltung ist aufgrund von Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG immer dann zur
Beschwerde berechtigt, wenn der angefochtene Akt die Bundesgesetzgebung in
ihrem Aufgabenbereich verletzen kann. Aus der formellen Parteieigenschaft der
Durchführungsstelle im gerichtlichen Prozess bzw. der Legitimation zur Erhebung
von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann offensichtlich
nicht gefolgert werden, auch die Beweiserhebungen der IV-Stelle im
(vorausgehenden) nichtstreitigen Verfahren bis zum Verfügungserlass seien
Handlungen einer (formellen) Partei, womit das spätere gerichtliche Abstellen
hierauf gegen die Verfassung oder die EMRK verstiesse (E. 1.3.2).

2.2.3 Die grundsätzliche Verfassungs- und Konventionsmässigkeit der Beschaffung
medizinischer Entscheidungsgrundlagen durch externe Gutachtensinstitute in der
schweizerischen Invalidenversicherung bestätigt ein rechtsvergleichender
Ausblick. Danach kann - eine zweifellos in die Kompetenz des nationalen
Gesetzgebers fallende Grundentscheidung - die medizinische Sachkompetenz
entweder bei der entscheidenden Behörde selber liegen oder bei zur Entscheidung
im Einzelfall beizuziehenden Sachverständigen.

2.2.3.1 In einer grundlegenden rechtsvergleichenden Studie des Münchner
Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht
(REINHARD/KRUSE/VON MAYDELL, Rechtsvergleich, in: Invaliditätssicherung im
Rechtsvergleich, Baden-Baden 1998) findet sich zur Frage, in welcher
organisatorischen Form die Sachverständigen arbeiten, Folgendes:
"Eine Variante besteht darin, dass sie in Diensten des Leistungsträgers stehen
(z.B. Spanien, Niederlande). Dies muss jedoch eine gewisse sachliche
Unabhängigkeit nicht ausschliessen. Eine andere Variante kann sein, dass eine
auch organisatorisch unabhängige Institution geschaffen wird bzw. besteht, die
in der Art eines assessment centers (...) über das Vorliegen von Invalidität
entscheidet, bevor dann das Verfahren beim und vom Leistungsträger
abgeschlossen wird. Schliesslich kommt die fallweise Hinzuziehung frei
praktizierender Sachverständiger in Betracht.
BGE 137 V 210 S. 234
Die beiden letztgenannten Lösungen bieten sich insbesondere dann an, wenn man
ohnehin den Sachverständigen eine eigenständige, nicht lediglich 'zuarbeitende'
Rolle zugedacht hat. Sie werfen allerdings - trotz eines auf den ersten Blick
in eine andere Richtung deutenden Anscheins - ebenfalls die Frage nach der
Unabhängigkeit der Sachverständigen auf. Denn diese können einerseits
ungeachtet ihrer organisatorischen Selbständigkeit vom Leistungsträger (z.B.
wirtschaftlich) abhängig sein; andererseits ist - je nach nationaler
'Marktsituation' - aber durchaus auch eine Abhängigkeit vom betroffenen
Anspruchsteller möglich, wenn dieser, wie z.B. in den USA, das Recht zur
Auswahl von Sachverständigen hat. In einer solchen Konstellation besteht die
Gefahr, dass 'Gefälligkeitsgutachten' erstellt werden" (a.a.O., S. 740).

2.2.3.2 Österreich
Nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) stellt der
Sozialversicherungsträger die medizinischen Leistungsvoraussetzungen fest,
indem er Untersuchungen in einer Krankenanstalt anordnet oder, wie in der
Unfallversicherung üblich, Abklärungen durch angestellte Ärzte vornehmen lässt
(§ 366 Abs. 1 ASVG; OTMAR NIEDERBERGER, Die Kritik aus Sicht des Versicherers,
in: Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Begutachtung, Murer [Hrsg.],
2010, S. 140).

2.2.3.3 Frankreich
In der Invaliditätsversicherung der französischen sécurité sociale liegt die
Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Invaliditätskriterien
allein beim médecin conseil (Kassenarzt, Vertrauensarzt, medizinischer Dienst
des Versicherungsträgers). Dessen Stellungnahme bindet die Kassen, wenn sie
einen medizinischen Charakter aufweist. Die auf die Dezentralisierung bei der
Feststel-lung der Invalidität zurückzuführende Monopolstellung des über eine
spezielle Ausbildung verfügenden médecin conseil ist im Prinzip keiner
Kontrollinstanz unterworfen. Unter den médecins conseil wird, vor allem zum
Zweck einer Gleichbehandlung der Antragsteller, ein Informationsaustausch
gepflegt. Der begutachtende Arzt kann den fachlichen Rat anderer Experten, so
zum Beispiel von Psychiatern, einholen (OTTO KAUFMANN, Landesbericht
Frankreich, in: Reinhard/Kruse/von Maydell [Hrsg.], a.a.O., S. 170 und 179 f.).
Nach dem französischen Code de la sécurité sociale darf ein Gerichtsgutachten
weder bei einem behandelnden Arzt noch bei einem solchen, der für den
Sozialversicherungsträger eine ständige Funktion ausübt, in Auftrag gegeben
werden (Art. R. 143-34). Diese Vorschrift ist vor dem Hintergrund von Art. L.
141-2 zu verstehen, wonach die gutachtliche Schlussfolgerung ( avis technique )
für die
BGE 137 V 210 S. 235
Parteien verbindlich ist, wenn sie von einem Sachverständigen stammt, der vom
behandelnden Arzt und dem médecin conseil gemeinsam ernannt, oder, bei
andauernder Uneinigkeit, von einer Aufsichtsbehörde aus dem Kreis der auf einer
entsprechenden Liste aufgeführten Experten ausgewählt worden ist (Art. R.
141-1). Dabei handelt es sich um ein gesondertes Verfahren, welches ein
Streitverfahren verhindern helfen soll (JEAN-PIERRE LABORDE, Droit de la
sécurité sociale, 2005, S. 230). Der Richter selber ist nicht auswahlbefugt
(JEAN-PIERRE CHAUCHARD, Droit de la sécurité sociale, 4. Aufl. 2005, S. 274 Fn.
98). Angesichts der bindenden Wirkung der regelgerecht zustandegekommenen,
klaren und eindeutigen Schlussfolgerungen eines Gutachtens kommt diese Ordnung
einem "medizinischen Schiedsspruch" ( arbitrage médical ) gleich (JEAN-JACQUES
DUPEYROUX, Droit de la sécurité sociale, 15. Aufl. 2005, S. 568 f. Rz. 781).
Wurde keine neue Begutachtung verlangt, kann auch das Gericht von solchen
Schlussfolgerungen nicht abweichen (PATRICK MORVAN, Droit de la protection
sociale, 4. Aufl. 2009, S. 478 f. Rz. 713 f.; FRANCIS KESSLER, Droit de la
protection sociale, 2. Aufl. 2005, S. 616).

2.2.3.4 Italien
Der Versicherungsträger der italienischen Rentenversicherung, der Istituto
Nazionale della Previdenza Sociale (INPS), bei welchem ein grosser Teil der
Arbeitnehmer des privaten Sektors pflichtversichert ist, entscheidet, ob die
vom Versicherten beigebrachten Gesundheitszeugnisse oder die bereits bei ihm
vorhandenen Unterlagen für eine Entscheidung über die Leistungsbewilligung (in
deren Rahmen auch über die Feststellung der gesundheitlichen Beeinträchtigung
befunden wird) ausreichen. Ist eine weitere Abklärung erforderlich, so wird der
Gesundheitszustand der versicherten Person in vom INPS unterhaltenen
Ambulatorien, gegebenenfalls auch durch von diesen herangezogene externe
Spezialisten, begutachtet. Das rechtsmedizinische Gutachten mündet in einen
Entscheidungsvorschlag an den Versicherungsträger (EVA-MARIA HOHNERLEIN,
Landesbericht Italien, in: Reinhard/Kruse/von Maydell [Hrsg.], a.a.O., S. 240,
273 f. und 294). In der Praxis ist häufig ein besonderes Verfahren anzutreffen,
in dem eine Begutachtung durch einen INPS-eigenen Arztund einen von der
versicherten Person selbst benannten Arzt durchgeführt wird, die sich als
collegiale medica (ärztliche Schiedsstelle) auf einen gemeinsamen Befund
einigen (HOHNERLEIN, a.a.O., S. 294; vgl. E. 3.1.3.1).
BGE 137 V 210 S. 236

2.2.3.5 Niederlande
Träger der holländischen Invaliditätssicherung sind die sogenannten
Betriebsvereinigungen, Körperschaften des öffentlichen Rechts, die von den
Sozialpartnern für einen oder mehrere Sektoren der Wirtschaft errichtet werden.
Das Sozialversicherungsorganisationsgesetz überträgt ihnen die Verantwortung
für das gesamte Leistungsgeschehen vom erstmaligen Auftreten einer
Arbeitsunfähigkeit über die medizinische und berufskundliche Feststellung der
Erwerbsunfähigkeit bis zur Einleitung von Reintegrationsmassnahmen. Die
Feststellung des medizinischen Befunds erfolgt durch den Versicherungsarzt der
Betriebsvereinigung, einen Facharzt für Versicherungsmedizin (UTE KÖTTER,
Landesbericht Die Niederlande, in: Reinhard/Kruse/von Maydell [Hrsg.], a.a.O.,
S. 348 f. und 353).

2.2.3.6 Spanien
In der spanischen Seguridad Social erarbeitet ein Arzt der den
Provinzdirektionen der Spanischen Sozialversicherungsanstalt (Instituto
Nacional de Seguridad Social, INSS) unterstehenden Equipos de Valoración de
Incapacidades (EVI) unter Berücksichtigung anderer ärztlicher Unterlagen einen
Gutachtensvorschlag mit einem medizinischen Synthesebericht. Die
Provinzdirektion des INSS ist ermächtigt, mit spezialisierten Zentren und
Einrichtungen Vereinbarungen über die Erstellung ergänzender Gutachten,
Berichte oder Nachweise zu treffen (HANS-JOACHIM REINHARD, Landesbericht
Spanien, in: Reinhard/Kruse/von Maydell [Hrsg.], a.a.O., S. 517 f. und 541).

2.3 Im Hinblick auf die Ermittlung des medizinischen Sachverhalts sind die
MEDAS gesetzlich (Art. 59 Abs. 3 IVG) vorgesehene Hilfsorgane der
Invalidenversicherung. Als solche unterliegen sie gleich wie die IV-Stellen
selber dem verfassungsmässigen Gebot eines neutralen und objektiven
Gesetzesvollzugs. Institutionell wird die Eigenschaft der Neutralität und
Objektivität durch die selbständige Stellung der MEDAS gestützt. Ihre
Selbständigkeit zeigt sich darin, dass sie in ganz verschiedenen, selber
gewählten Rechtsformen auftreten und auf unterschiedlichen Trägerschaften
beruhen; sodann werden sie vom BSV weder fachlich beaufsichtigt (vgl. Art. 64a
IVG), noch sind sie im Einzelfall weisungsgebunden. Ihre Kosten werden
naheliegenderweise aus der IV-Rechnung gedeckt, weshalb sie mit dem BSV auf
tarifvertraglicher Grundlage zusammenarbeiten (zu der daraus sich ergebenden
Problematik vgl. aber unten E. 3.1.2).
BGE 137 V 210 S. 237
Unter diesen Umständen kann das Gebot der Verfahrensfairness nicht allein durch
den Umstand verletzt sein, dass gutachtliche und andere medizinische
Erkenntnisse aus dem Administrativverfahren die wesentliche tatsachenbezogene
Entscheidungsgrundlage für die gerichtliche Überprüfung des Verwaltungsaktes
bilden. Die Konzeption, wonach ein Gericht auf die vom Versicherungsträger
korrekt erhobenen Beweise abstellen und auf ein eigenes Beweisverfahren
verzichten darf, bleibt grundsätzlich vereinbar mit Völker- und Bundesrecht (
BGE 135 V 465 E. 4.3.2 S. 469). Aus der Rechtsvergleichung ergibt sich keine im
europäischen Raum allgemein anerkannte einheitliche Rechtsauffassung, dass über
streitige Sozialleistungen nur aufgrund eines gerichtlichen Beweisverfahrens
abschliessend entschieden werden dürfte (unten E. 4.3). Eine andere Frage ist,
wie es sich verhält, wenn ein Gericht die ursprüngliche Beweisgrundlage einmal
verworfen hat (dazu unten E. 4.4).

2.4 Zu prüfen ist weiter der Einwand im Rechtsgutachten MÜLLER/REICH, im
Ertragspotential ihrer Tätigkeit in Verbindung mit dem Wissen um die
Zielvorgabe der Invalidenversicherung, den Rentenbestand zu senken, liege eine
potentielle Gefährdung der inneren Unabhängigkeit der externen Gutachter. Auch
wenn die Neutralität und Objektivität des Versicherungsträgers und, von diesem
abgeleitet, der externen Gutachter gesetzlich angelegt ist (oben E. 2.2), so
gewährleistet dieser Rechtsumstand in der Tat - namentlich mit Blick auf die
ungleiche Ressourcenverteilung (vgl. BGE 135 V 465 E. 4.3.1 S. 468; oben E.
2.1.2.2) - nicht zwangsläufig auch faktisch, dass im nachfolgenden
gerichtlichen Verfahren die Argumente und Beweise beider Seiten annähernd
gleich viel Gewicht erhalten. Die oben behandelten funktionellen Gegebenheiten
entkräften als solche nicht jede Besorgnis, die Spiesse im Verfahren zur
Ermittlung des Leistungsanspruchs in der Invalidenversicherung könnten im Laufe
der letzten Jahre ungleich lang geworden sein, was zunächst unter dem Aspekt
der Verfahrensgrundrechte problematisch wäre. Auch dürfen in der Erhebung und
Würdigung von (medizinischen) Tatsachen dialektische Elemente nicht
vernachlässigt werden, weil sie die Richtigkeit des Ergebnisses begünstigen
können. Daher wurde mit der durchgeführten Instruktion, insbesondere der
Anfrage an die MEDAS vom 13. Dezember 2010, den wichtigsten systemischen
Gegebenheiten nachgegangen, welche die rechtlich gewährleistete Unabhängigkeit
der MEDAS in Frage stellen könnten mit der Folge, dass strukturelle
Ungleichheiten in eine verfassungs- oder
BGE 137 V 210 S. 238
konventionsrechtlich zu beanstandende Waffenungleichheit umzuschlagen drohen.

2.4.1 Was die Auftragsvergabe anbelangt, wählen die IV-Stellen die zu
beauftragende Gutachterstelle frei aus. Das Fehlen eines diesbezüglichen
Regulativs hat, namentlich mit Bezug auf die Minimierung der Wartezeiten, den
Vorteil der Flexibilität, was der Raschheit des Verfahrens zugute kommt. Das
Risiko ist nicht auszuschliessen, dass Gutachtern Aufträge vorenthalten werden
könnten, weil sie angeblich häufiger als andere Arbeitsunfähigkeiten
attestieren, die zu Leistungsansprüchen führen (vgl. JACQUES OLIVIER PIGUET, Le
choix de l'expert et sa récusation: le cas particulier des assurances sociales,
HAVE 2011 S. 134 f.; den Aspekt der Waffengleichheit ausklammernd Ziff. 6 der
bundesrätlichen Antwort vom 29. November 2006 auf die am 5. Oktober 2006
eingereichte Interpellation Bruderer Nr. 06.3518, wonach die MEDAS keinen
finanziellen Anreiz haben, Gutachten zu erstellen, welche Basis für eine
Abweisung des Leistungsgesuches bilden, da solche Kriterien nicht zu den
Qualitätsanforderungen einer Begutachtung gehören).
Die naheliegende Vorkehr, die MEDAS gleichmässig mit Aufträgen zu versehen,
scheitert von vornherein an deren sehr unterschiedlichen Grösse. Das BSV hielt
die MEDAS in den vergangenen Jahren regelmässig an, ihre Kapazitäten zu
erhöhen, was bei einigen Instituten erhebliche Investitionen auslöste. Der
Umstand, dass den Instituten im Gegenzug keine Planungssicherheit gewährleistet
werden konnte, ist grundsätzlich geeignet, die wirtschaftliche Abhängigkeit von
den IV-Stellen zu verstärken. Dass die achtzehn MEDAS, wie aufgrund ihrer
gesetzlichen Aufgabe von vornherein anzunehmen war, tatsächlich von der
Invalidenversicherung wirtschaftlich abhängig sind, hat sich aufgrund der
Antworten auf die instruktionsrichterliche Anfrage vom 13. Dezember 2010 klar
bestätigt. Danach liegt der Median der Anteile (Durchschnittswerte der letzten
fünf bis sechs Jahre bzw. der in diesen Zeitraum fallenden Aktivitätsjahre) von
Aufträgen der IV-Stellen im Bereich von 85 bis 90 Prozent (Daten von fünfzehn
MEDAS waren diesbezüglich verwertbar).

2.4.2 Aufgrund der für alle MEDAS und für alle polydisziplinären Gutachten
vereinbarten identischen Auftragspauschale besteht systemimmanent die Gefahr
eines Fehlanreizes in qualitativer Hinsicht, weil eine möglichst einfache
Erledigung Kapazitäten für weitere (pauschal entschädigte) Begutachtungen
schafft. Das Fehlen einer Abstufung für leichtere und schwierigere Fälle in der
BGE 137 V 210 S. 239
geltenden Entschädigungsregelung birgt das Risiko in sich, dass der
Versicherungsträger nicht, wie in Art. 43 Abs. 1 ATSG ausdrücklich
vorgeschrieben, alle notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vornimmt
respektive von den beauftragten Abklärungsstellen alle entscheidungserheblichen
Angaben in der erforderlichen Qualität erhält; man denke etwa an besondere
diagnostische Vorkehren, welche den Aussagegehalt des Gutachtens wesentlich
erhöhen. Zum Problem trägt auch bei, dass Zusatzaufwendungen wie
Dolmetscherentschädigungen in der Pauschale bereits enthalten sind.

2.4.3 Die MEDAS erfüllen eine öffentliche Aufgabe. Zwischen dem beauftragenden
Sozialversicherungsträger und der Begutachtungsstelle entsteht dementsprechend
ein Rechtsverhältnis des öffentlichen Rechts (BGE 134 I 159 E. 3 S. 163 mit
weiteren Hinweisen; UELI KIESER, Begutachtungen im Versicherungsrecht - ein
Vorschlag für eine Neukonzeption, in: Festschrift Schweizerische Gesellschaft
für Haftpflicht- und Versicherungsrecht, 2010, S. 312 f.). Einerseits gehören
die MEDAS funktionell dem Abklärungsapparat einer staatlichen Einrichtung an.
Anderseits haben sie sich teilweise in Rechtsformen gewinnorientierter
Kapitalgesellschaften privater Eigentümer konstituiert. Daraus kann ein
systeminhärentes Spannungsverhältnis zu ihrer im öffentlichen Interesse
liegenden Aufgabe entstehen. Die Gewinnorientierung in Verbindung mit einer
allfälligen Erwartung der Auftraggeberin kann mit anderen Worten eine
gutachterliche Aufgabenerfüllung begünstigen, die nicht mehr ausschliesslich
dem gesetzlichen Auftrag verpflichtet wäre.

2.4.4 Potentielle Risiken für sachfremde Einflüsse auf die gutachterliche
Unabhängigkeit und auf die Gutachtenergebnisse können zur eigentlichen
Gefährdung werden, falls die Auftragsvergabe an externe Gutachterstellen und
der Umgang mit erstatteten Expertisen durch eine nicht rechtlich determinierte
Zielorientierung überlagert werden sollte. Die 4. und 5. Revision des IVG sowie
der (am 18. März 2011 in der Schlussabstimmung beider Räte verabschiedete)
erste Teil der 6. IVG-Revision verfolgen wesentlich das Ziel einer Reduktion
des Rentenbestandes, um das finanzielle Gleichgewicht der Invalidenversicherung
wiederherzustellen (vgl. dazu die Botschaft vom 24. Februar 2010 zur Änderung
des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [6. IV-Revision, erstes
Massnahmenpaket], BBl 2010 1831 ff. Ziff. 1.1.2 und 1839 ff. Ziff. 1.3.1). Für
die gutachtliche Praxis bedeutet dies, dass die
BGE 137 V 210 S. 240
versicherungsmedizinischen Prämissen der Begutachtung entsprechend den
veränderten gesetzlichen Vorgaben modifiziert werden müssen. Unzulässig ist
eine zielorientierte Steuerung von medizinischen Feststellungsprozessen
(beispielsweise bei der Auswahl der Experten) hingegen, wenn sie sachfremd
erscheint, weil sie nicht im Zusammenhang von (geänderter) Rechtsgrundlage und
versicherungsmedizinischer Umsetzung im Rahmen anerkannter medizinischer
Erkenntnisse erfolgt. Dabei ist nicht entscheidend, ob eine (bewusst)
ergebnisgesteuerte Auftragsvergabe in signifikantem Ausmass tatsächlich
vorkommt. Es genügt, wenn - aufgrund der dargestellten systemischen
Einfallstore für Gefährdungen der Unabhängigkeit - ein ernstzunehmendes Risiko
und damit eine objektiv begründete Befürchtung besteht, die Gutachterstellen
könnten sich, jedenfalls in gutachtlichen Zweifels- und Ermessensbereichen,
nicht allein von fachlichen Gesichtspunkten, sondern eben auch von den
(vermeintlichen) Erwartungen der Auftraggeberschaft leiten lassen (für
Deutschland: FRANKE/GAGEL, Der Sachverständigenbeweis im Sozialrecht, 2009, S.
46 f.; zum Druck, dem Gutachterinnen und Gutachter bisweilen ausgesetzt sind,
Forschungsbericht Nr. 4/08 des BSV [Der Einsatz von Beschwerdevalidierungstests
in der IV-Abklärung], S. XII, 53 und 65; zur markant unterschiedlichen
Akzeptanz der Gutachtenqualität durch Primär-[Auftraggeber] und Sekundärnutzer
CHRISTIAN A. LUDWIG, Gutachtenqualität im Unfallversicherungsbereich, SUVA Med.
Mitteilungen Nr. 77/2006 S. 11 f.; zur Problematik der second opinion und des
"Gutachtershopping" SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111, U 571/06 E. 4.2).

2.5 Zu prüfen ist im Folgenden, auf welche Weise den dargelegten latent
vorhandenen Gefährdungen der Verfahrensfairness entgegengetreten werden kann.
In Betracht fallen zunächst direkt an der Gutachtenserstellung ansetzende
Massnahmen wie die Formulierung qualitätsbezogener Leitlinien, welche
Vollständigkeit und sachgerechten Ablauf der Begutachtung sicherstellen. In
seiner Vernehmlassung weist das BSV auf verschiedene Vorkehrungen zur
Qualitätssicherung hin, die bereits auf den Weg gebracht worden sind. Ein
Projekt betrifft in der Tat die Verbesserung der Qualität von Gutachten mittels
standardisierten Leitlinien. Weiter unterstützt das Bundesamt verschiedene
Initiativen zur Aus- und Weiterbildung im medizinischen Gutachterwesen und
fördert die Forschung, etwa im Rahmen einer Qualitätsanalyse medizinischer
Gutachten. Im Hinblick auf neue Tarifverträge mit
BGE 137 V 210 S. 241
den MEDAS werden Zulassungskriterien erarbeitet. In diesem Zusammenhang ist das
BSV nach eigenen Angaben bestrebt, die statistischen Grundlagen hinsichtlich
der MEDAS-Begutachtungen zu verbessern. Dies allein genügt indessen nicht. Denn
der Rechtsanwender ist mangels ausreichender Fachkenntnisse nicht immer in der
Lage, in formal korrekt abgefassten Gutachten objektiv-fachliche Mängel zu
erfassen. Das Ziel, möglichst beweistaugliche gutachtliche Aussagen zu
erhalten, muss daher notgedrungen auch indirekt, durch Modifikationen der
verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen, verfolgt werden.
Die besondere Bedeutung der Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit der
Einholung und Würdigung medizinischer Gutachten ist daran zu ermessen, dass
diese den Leistungsentscheid prägen, gerade weil sie aufgrund ihrer
Fachspezifität faktisch vorentscheidenden Charakter haben. Das Bedürfnis nach
einer entsprechenden Sicherung durch geeignete Ausgestaltung des Verfahrens
wird verstärkt durch die grosse Streubreite der Möglichkeiten, einen Fall zu
beurteilen, und die dementsprechend geringe Vorbestimmtheit der Ergebnisse
(vgl. dazu die Studie von DICKMANN/BROOCKS, Das psychiatrische Gutachten im
Rentenverfahren - wie reliabel-, in: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie
2007, S. 397 ff.; MICHAEL PHILIPP, Zur Bedeutung der objektivierten
Beschwerdeschilderung für die psychiatrische Rentenbegutachtung, Der
Medizinische Sachverständige, 2010, S. 181 ff.; ERICH BÄR, Grenzen der
Objektivität im Bereich der medizinischen Begutachtung, in: Festschrift für
Erwin Murer zum 65. Geburtstag, Riemer-Kafka/Rumo-Jungo [Hrsg.], 2010, S. 14;
GERHARD EBNER, Die besonderen Probleme der psychiatrischen
Leistungseinschätzung, in: Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen
Begutachtung, Murer [Hrsg.], 2010, S. 209 ff.; JÖRG JEGER, Die Kritik an
Anwaltschaft und Versicherer aus der Sicht des medizinischen Gutachters, ebenda
S. 188; SUSANNE BOLLINGER, Der Beweiswert psychiatrischer Gutachten in der
Invalidenversicherung, Jusletter 31. Januar 2011, Fn. 58; LEUZINGER-NAEF,
a.a.O., S. 431; vgl. auch KARSTEN GAEDE, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf
konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäss Art. 6 EMRK, 2005, S.
658). Diesen Umständen ist prozessrechtlich in ähnlicher Weise Rechnung zu
tragen, wie eine ausgeprägte Unbestimmtheit von Normen durch
verfahrensrechtliche Garantien kompensiert werden soll (BGE 132 I 49 E. 6.2 S.
58; BGE 128 I 327 E. 4.2 S. 339; BGE 127 V 431 E. 2b/cc S. 435).
BGE 137 V 210 S. 242

3.

3.1

3.1.1 Soweit Administrativgutachten auch im Beschwerdeverfahren verwendet
werden, indiziert die rechtliche Annäherung des für (gerichtliche) Gutachter
geltenden Unabhängigkeitserfordernisses an dasjenige von Richtern (oben E.
2.1.3) eine auf dem Zufallsprinzip, somit auf einer abstrakt formulierten
Regelung beruhende vorbestimmte Zuweisung der Aufträge (Art. 29 Abs. 1 BV;
LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 428). In der Lehre wurde verschiedentlich die
Forderung nach einer unabhängigen "zentralen Zuweiserstelle für medizinische
Begutachtungen" erhoben (vgl. JEGER/MURER, Medizinische Begutachtung:
Vorschläge zur Lösung des Unabhängigkeitsproblems und zur Qualitätssteigerung,
in: Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Begutachtung, Erwin Murer
[Hrsg.], 2010, S. 264 ff.; UELI KIESER, Begutachtungen im Versicherungsrecht -
ein Vorschlag für eine Neukonzeption, in: Festschrift zum fünfzigjährigen
Bestehen der Schweizerischen Gesellschaft für Haftpflicht- und
Versicherungsrecht, Stephan Fuhrer [Hrsg.], 2010, S. 303 ff.; SUSANNE
FANKHAUSER, Sachverhaltsabklärung in der Invalidenversicherung - ein
Gleichbehandlungsproblem, 2010, S. 118; diverse Behindertenverbände,
IV-Gutachten - ein gemeinsames Positionspapier, Februar 2010, S. 3; JÖRG JEGER,
Gute Frage - schlechte Frage: Der Einfluss der Fragestellung auf das Gutachten,
in: Sozialversicherungsrechtstagung 2009, 2010, S. 197 ff.; vgl. auch den
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern S 09 124 vom 18. März 2010
E. 4d/bb). Nach der Vorstellung eines Teils dieser Autoren soll sich die
betreffende Einrichtung - etwa nach dem Vorbild der bestehenden Clearing-Stelle
der SUVA (vgl. CHRISTIAN A. LUDWIG, Gutachten-Clearing, SUVA Med. Mitteilungen
Nr. 79/2008 S. 117 ff.) - auch mit dem Qualitätsmanagement befassen. Zunächst
einfacher zu bewerkstelligen wäre wohl die Zuleitung der Aufträge an die MEDAS
via eine gemeinsame Einrichtung der IV-Stellen. Geeignet erscheint das Vorhaben
nur für polydisziplinäre Gutachten, kaum jedoch für mono- und bidisziplinäre
Gutachten; hier scheint es sinnvoll, die flexible direkte Auftragserteilung an
praktizierende Ärzte, Kliniken etc. weiterhin vorzusehen.

3.1.2 Konventions- und verfassungsrechtliche Anforderungen gebieten, dass die
auf den erwähnten tarifvertraglichen Grundlagen (E. 1.2.2) beruhende
Zuweisungspraxis modifiziert wird. Die Befürchtung des BSV, eine zentrale
Zuweisungsstelle könnte "zu
BGE 137 V 210 S. 243
einem Flaschenhals im Abklärungsverfahren" werden, scheint nicht stichhaltig;
der mit einem wirksamen Belastungsausgleich einhergehende Zeitgewinn dürfte die
Behandlungsfristen bei der Zuweisungsstelle bei weitem aufwiegen. Das BSV weist
in seiner Vernehmlassung selber auf ein laufendes Projekt hin, das einen
ähnlichen Zweck verfolgt: Es sei eine IT-Plattform im Aufbau begriffen, mit
deren Hilfe die Aufträge an die MEDAS besser und gleichmässiger zugeteilt
werden können; im Hinblick auf eine möglichst rasche Auftragserledigung sollen
die IV-Stellen aufgrund der von den MEDAS angegebenen Kapazitäten die
Auftragsvergabe vornehmen; aus Sicht des Bundesamtes sei es denkbar, die
IT-Plattform in Richtung eines Instrumentes zur Evaluation einzelner Gutachten
auszubauen. Diese Arbeiten sind aus Sicht des Bundesgerichts (vgl.
Geschäftsbericht 2009 S. 16) ohne Verzug weiterzuführen und in der Praxis der
Gutachtensvergabe umzusetzen, zumal auf der Stufe der IV-Stellen-Konferenz ein
entsprechendes Konzept erarbeitet worden ist, das auch EDV-mässig umgesetzt
werden kann.

3.1.3 Aus rechtsvergleichender Sicht sei auf weitere Gestaltungsmöglichkeiten
hingewiesen.

3.1.3.1 Im italienischen System der Previdenza sociale bietet der von der
"ärztlichen Schiedsstelle" (E. 2.2.3.4 in fine) erhobene (für den
Leistungsträger zwar nicht rechtlich verbindliche) Befund eine verbesserte
Entscheidungsgrundlage und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese beim
Antragsteller akzeptiert wird (HOHNERLEIN, a.a.O., S. 294).

3.1.3.2 Im französischen Haftpflichtverfahren nach Unfällen im Strassenverkehr
kann die versicherte Person gemeinsam untersucht werden durch einen vom
Versicherer bestimmten und einen von der versicherten Person ausgewählten Arzt.
Die beiden Gutachter haben den gemeinsamen Auftrag, das Ergebnis der
Begutachtung als Resultat einer kontradiktorischen Diskussion abzuliefern. Der
Versicherer unterrichtet die geschädigte Person mindestens zwei Wochen vor der
Untersuchung unter anderem über die Person und die Fachrichtung des
beauftragten Gutachters sowie über den Inhalt der Untersuchung. Gleichzeitig
setzt er die geschädigte Person in Kenntnis davon, dass sie sich durch einen
Arzt ihrer Wahl begleiten lassen kann. Die Begutachtung entspricht indessen nur
dann einem gemeinschaftlichen Gutachten, wenn sich die Parteien einig sind.
Ansonsten bleibt es bei einer unilateralen Begutachtung. Der von der
geschädigten Person ausgewählte Arzt hat immerhin aber die
BGE 137 V 210 S. 244
Möglichkeit, seine Einschätzungen einzubringen (CHAPPUIS/HERRMANN, Das
gemeinschaftliche medizinische Gutachten: ein vielversprechender Weg, in:
Strassenverkehrsrechts-Tagung, 2008, S. 194 f.; LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 439
f.). Die expertises conjointes führen zu einem hohen Anteil aussergerichtlicher
Streiterledigung (AUERBACH UND ANDERE, Medizinische Gutachten in der Schweiz im
Jahr 2008: Eine Querschnittstudie zur Marktsituation und Qualitätssicherung,
SUVA Medical 2010 S. 17).

3.1.3.3 Zumindest Elemente einer paritätischen Begutachtung nach italienischem
oder französischem Modell könnten zur Verbesserung der Gutachtensakzeptanz
durch die Betroffenen und zur Stärkung der verfahrensmässigen Waffengleichheit
durchaus auf die IV-Abklärung übertragen werden. Die Rechtsprechung verneint
zwar einen Anspruch des Versicherten auf Begleitung durch eine Person seines
Vertrauens, zum Beispiel den behandelnden Arzt (BGE 132 V 443; SVR 2008 IV Nr.
18 S. 55, I 42/06; Urteil I 991/06 vom 7. August 2007 E. 3.2); die Einwände der
Gutachter gegen eine Anwesenheit jedwelcher Drittperson in der Untersuchung
(vgl. HILDEGARD DEITMARING, Begleitpersonen bei der ärztlichen Begutachtung im
Sozialverwaltungsverfahren - Bestandsaufnahme und Diskussion, Der medizinische
Sachverständige 2009 S. 107 ff.) sind grundsätzlich berechtigt. Dies schliesst
indessen eine Vorgabe an den Gutachter, seine Ergebnisse mit einem von der
versicherten Person bezeichneten Mediziner (in der Regel dem behandelnden Arzt)
zu diskutieren, nicht aus. Im Übrigen sollen sich die IV-Stelle und die
versicherte Person nach Möglichkeit über die Vergabe des Auftrages zur
Begutachtung einigen; bei Konsens kann der Erlass einer anfechtbaren
Zwischenverfügung unterbleiben (unten E. 3.4.2.6).

3.2 Art. 43 Abs. 1 ATSG schreibt vor, dass der Versicherungsträger die
notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vornimmt. Lagert er diese Aufgabe -
zulässigerweise - an externe Abklärungsstellen aus, so hat er sicherzustellen,
dass er von den beauftragten Stellen alle entscheidungserheblichen Angaben in
der erforderlichen Qualität erhält. Diese gesetzliche Vorgabe impliziert ein
Minimum an Differenzierung der Entschädigung im Einzelfall, wobei auch
notwendige ausserordentliche Aufwendungen zu berücksichtigen sind (vgl. oben E.
2.4.2). Abgesehen von der Einfachheit der Abwicklung von Gutachtensaufträgen
sind keine gewichtigen Argumente für eine pauschale Entschädigung ersichtlich.
Mithin erweckt die Pauschalentschädigung Bedenken, die durch eine zumindest
grobe
BGE 137 V 210 S. 245
kategorielle Unterteilung (nach Schwierigkeitsgrad und Untersuchungsumfang)
entkräftet werden. Das Bundesamt hat innert nützlicher Frist ein
Entschädigungssystem auszuarbeiten und mit den MEDAS neu auszuhandeln, das
diese Vorbehalte berücksichtigt.

3.3

3.3.1 Als Aufsichtsbehörde (Art. 64a IVG) ist das Bundesamt verpflichtet, das
Zusammenwirken von Sachbearbeitung der IV-Stelle und RAD bei der Würdigung
externer Gutachten so zu strukturieren, dass eine Qualitätskontrolle nach
objektiven Gesichtspunkten gefördert, hingegen eine - offen oder verdeckt - auf
ein gewünschtes Ergebnis ausgerichtete Einstufung des Beweiswertes eines
Gutachtens erschwert wird. Dazu könnte beispielsweise die Anweisung gehören,
dass bei einfacher Ergänzungsbedürftigkeit des externen Gutachtens (zufolge von
Unklarheiten, unvollständiger Beantwortung oder dem Auftauchen neuer Fragen)
grundsätzlich kein Wechsel der Gutachterstelle stattfinden darf, sondern erst
bei schwerwiegenden Mängeln, welche eine unbefangene medizinische Stellungnahme
nicht mehr erwarten lassen. Auch wenn der IV-Stelle bei der Beurteilung der
Frage, ob die Abklärungen vollständig seien, ein erheblicher Ermessensspielraum
zusteht, so darf die Einholung eines Zweitgutachtens (sog. second opinion )
doch nicht beliebig erfolgen (in diesem Sinne SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111, U 571/
06 E. 4.2; LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 415). Sofern offene Fragen oder Zweifel
an den gutachtlichen Schlussfolgerungen bestehen, soll dies in erster Linie mit
den Verfassern des betreffenden Gutachtens geklärt werden.

3.3.2 Eine häufige Gutachtertätigkeit für eine Sozialversicherung und die damit
einhergehende medizinische Erfahrung des Experten entsprechen an sich bereits
einer Qualitätssicherung, da der oft mit gleichartigen Fragen befasste
Sachverständige so in einem andauernden Lernprozess steht (KASPAR GERBER, Die
MEDAS [einmal mehr]im Kreuzfeuer der Kritik, SZS 2010 S. 369). Aufgabe der
Aufsichtsbehörde ist es allerdings, Mindeststandards für die Abwicklung der
Begutachtung zu etablieren. Die im bundesgerichtlichen Instruktionsverfahren
eingeholten Auskünfte der MEDAS zeigen, dass das interne Qualitätsmanagement
der einzelnen Institute höchst unterschiedlich ausgestaltet ist. So gilt es
namentlich, institutsinterne Kontrollmechanismen vorzusehen, indem etwa die
Konsiliarsachverständigen im Rahmen von Konsensbesprechungen bei der
Formulierung der gutachtlichen Schlussfolgerungen mitwirken. Allenfalls würde
BGE 137 V 210 S. 246
der interdisziplinäre Entscheidfindungsprozess transparenter, wenn in Anlehnung
an Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz BZP mehrere Sachverständige das Gutachten
gemeinsam verfassen, sofern ihre Ansichten übereinstimmen, sonst aber
gesondert. Entsprechende dissenting opinions könnten die Grundlage bilden für
eine beweisrechtlich korrekte Erfassung und Würdigung von Unbestimmtheiten in
den gutachtlichen Feststellungen. Im Zusammenhang mit dem situativen Beizug
ausländischer Konsiliarärzte durch bestimmte MEDAS bleibt eine offene Frage,
wie auf die Problematik einer mangelnden Vertrautheit mit den hiesigen
(versicherungs-)medizinischen Anforderungen zu reagieren sei. Nach der
Rechtsprechung steht fest, dass die Gutachter nicht zwingend über eine
FMH-Ausbildung verfügen müssen; verlangt ist eine Fachausbildung, die auch im
Ausland erworben sein kann (Urteil 9C_270/2008 vom 12. August 2008 E. 3.3).

3.3.3 Seit langem wurde gefordert (siehe dazu den Geschäftsbericht des
Bundesgerichts 2009, S. 16), dass Sachverständigen Verfügungen und Entscheide,
in denen ihr Gutachten gewürdigt wurde, im Sinne einer Rückmeldung zugestellt
werden. Diese institutionelle Qualitätssicherungsvorkehr wurde nunmehr
verwirklicht. Mit der auf den 1. April 2011 in Kraft tretenden Änderung der IVV
vom 26. Januar 2011 (AS 2011 561) hat der Bundesrat eine neue lit. g in Art. 76
Abs. 1 IVV eingefügt, wonach die Verfügung fortan auch dem Arzt oder der
medizinischen Abklärungsstelle zuzustellen ist, die, ohne Durchführungsstelle
zu sein, im Auftrag der Versicherung einen Arztbericht oder ein Gutachten
erstellt haben.

3.3.4 Die Beweiswertkriterien können gemäss ständiger Rechtsprechung mithilfe
von fachmedizinischen Leitlinien konkretisiert und neuen Erkenntnissen
angepasst werden (vgl. statt vieler Urteil 8C_945/2009 vom 23. September 2010
E. 5 mit Hinweisen; diverse Autoren, Bedeutung von Begutachtungsempfehlungen,
antizipierten Sachverständigengutachten und Leitlinien, Der medizinische
Sachverständige 2010 S. 49 ff.). Prüfenswert ist, etwa in Zusammenhang mit
einer zentralen Zuweisungsstelle eine Instanz zu schaffen, welche die
fachspezifischen Begutachtungsleitlinien sammelt (eventuell veranlasst),
koordiniert, aufbereitet, für die Begutachtung als verbindlich erklärt und
dafür sorgt, dass der aktuelle Stand von medizinischer Forschung und Lehre
Berücksichtigung findet.

3.4 Art. 44 ATSG regelt den Beizug externer Gutachten im Verwaltungsverfahren
unter der Marginalie "Gutachten" wie folgt: Muss
BGE 137 V 210 S. 247
der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhaltes ein Gutachten einer
oder eines unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren
oder dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen
ablehnen und kann Gegenvorschläge machen. Im ATSG (oder den
versicherungszweigspezifischen Gesetzen) nicht abschliessend geregelte
Verfahrensbereiche bestimmen sich nach dem VwVG (Art. 55 Abs. 1 ATSG). Art. 19
VwVG verweist für das Beweisverfahren, soweit hier interessierend, auf die Art.
57 ff. BZP weiter. Nach Art. 57 Abs. 2 BZP gibt der Richter den Parteien
Gelegenheit, sich zu den Fragen an zur Aufklärung des Sachverhalts beigezogene
Sachverständige (vgl. Art. 57 Abs. 1) zu äussern und Abänderungs- und
Ergänzungsanträge zu stellen. Für die Experten gelten die Ausstandsgründe nach
Art. 34 BGG sinngemäss; die Parteien erhalten Gelegenheit, vor der Ernennung
von Sachverständigen Einwendungen gegen die in Aussicht Genommenen vorzubringen
(Art. 58 Abs. 1 und 2 BZP). Der Sachverständige hat nach bestem Wissen und
Gewissen zu amten und sich der strengsten Unparteilichkeit zu befleissigen; auf
diese Pflicht ist er bei der Ernennung aufmerksam zu machen (Art. 59 Abs. 1
BZP). Nach Erstattung des Gutachtens erhalten die Parteien Gelegenheit,
Erläuterung und Ergänzung oder eine neue Begutachtung zu beantragen (Art. 60
Abs. 1 in fine BZP).

3.4.1 Was die Frage einer Verstärkung der Gehörs- und Partizipationsrechte
anbelangt, rechtfertigt sich zunächst eine Darstellung der geltenden
gesetzlichen Bestimmungen und der Praxis.

3.4.1.1 Nach der bisherigen Rechtsprechung entspricht die Anordnung einer
Begutachtung durch den Sozialversicherer einem Realakt und nicht einer
Anordnung, welche nach Art. 49 Abs. 1 ATSG in Form einer Verfügung zu erlassen
ist (BGE 132 V 93 E. 5 S. 100). Denn die Anordnung eines Gutachtens fällt nicht
unter die selbständig anfechtbaren Zwischenverfügungen gemäss dem in Verbindung
mit Art. 55 Abs. 1 ATSG anwendbaren Art. 45 Abs. 1 VwVG. Zudem scheitert die in
der Lehre geforderte Gleichstellung mit dem allgemeinen Verfügungsbegriff nach
Art. 5 Abs. 1 lit. a VwVG daran, dass bei der Anordnung einer Expertise nicht
über Rechte und Pflichten einer versicherten Person befunden wird, kann doch
die Teilnahme an einer Begutachtung nicht erzwungen werden. Vielmehr handelt es
sich (gleich wie bei der Pflicht der versicherten Person, sich einer
angeordneten Eingliederungsmassnahme zu unterziehen oder das ihr Zumutbare zur
Verbesserung der
BGE 137 V 210 S. 248
Erwerbsfähigkeit beizutragen) um eine sozialversicherungsrechtliche Last, deren
Erfüllung Voraussetzung der Entstehung oder des Fortbestandes des
Rentenanspruchs ist (E. 5.2.6 und 5.2.7 S. 104). Hinzu kommt, dass die
Verwaltung aufgrund des Untersuchungsprinzips von sich aus bestimmt, wie der
Beweis zu führen ist. Aus der zentralen Bedeutung des Gutachtens für die
materielle Anspruchsprüfung im Abklärungsverfahren der Sozialversicherer kann
nicht auf den Verfügungscharakter einer Gutachtenanordnung geschlossen werden.
Die in der Lehre geäusserte Auffassung, der Verfügungscharakter einer
Gutachtenanordnung rechtfertige sich dadurch, dass das Gutachten ein
Beweismittel darstelle, von dessen Ergebnissen der Richter nur zurückhaltend
abweiche, steht in Widerspruch zur freien Beweiswürdigung; danach haben
Versicherungsträger und Gericht die Beweise ohne Bindung an förmliche
Beweisregeln und unabhängig von ihrer Herkunft zu würdigen (E. 5.2.8 S. 105).
Die Einordnung der Gutachtenanordnung bei Art. 49 Abs. 1 und Art. 51 ATSG würde
das Abklärungsverfahren unnötig formalisieren, verkomplizieren und verlängern.
In Anbetracht der Vielzahl von verfahrensrechtlichen Anordnungen, die bis zur
materiellen Erledigung in der Regel notwendig seien, wäre eine geordnete und
beförderliche Behandlung der Leistungsgesuche nicht mehr gewährleistet, wenn
jedes Mal eine Verfügung erlassen werden müsste. Aus diesen Gründen wurde der
Anordnung einer Begutachtung auch unter der Herrschaft des ATSG der
Verfügungscharakter abgesprochen (E. 5.2.9 S. 109 und 5.2.10 S. 110). Die
Begutachtung ist also nur in Form einer einfachen Mitteilung an die versicherte
Person anzuordnen.

3.4.1.2 Ist hingegen die Ausstandspflicht eines Sachverständigen streitig, so
muss diese Frage aus Gründen der Einheitlichkeit des funktionellen
Instanzenzuges durch eine selbständig anfechtbare Zwischenverfügung entschieden
werden (Art. 45 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 10 VwVG; Art. 36 Abs. 1 ATSG). Art. 44
ATSG geht über die gesetzlichen Ausstandsgründe gemäss Art. 10 VwVG und Art. 36
Abs. 1 ATSG hinaus, indem die versicherte Person den Gutachter "aus triftigen
Gründen" ablehnen kann. Zu unterscheiden ist zwischen Einwendungen formeller
und materieller Natur. Die gesetzlichen Ausstandsgründe zählen zu den
Einwendungen formeller Natur, weil sie geeignet sind, Misstrauen in die
Unparteilichkeit des Sachverständigen zu erwecken. Einwendungen materieller
Natur betreffen dagegen nicht die Unparteilichkeit der Gutachterperson; sie
sind von der Sorge getragen, das Gutachten könnte mangelhaft
BGE 137 V 210 S. 249
ausfallen oder jedenfalls nicht im Sinne der zu begutachtenden Person. Solche
Einwendungen - etwa betreffend fehlende Sachkunde, die zutreffende medizinische
Fachrichtung oder die Notwendigkeit weiterer Abklärung - sind in der Regel mit
dem Entscheid in der Sache im Rahmen der Beweiswürdigung zu behandeln. Es
besteht kein Anlass, die Beurteilung von Rügen, welche über die gesetzlichen
Ausstandsgründe hinausgehen und Fragen betreffen, die zur Beweiswürdigung
gehören, vorzuverlegen. Es gilt insbesondere zu vermeiden, dass das
Verwaltungsverfahren um ein kontradiktorisches Element erweitert und das
medizinische Abklärungsverfahren judikalisiert wird, was vor allem in Fällen
mit komplexem Sachverhalt zu einer Verlängerung des Verfahrens führen würde,
welche in ein Spannungsverhältnis zum einfachen und raschen Verfahren träte (
BGE 132 V 93 E. 6 S. 106).

3.4.1.3 Das Bundesgericht hat den fehlenden Verfügungscharakter der
Begutachtungsanordnung unter Berücksichtigung des zwischenzeitlich (1. Januar
2007) in Kraft getretenen Art. 25a VwVG bestätigt für Fälle, in denen bei
genügender Beweislage ein weiteres Gutachten eingeholt werden soll (second
opinion). Art. 25a VwVG räumt der betroffenen Person das Recht auf ein
eigenständiges nachträgliches Verwaltungsverfahren ein, das in eine Verfügung
über einen beanstandeten Realakt mündet. Das in Art. 25a VwVG vorausgesetzte
schutzwürdige Interesse ist nicht gegeben, weil der Rechtsschutz gegenüber dem
Realakt, das heisst der Begutachtungsanordnung, zu einem späteren Zeitpunkt
offensteht und mit der aufgeschobenen Beurteilung kein unzumutbarer Nachteil
verbunden ist. Es wäre inkonsequent, im Zusammenhang mit der Anfechtung der
Anordnung den nicht wieder gutzumachenden Nachteil zu verneinen und
gleichzeitig ein schutzwürdiges Interesse am Erlass einer Verfügung im Sinne
von Art. 25a VwVG zu bejahen (BGE 136 V 156 E. 4 S. 159).

3.4.1.4 Nach BGE 132 V 376 fällt die Anordnung einer Begutachtung durch eine
MEDAS - als einer unabhängigen Institution - in den Geltungsbereich von Art. 44
ATSG (S. 380 ff. E. 6 und 7; nicht so die Anordnung von Untersuchungen der RAD:
BGE 135 V 254 E. 3.4 S. 258; vgl. auch BGE 136 V 117). Im gleichen Urteil legte
das Bundesgericht das Vorgehen bei der in Art. 44 ATSG geforderten Bekanntgabe
der Namen von MEDAS-Gutachtern dar: Oft ist es nicht möglich, gleichzeitig mit
der Anordnung der IV-Stelle über die durchzuführende Begutachtung auch bereits
die Namen der mit der Begutachtung betrauten Sachverständigen zu nennen. Sind
der
BGE 137 V 210 S. 250
IV-Stelle die Namen der begutachtenden Personen aufgrund der besonderen
Situation bei den MEDAS zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, so teilt sie es
der versicherten Person mit, dies verbunden mit dem Hinweis, dass ihr die Namen
zu einem späteren Zeitpunkt direkt von der Begutachtungsstelle genannt werden
und sie dannzumal allfällige Einwendungen der IV-Stelle gegenüber geltend
machen kann. Die MEDAS gibt zusammen mit dem konkreten Aufgebot oder
rechtzeitig, bevor sie die Begutachtung an die Hand nimmt, die Namen der
befassten Ärzte und ihre fachliche Qualifikation bekannt. Sofern es sich bei
Einwendungen um gesetzliche Ausstands- und Ablehnungsgründe (im Sinne von BGE
132 V 93 E. 6 S. 106) handelt, befindet die IV-Stelle mittels selbständig
anfechtbarer Verfügung darüber. Im Falle von materiellen Einwendungen wird die
versicherte Person dagegen in der Regel wiederum in Form einer einfachen
Mitteilung darauf hingewiesen, dass diese im Rahmen der Beweiswürdigung in
einer anfechtbaren materiellen Verfügung beurteilt werden (BGE 132 V 376 E. 8
und 9 S. 384 ff.; für die Belange der Unfallversicherung vgl. Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 178/04 vom 18. August 2006 E. 3, nicht publ. in: BGE
132 V 418, aber in: SVR 2007 UV Nr. 5 S. 13).

3.4.1.5 Vor Inkrafttreten des ATSG war die IV-Stelle von Bundesrechts wegen
nicht verpflichtet, bei der Formulierung der Expertenfragen den versicherten
Personen Mitwirkungsrechte einzuräumen. Gewährleistet waren nur die
verfahrensrechtlichen Minimalgarantien, wonach der versicherten Person
Gelegenheit zu geben ist, nach Erstellung des Gutachtens Stellung zu nehmen und
allenfalls Ergänzungsfragen zu unterbreiten. Nach BGE 133 V 446 hat sich daran
mit dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 nichts geändert. Nach Art. 55
Abs. 1 ATSG bestimmen sich in den Art. 27-54 ATSG oder in den Einzelgesetzen
nicht abschliessend geregelte Verfahrensbereiche nach dem VwVG. Ob eine
Regelung des ATSG abschliessend ist oder nicht, ergibt sich durch Auslegung.
Liegt eine abschliessende Regelung vor, fällt die Anwendung des VwVG ausser
Betracht. Eine Norm des ATSG darf durch Heranziehen der Bestimmungen des VwVG
gegebenenfalls konkretisiert werden. Hingegen kann eine eingehendere Regelung
des VwVG nicht in den Anwendungsbereich des ATSG übertragen werden. Der
Umstand, dass das VwVG hinsichtlich einer durch das ATSG geregelten Frage eine
höhere Normierungsdichte aufweist, führt nicht zu einer ergänzenden Anwendung
des VwVG (BGE 133 V 446 E. 7.2 S. 447).
BGE 137 V 210 S. 251
Nach Art. 19 VwVG sind für das Beweisverfahren sinngemäss die Art. 37, 39-41
und 43-61 BZP anwendbar. Gemäss Art. 57 Abs. 2 BZP gibt der Richter den
Parteien Gelegenheit, sich zu den Fragen an die Sachverständigen zu äussern und
Abänderungs- und Ergänzungsanträge zu stellen. Der Umstand, dass sich diese
Bestimmung in erster Linie auf das Gerichtsverfahren bezieht und nur sinngemäss
für das Verwaltungsverfahren gilt, erlaubt, systembedingten Unterschieden
Rechnung zu tragen (E. 7.3 S. 448). Das sozialversicherungsrechtliche
Abklärungsverfahren funktioniert nach dem Grundsatz des Amtsbetriebs, was
heisst, dass der Sozialversicherungsträger einen Versicherungsfall hoheitlich
bearbeitet (vgl. Art. 43 ATSG) und mit dem Erlass einer materiellen Verfügung
erledigt. Partizipatorische, auf präventive Mitwirkung im Rahmen der
Gutachtensbestellung abzielende Verfahrensrechte stehen dabei in einem
Spannungsverhältnis zum Gebot eines raschen und einfachen Verfahrens (Art. 61
lit. a ATSG). Anzustreben ist ein vernünftiges Verhältnis zwischen den
Mitwirkungsrechten im Verwaltungsverfahren und dem Ziel einer raschen und
korrekten Abklärung (BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 109). Es kann daher nicht Sinn und
Zweck von Art. 44 ATSG sein, dass sich die Parteien vor oder zusammen mit der
Gutachtensanordnung über die Fragen zuhanden der medizinischen Sachverständigen
zu einigen haben, geschweige denn, dass diese in einer anfechtbaren
Zwischenverfügung festzulegen wären, zumal auch die Anordnung eines Gutachtens
nicht Verfügungsgegenstand bildet. Dies spricht dafür, dass Art. 44 ATSG mit
Bezug auf die Parteirechte abschliessend ist und die Regelung von Art. 19 VwVG
in Verbindung mit Art. 57 Abs. 2 BZP keine Anwendung findet. Die Rechte der
versicherten Person bleiben insofern gewahrt, als sie sich im Rahmen des
rechtlichen Gehörs zum Beweisergebnis äussern und erhebliche Beweisanträge
vorbringen kann (BGE 133 V 446 E. 7.4 S. 449). Nicht ausgeschlossen ist, dass
die IV-Stelle die Expertenfragen der Partei auf freiwilliger Basis vorgängig
zur Stellungnahme unterbreitet (E. 7.5 S. 449).

3.4.2 Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die Ordnung gemäss Art. 57 ff. BZP,
auf die in Art. 19 VwVG verwiesen wird, bloss eine eingehendere Regelung eines
Gegenstandes enthält, der mit Art. 44 ATSG abschliessend geregelt ist, oder ob
Art. 44 ATSG über die Verweisungsnorm des Art. 55 Abs. 1 ATSG mit dem Gehalt
der allgemeinen Normierung in VwVG und BZP zu harmonisieren ist. Die Auslegung
von Art. 55 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 44 ATSG
BGE 137 V 210 S. 252
gemäss bisheriger Rechtsprechung führt dazu, dass die Gewährleistung von
Mitwirkungsrechten der versicherten Person im Zusammenhang mit der Erhebung des
Beweismittels "medizinisches Gutachten" hinter den allgemeinen Standard im
Verwaltungsverfahren zurückfällt.
Zu prüfen ist mithin aufgrund der Vorbringen der Verfahrensbeteiligten und der
Ergebnisse der durchgeführten Instruktion, ob an der dargelegten Rechtsprechung
in allen Teilen festgehalten werden kann. Eine Änderung der Rechtsprechung
setzt wichtige Gründe voraus. Sie lässt sich mit der Rechtssicherheit
grundsätzlich nur vereinbaren, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der
ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten
Rechtsanschauungen entspricht (BGE 134 V 72 E. 3.3 S. 76 mit Hinweisen).

3.4.2.1 Vorab ist klarzustellen, dass die Rüge, die geltende Rechtsprechung
schwäche die Verfahrensrechte in der Sozialversicherung, gemessen am
allgemeinen Standard, einseitig zu Ungunsten von körperlich, geistig oder
psychisch Behinderten ab, worin ein Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot
(Art. 8 Abs. 2 BV; Art. 14 i.V.m. Art. 6 EMRK) liege, unbegründet ist und daher
keinen Grund für eine Praxisänderung abgeben kann. Der Umstand, dass die
Rechtsprechung das Anwendungsfeld formeller Garantien hinsichtlich der
Verfahren zur Abklärung der Voraussetzungen für Leistungen an behinderte
Menschen eng gezogen hat, bedeutet offenkundig nicht, dass diese wegen dieses
Merkmals bei der Rechtsanwendung ohne qualifizierte Rechtfertigung anders
behandelt würden (vgl. zu den Merkmalen einer Diskriminierung - statt vieler -
BGE 136 I 297 E. 7.1 S. 305).

3.4.2.2 Die Ausgestaltung der Beteiligungsrechte der versicherten Person im
Abklärungsverfahren der IV-Stelle muss den verfahrensbezogenen Garantien gemäss
Art. 29 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK genügen. Der Rechtssinn der massgebenden
Verfahrensbestimmungen ist an Verfassung und Konvention auszurichten; dabei
darf die anvisierte Auslegung dem Wortlaut des Gesetzes und den weiteren
normunmittelbaren Auslegungselementen nicht klar widersprechen
(verfassungskonforme oder verfassungsbezogene Interpretation; BGE 135 I 161 E.
2.3 S. 163 mit Hinweisen; ULRICH MEYER-BLASER, Die Bedeutung von Art. 4
Bundesverfassung für das Sozialversicherungsrecht, ZSR 1992 II S. 347 f.; ERNST
HÖHN, Die Bedeutung der Verfassung für die Auslegung der Gesetze, in:
Festschrift für Ulrich Häfelin, 1989, S. 262). Im Hinblick auf eine
grundrechts-
BGE 137 V 210 S. 253
respektive konventionskonforme Auslegung kann nicht allgemeingültig
konkretisiert werden, welche Beteiligungsrechte in welcher Form gewährleistet
sein müssen, damit ein Verfahren insgesamt fair ausgestaltet ist. Vielmehr ist
die Frage, ob die Schutzziele von Verfassung und Konvention bei der Abklärung
des anspruchserheblichen Sachverhalts durch die Mitwirkungsmöglichkeiten gemäss
geltender Auslegung von Art. 55 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 44 ATSG
hinreichend verwirklicht werden, anhand des konkreten Verfahrens und seiner
Zwecke zu beantworten.

3.4.2.3 Das Abklärungsverfahren, in dessen Rahmen die IV-Stellen auf Gutachten
der MEDAS zurückgreifen, dient im Wesentlichen zur Erhebung der
Arbeitsunfähigkeit nach Art. 6 ATSG. Dabei handelt es sich um einen
Rechtsbegriff (ULRICH MEYER-BLASER, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit
und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, namentlich für den
Einkommensvergleich in der Invaliditätsbemessung, in: Schmerz und
Arbeitsunfähigkeit, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], 2003, S. 27 ff.). Seine
Konkretisierung im Einzelfall erfolgt im Wesentlichen auf der Grundlage einer
gesundheitlich-medizinischen Komponente. Die Bemessung der Arbeitsunfähigkeit
kann weder tatsächlich noch rechtlich korrekt angewendet werden, wenn und
solange über die gesundheitlichen Verhältnisse und Zusammenhänge keine Klarheit
besteht (ULRICH MEYER, Die Beweisführung im Sozialversicherungsrecht, in: Nicht
objektivierbare Gesundheitsbeeinträchtigungen: Ein Grundproblem des
öffentlichen und privaten Versicherungsrechts sowie des Haftpflichtrechts,
Murer [Hrsg.], 2006, S. 200 f.). In ihrem medizinischen Aspekt betrifft die
Arbeitsunfähigkeit also eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397; vgl. G.H.
STEINER, Schnittstellenprobleme bei der Einholung und Verwertung von
medizinischen Sachverständigengutachten, Der Medizinische Sachverständige,
2010, S. 245), deren Grundlage - die ärztliche Einschätzung - abhängig von der
Gutachterperson und von den Umständen der Begutachtung eine grosse Varianz
aufweisen kann (vgl. dazu die in E. 2.5 erwähnten Fundstellen). Dies rührt
unter anderem daher, dass sowohl die versicherungsmedizinischen Prämissen als
auch die fachmedizinischen Beurteilungsparameter überaus offen gefasst sind;
die ärztliche Beurteilung trägt - von der Natur der Sache her unausweichlich -
Ermessenszüge (vgl. etwa BGE 130 V 352 E. 2.2.4 S. 355, BGE 130 V 396 E. 6.2.2
S. 401). Die Steuerungsfähigkeit des massgebenden materiellen Rechts ist also
notgedrungen begrenzt. Je offener und unbestimmter die gesetzliche
BGE 137 V 210 S. 254
Grundlage - in sich oder, wie hier, aufgrund von Merkmalen ihres
Anwendungsbereichs - ist, desto stärker ausgebaut sein soll der
verfahrensrechtliche Schutz vor unrichtiger Anwendung des unbestimmten
Rechtssatzes (oben E. 2.5 in fine).

3.4.2.4 Wie schon erwähnt, können die rechtsanwendenden Behörden faktische
Festlegungen, die in medizinischen Administrativgutachten getroffen worden
sind, mangels eigener Fachkenntnis oft nicht direkt überprüfen und
gegebenenfalls korrigieren; eine Kontrolle ist im Wesentlichen nur möglich im
Hinblick auf die Einhaltung formaler Erfordernisse (so gemäss BGE 125 V 351 E.
3a S. 352) und darauf, ob die gutachtlichen Folgerungen schlüssig begründet
wurden (vgl. PIGUET, a.a.O., S. 136). Auch unter Berücksichtigung der mit der
4. Revision des IVG im Jahr 2004 eingeführten IV-eigenen Regionalen Ärztlichen
Dienste kommt den Rahmenbedingungen der Auftragsvergabe eine grosse Bedeutung
zu. Eine faire Abwicklung verlangt zunächst mit Bezug auf das
Abklärungsverfahren vor der IV-Stelle, dass die im allgemeinen
Verwaltungsverfahren üblichen Befugnisse unter dem Titel der Garantie des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG; BGE 135 V 465 E. 4.3.2 S.
469) gewährleistet sind, was namentlich die Abnahme erheblicher Beweisanträge
und die Mitwirkung an der Beweiserhebung einschliesst.
Bei der Umschreibung dessen, was in Form eines anfechtbaren Verwaltungsaktes
angeordnet werden soll, ist sodann das streitlagenspezifische
Rechtsschutzinteresse zu berücksichtigen (RENÉ A. RHINOW,
Verwaltungsgerichtsbarkeit im Wandel, in: Staatsorganisation und
Staatsfunktionen im Wandel, G. Müller und andere [Hrsg.], 1982, S. 660).
Systemimmanent (vgl. BGE 136 V 376; oben E. 2.2 und 2.3) besteht kein Anspruch
auf Einholung eines Gerichtsgutachtens; häufig ist also das
Administrativgutachten zugleich die massgebliche medizinische
Entscheidungsgrundlage im Beschwerdeverfahren. In solchen Fällen kommen die bei
der Beweiseinholung durch ein Gericht vorgesehenen Garantien zugunsten der
privaten Partei im gesamten Verfahren nicht zum Tragen. Um dieses Manko wirksam
auszugleichen, müssen die gewährleisteten Mitwirkungsrechte durchsetzbar sein,
bevor die beschriebenen präjudizierenden Effekte eintreten. Diese das
Gesamtverfahren im Auge behaltende Auslegung ist bei der erneuten Prüfung der
Frage, ob die Anordnung der Begutachtung in Form einer anfechtbaren Verfügung
erfolgen soll, mitzuberücksichtigen.
BGE 137 V 210 S. 255

3.4.2.5 Die zusammengefasst wiedergegebenen Vorbringen zu den Tarifverträgen
und zur Aufhebung von Art. 72^bis IVV auf den 1. April 2011 (oben E. 1.2.5)
zeigen mit aller Deutlichkeit - und die Instruktionsergebnisse bestätigen es -,
dass das BSV die MEDAS-Begutachtungen im Laufe der Zeit zunehmend dem Markt der
(teilweise eigens zu diesem Zweck gegründeten) Gutachtensanbieter überlassen
hat. Diese behördliche Zurückhaltung ist nur schwerlich vereinbar mit Art. 64
Abs. 1 IVG (i.V.m. Art. 72 AHVG), wonach die (von der Fachaufsicht über die
IV-Stellen und die RAD nach Art. 64a IVG zu unterscheidende) Aufsicht des
Bundes, wahrgenommen durch das Bundesamt, in ihrem unverzichtbaren Kerngehalt
darin besteht, für die einheitliche Anwendung des IVG zu sorgen. Das gilt
zweifellos im Hinblick auf die Offenheit und Konkretisierungsbedürftigkeit der
medizinischen Komponenten der Anspruchsprüfung (oben E. 2.5, 3.4.2.3) auch und
gerade für das System der externalisierten medizinischen Tatsachenerhebung,
welche für die administrative und gerichtliche Beurteilung der
Leistungsberechtigung von erstrangiger Bedeutung ist. Aufs Ganze besehen drängt
sich der Schluss auf, dass sich in den letzten Jahren als Folge dieser
Entwicklung die Rahmenbedingungen für die Auftragsvergabe (E. 3.4.2.4) und
damit die Chancen für eine durchgehende Gewährleistung der Ordnungsmässigkeit
und Regelhaftigkeit der MEDAS-Begutachtungen spürbar verschlechtert haben, was
mit einem entsprechend gesteigerten streitlagenspezifischen
Rechtsschutzinteresse (E. 3.4.2.4 in fine) einhergeht. Nach den Antworten auf
die Anfrage vom 13. Dezember 2010 bieten die achtzehn MEDAS in den für ihren
Gutachtensbetrieb wesentlichen Punkten ein ganz uneinheitliches Bild. Das ist
zwar unter dem Gesichtswinkel der verlangten Unabhängigkeit insofern positiv zu
werten, als eine unzulässige strukturelle Beeinflussung von aussen oder gar
eine Gleichschaltung ohne weiteres ausgeschlossen werden kann. Auch ist sehr zu
begrüssen, dass Zusammenarbeit oft nicht mit fest angestellten, sondern mit
überwiegend frei praktizierenden Ärzten und Ärztinnen stattfindet, wodurch die
für die medizinische Begutachtung so wichtige klinische Erfahrung nutzbar
gemacht wird. Aber die festgestellten Unterschiede punkto Grösse,
Auftragsvolumen, beschäftigte Ärzte und Ärztinnen, vertretene Fachrichtungen,
Rechtsform, Weiterbildung, Qualitätssicherung, Jahresberichte, Dokumentierung
der Begutachtungsergebnisse, Transparenz, Erfüllung weiterer Aufgaben usw.
zeigen, dass es entscheidend sein kann, welcher MEDAS eine versicherte Person
zur interdisziplinären Abklärung zugewiesen wird.
BGE 137 V 210 S. 256

3.4.2.6 Unter all diesen Umständen ist zunächst, mehr als bisher der Fall, das
Bestreben um eine einvernehmliche Gutachtenseinholung in den Vordergrund zu
stellen. Die Militärversicherung erlässt (erst dann) eine selbständig
anfechtbare Zwischenverfügung, wenn sie sich mit dem Gesuchsteller oder dessen
Angehörigen über den Gutachter nicht einigen kann (Art. 93 des Bundesgesetzes
vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung [MVG; SR 833.1]). Dem Vorbild
dieser Bestimmung entsprechend liegt es in der beiderseitigen Verantwortung von
IV-Stelle und versicherter Person, vermeidbare Verfahrensweiterungen
abzuwenden. Zu bedenken ist auch, dass eine auf beiderseitigem Einverständnis
beruhende Begutachtung zu tragfähigeren Beweisergebnissen führt, die bei der
betroffenen Person zudem auf bessere Akzeptanz stossen. Hinsichtlich der Fälle,
in denen eine Einigung nicht zustandekommt, kann in Anbetracht der veränderten
äusseren Verhältnisse (E. 3.4.2.5) als den wesentlichen Rahmenbedingungen für
MEDAS-Begutachtungen und unter Berücksichtigung der latent vorhandenen
systemischen Gefährdungen (E. 2.4) nicht länger an der Rechtsprechung
festgehalten werden, wonach für die Anordnung einer Expertise eine blosse
Mitteilung genügt (BGE 132 V 93; E. 3.4.1.1). Vielmehr ist die (bei fehlendem
Konsens zu treffende) Anordnung, eine Expertise einzuholen, in die Form einer
Verfügung zu kleiden (Art. 49 ATSG), welche dem Verfügungsbegriff gemäss Art. 5
VwVG entspricht (BGE 130 V 388 E. 2.3 S. 391).

3.4.2.7 Da sie das Administrativverfahren nicht abschliesst, handelt es sich um
eine Zwischenverfügung (Art. 55 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 und Art. 46
VwVG), welche bei Bejahung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils (Art. 46
Abs. 1 lit. a VwVG; BGE 132 V 93 E. 6.1 S. 106) entgegen BGE 132 V 93 E. 6.5 S.
108 unter Erhebung aller gesetzlich vorgesehen Rügen rechtlicher und
tatsächlicher Natur angefochten werden kann. Für die Beurteilung des Merkmals
des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Kontext der Gutachtenanordnung ist
an die oben (E. 3.4.2.2 ff.) vorgenommene verfassungsbezogene Auslegung der
Garantien für das Abklärungsverfahren anzuknüpfen. Auch hier fällt ins Gewicht,
dass das Sachverständigengutachten im Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die
fachfremde Materie faktisch nur beschränkt überprüfbar ist. Mithin kommt es
entscheidend darauf an, dass qualitätsbezogene Rahmenbedingungen
(beispielsweise hinsichtlich der gutachterlichen Fachkompetenz; LEUZINGER-NAEF,
a.a.O., S. 419) von Beginn weg
BGE 137 V 210 S. 257
durchgesetzt werden können (vgl. WIEDERKEHR, a.a.O., S. 395). Greifen die
Mitwirkungsrechte erst nachträglich - bei der Beweiswürdigung im Verwaltungs-
und Beschwerdeverfahren (vgl. LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 437 oben) -, so kann
hieraus ein nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen, zumal im
Anfechtungsstreitverfahren kein Anspruch auf Einholung von Gerichtsgutachten
besteht. Hinzu kommt, dass die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden
Belastungen zuweilen einen erheblichen Eingriff in die physische oder
psychische Integrität bedeuten. Aus diesen Gründen sowie angesichts der
geschilderten Merkmale der Vergabepraxis besteht ein gesteigertes Bedürfnis
nach gerichtlichem Rechtsschutz. Daher ist im Rahmen einer verfassungs- und
konventionskonformen Auslegung die Eintretensvoraussetzung des nicht wieder
gutzumachenden Nachteils für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren zu
bejahen, zumal die nicht sachgerechte Begutachtung in der Regel einen
rechtlichen und nicht nur einen tatsächlichen Nachteil bewirken wird (vgl. BGE
134 III 188 E. 2.1 und 2.2 S. 190 f.; BGE 133 IV 139 E. 4 und 335 E. 4 S. 338;
BGE 130 II 149 E. 1.1 S. 153; Urteil 2C_86/2008 vom 23. April 2008 E. 3.2; vgl.
UHLMANN/WÄLLE-BÄR, Praxiskommentar zum VwVG, N. 4 ff. zu Art. 46 VwVG; MARTIN
KAYSER, Kommentar zum VwVG, N. 11 zu Art. 46 VwVG). Beschwerdeweise geltend
gemacht werden können materielle Einwendungen beispielsweise des Inhalts, die
in Aussicht genommene Begutachtung sei nicht notwendig, weil sie - mit Blick
auf einen bereits umfassend abgeklärten Sachverhalt - bloss einer "second
opinion" entspräche (noch anders: BGE 136 V 156; vgl. auch SVR 2007 UV Nr. 33
S. 111, U 571/06 E. 4.2). Nach wie vor gerügt werden können (personenbezogene)
Ausstandsgründe. Nicht gehört werden kann indessen das Vorbringen, die
Abgeltung der Gutachten aus Mitteln der Invalidenversicherung führe zu einer
Befangenheit der MEDAS (vgl. oben E. 2.1-2.3).
Ob die kantonalen Entscheide (bzw. jene des Bundesverwaltungsgerichts) über
Beschwerden gegen Verfügungen der IV-Stellen betreffend Gutachtenseinholung
ihrerseits mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82
und 93 Abs. 1 lit. a BGG) an das Bundesgericht weiterziehbar sind, kann hier
offenbleiben.

3.4.2.8 Was die Modalitäten anbelangt, erfolgt die Anordnung einer Expertise -
soweit notwendig (vgl. oben E. 3.4.2.6) - unmittelbar in Verfügungsform. Wenn
der Expertenauftrag an eine Gutachterstelle (wie eine MEDAS) geht und die Namen
der einzelnen
BGE 137 V 210 S. 258
Sachverständigen noch nicht bekannt sind, muss deren Nennung nach wie vor nicht
schon mit der Verfügung der Gutachtenanordnung erfolgen. Bei einer
entsprechenden Staffelung ergeht jedes Mal eine Verfügung, wenn eine Festlegung
getroffen wird, welche die Verfahrensrechte der versicherten Person zu berühren
geeignet ist. Das Vorbescheidverfahren wird nicht durchgeführt (Art. 57a Abs. 1
IVG e contrario). Auch ist nicht (vorerst) das formlose Verfahren nach Art. 51
Abs. 1 ATSG einzuschlagen (vgl. auch Art. 74^quater IVV). Eine solche
Gliederung des Verfahrens würde keine Vereinfachung, sondern im Gegenteil die
Ungewissheit mit sich bringen, innert welcher Frist die versicherte Person den
Erlass einer Verfügung verlangen könnte (vgl. Art. 51 Abs. 2 ATSG). Da es um
eine verfahrensleitende Verfügung geht, ist ausserhalb der
Invalidenversicherung hiergegen keine Einsprache gegeben (Art. 52 Abs. 1
zweiter Satzteil ATSG).

3.4.2.9 Sinngemäss aus den bisher dargelegten Gründen ist der versicherten
Person - unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung (BGE 133 V 446; oben E.
3.4.1.5) - ein Anspruch einzuräumen, sich vorgängig zu den Gutachterfragen zu
äussern (in diesem Sinne LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 432 f.; im Hinblick auf die
Weiterverwendung der Expertise im Beschwerdeverfahren vgl. Urteil des EGMR
Mantovanelli gegen Frankreich, Recueil CourEDH 1997-II § 32; FROWEIN/PEUKERT,
EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 179 zu Art. 6 EMRK). Mithin werden die
IV-Stellen der versicherten Person künftig zusammen mit der verfügungsmässigen
Anordnung der Begutachtung den vorgesehenen Katalog der Expertenfragen zur
Stellungnahme unterbreiten. Führt die damit eröffnete Mitwirkungsmöglichkeit
der betroffenen Person zu einer einzelfalladäquaten Fragestellung, so trägt
dies im Übrigen zur gutachtlichen Qualität wesentlich bei (vgl. dazu JEGER,
Gute Frage - schlechte Frage: Der Einfluss der Fragestellung auf das Gutachten,
in: Sozialversicherungsrechtstagung 2009, 2010, S. 171 ff.).

4. Zu prüfen bleibt, ob die eingetretene Situation im Zusammenhang mit den
MEDAS-Begutachtungen auch Auswirkungen auf die Ebene der gerichtlichen
Beurteilung streitiger Rentenansprüche zeitigt.

4.1 Administrativgutachten der MEDAS sind in einer Vielzahl von
invalidenversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahren massgebliche medizinische
Entscheidungsgrundlage, und sie bleiben dies sehr oft für den gesamten
Instanzenzug, woran eine sorgfältige, auch die
BGE 137 V 210 S. 259
gegenteilig lautenden medizinischen Unterlagen (Berichte der Hausärzte,
behandelnden Spezialistinnen und Spezialisten, von der versicherten Person in
Auftrag gegebene Privatgutachten, aus anderen sozial- oder zivilrechtlichen
Verfahren beigezogene Expertisen) mitberücksichtigende Beweiswürdigung
grundsätzlich nichts zu ändern vermag. Der Umstand, dass sich die gerichtliche
Beurteilung auf die gesamte Aktenlage abstützt, erfüllt noch nicht die -
alternativ zur Gewährleistung einer ausreichenden Unabhängigkeit des
Administrativsachverständigen bestehende - Garantie, dass die versicherte
Person unter Bedingungen der Waffengleichheit einen (im Wesentlichen gleich wie
das Administrativgutachten behandelten) eigenen Sachverständigenbeweis
vorbringen kann (dazu Urteile des EGMR Brandstetter gegen Österreich vom 28.
August 1991, Serie A Bd. 211 § 45 und Bönisch gegen Österreich vom 6. Mai 1985,
Serie A Bd. 92 §§ 31 ff.; GRABENWARTER, Verfahrensgarantien in der
Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 632 ff.).
Die Gerichte weisen eine Sache oft an die IV-Stelle zur weiteren Abklärung
respektive zur neuen - oder gegebenenfalls ergänzenden - Begutachtung zurück,
wenn ihrer Auffassung nach auf eine MEDAS- Administrativexpertise nicht
abgestellt werden kann. Eine Sichtung der im Rahmen der Instruktion dieses
Verfahrens erhobenen Zusammensetzung der Auftraggeberschaften zeigt, dass in
Rechtsstreitigkeiten um Leistungen der Invalidenversicherung nur in
ausgesprochen wenigen Fällen ein Gerichtsgutachten eingeholt wird.

4.2 Die vorstehend einlässlich begründete Rechtslage, wonach die schweizerische
Ordnung des Abklärungsverfahrens grundsätzlich mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK
vereinbar ist, wenn die Gehörs- und Partizipationsrechte im Sinne der
bisherigen Erwägungen verstärkt werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass
die bereits mehrfach angesprochene problematische Kombination von bestätigter
wirtschaftlicher Abhängigkeit der Gutachterstellen und (wegen fehlender eigener
Fachkenntnis) herabgesetzter Kontrollkapazität der rechtsanwendenden Behörden
in Verbindung mit einer strukturell angelegten Ungleichverteilung der
Einwirkungsmöglichkeiten die Fairness des Verfahrens gefährdet. Diese
Feststellung weist an sich auf die Erforderlichkeit gerichtlicher
Abklärungsmassnahmen hin. Jedoch entspricht die regelmässige Einholung
medizinischer Gerichtsgutachten offensichtlich nicht dem für das
Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung gesetzlich vorgesehenen System
der Verwaltungsrechtspflege schweizerischen Zuschnitts (E. 2.2.2). Eine
BGE 137 V 210 S. 260
regelmässige Einholung von Gerichtsgutachten ist auch nicht unbedingt
erforderlich, um das Abklärungsverfahren verfassungs- und konventionskonform
auszugestalten. Eine solche weitgehende Verlagerung der Expertentätigkeit von
der administrativen auf die gerichtliche Ebene ist - von der staatspolitischen
Tragweite einer solchen grundsätzlichen, dem Gesetzgeber vorbehaltenen
Grundsatzentscheidung abgesehen (E. 2.2.2 in fine) - auch sachlich gar nicht
wünschbar. Die Rechtsstaatlichkeit der Versicherungsdurchführung litte
empfindlich und wäre von einem Substanzverlust bedroht, wenn die Verwaltung von
vornherein darauf bauen könnte, dass ihre Arbeit ohnehin in jedem
verfügungsweise abgeschlossenen Sozialversicherungsfall auf Beschwerde hin
gleichsam gerichtlicher Nachbesserung unterläge (MEYER-BLASER, Einfluss der
EMRK, a.a.O., S. 401). Im Rahmen der de lege lata gegebenen Organisation drängt
es sich vielmehr auf, das drohende Defizit dort durch gerichtliche Expertisen
auszugleichen, wo die Gerichte bei der Würdigung des Administrativgutachtens im
Kontext der gesamten Aktenlage zum Schluss kommen, weitere Abklärungen seien
notwendig.

4.3 Auch in diesem Zusammenhang rechtfertigt sich zunächst ein Blick über die
Grenzen.

4.3.1 Allgemeines
Im Vergleich mit den einschlägigen Rechtsordnungen anderer europäischer Länder
zeigt sich, dass die gerichtliche Expertise vielerorts festen Bestandteil des
Prozesses über Invalidenrentenansprüche bildet, freilich ohne dass deswegen
gleich von einem gemeineuropäischen Rechtsstandard gesprochen werden könnte.
Stets im Auge zu behalten ist, ob Regelungen anderer Rechtssysteme Ausfluss von
Verfahrensgarantien sind oder eher bloss praktische Folge der jeweiligen
Verfahrensorganisation. Das Spektrum der richterlichen Überprüfungsbefugnis
reicht von einer Konstellation, in welcher die überprüfende Instanz lediglich
feststellen kann, ob aus den vorliegenden Expertisen zutreffende
Schlussfolgerungen gezogen wurden, bis hin zur Möglichkeit, die Feststellung
der Invalidität völlig neu aufzurollen; alsdann wird die Rolle des
Sachverständigen gegebenenfalls neu definiert (REINHARD/KRUSE/VON MAYDELL,
Rechtsvergleich, a.a.O., S. 746). Den einschlägigen Ordnungen aller
Nachbarländer gemeinsam ist, dass die Gerichte nicht befugt sind, eine
Streitsache zwecks Einholung eines Sachverständigengutachtens (und zur neuen
Entscheidung) an die Verwaltung zurückzuweisen.
BGE 137 V 210 S. 261

4.3.2 Österreich
Der Rechtsschutz in sozialversicherungsrechtlichen Leistungsstreitigkeiten
weist die Besonderheit auf, dass der Verwaltungsakt nicht durch eine
Rechtsmittelinstanz auf seine Rechtmässigkeit hin überprüft wird. Der vom
Sozialversicherungsträger erlassene Bescheid wird formell unverzüglich
rechtskräftig, da gegen ihn kein Rechtsmittel gegeben ist. Die mit der
Entscheidung unzufriedene Partei kann aber vor dem zuständigen Sozialgericht
eine Klage auf die gewünschte Leistung einbringen. Nach Anhebung der Klage
tritt die Entscheidung des Sozialversicherungsträgers im Umfang des
Klagbegehrens ausser Kraft (§ 71 Abs. 1 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes
[ASGG]); es wird ein völlig neues Verfahren über den Anspruch eröffnet (sog.
sukzessive Kompetenz; THEODOR TOMANDL, Grundriss des österreichischen
Sozialrechts, 5. Aufl. 2002, S. 226 f.; ADAMOVICH/FUNK, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1984, S. 89). Der klageweise geltend gemachte
Anspruch wird von Grund auf neu beurteilt. Dies schliesst auch die
medizinischen Erhebungen ein (vgl. § 87 Abs. 1 ASGG). Soweit zur Beurteilung
der Streitsache erforderlich, wird also schon systembedingt jedenfalls ein
Gerichtsgutachten eingeholt (vgl. dazu NIEDERBERGER, Die Kritik aus Sicht des
Versicherers, in: Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Begutachtung,
Murer [Hrsg.], 2010, S. 140 f.). Das ASGG schreibt vor, dass zum
Sachverständigen nicht bestellt werden darf, wer zum Beklagten in einem
Arbeitsverhältnis steht oder von ihm in Leistungssachen häufig als
Sachverständiger beschäftigt wird (§ 87 Abs. 5). Damit soll ein allfälliges
subjektives Misstrauen von Versicherten gegen solche Sachverständige verhindert
werden. Wird entgegen dieser Bestimmung eine Person zum Sachverständigen
bestellt, so begründet dies keine Nichtigkeit, sondern einen Verfahrensmangel,
der als Ablehnungsgrund vor Beginn der Beweisaufnahme geltend gemacht werden
muss (FEITZINGER/TADES, Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl. 1996, S.
143).

4.3.3 Deutschland
Wie in der Schweiz kann das Gericht grundsätzlich auf die medizinischen
Abklärungen aus dem Verwaltungsverfahren abstellen, wenn die Beweisgrundlage
umfassend und tragfähig ist; das Gericht ist nicht generell verpflichtet, zur
Beurteilung der in diesen Gutachten behandelten medizinischen Fragen nochmals
Beweis zu erheben (NIESEL, Der Sozialgerichtsprozess, 2. Aufl. 1991, S. 52 Rz.
128). Ist die rechtserhebliche Tatsache hingegen noch nicht geklärt, muss
BGE 137 V 210 S. 262
das Gericht nach dem Untersuchungsprinzip selber den Beweis aufnehmen. Die
Auswahl des Sachverständigen ist (abweichend von der Regelung der ZPO) allein
Sache des Gerichts. Das Gutachten unterliegt der freien richterlichen
Beweiswürdigung (§ 103 und 118 Sozialgerichtsgesetz [SGG]; GUDRUN
DOERING-STRIENING, in: Prozesse in Sozialsachen, Berchtold/Richter [Hrsg.],
2009, S. 908; ERLENKÄMPER/FICHTE/FOCK, Sozialrecht, 5. Aufl. 2003, S. 870;
BLEY, in: Gesamtkommentar Sozialversicherung, SGG, Baumeister und andere
[Hrsg.], 1995, S. 1046 zu § 118 SGG). Ebenso wenig ist eine Rückweisung an die
Sozialversicherungsverwaltung zulässig, wenn substantiierte Einwendungen gegen
die Richtigkeit des im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachtens erhoben
werden. Nach dem am 1. April 2008 in Kraft getretenen § 131 Abs. 5 SGG kann das
Sozialgericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, den
Verwaltungsakt aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, soweit nach
Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die
Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich
ist. Nicht als erheblich im Sinne dieser Bestimmung gilt die Einholung eines
Sachverständigengutachtens; sie begründet daher keine Ausnahme vom Grundsatz,
dass das Gericht selber eine Sachentscheidung treffen muss (NIEDERBERGER,
a.a.O., S. 142 f. mit Hinweisen; MARTIN BOLAY, in: Handkommentar zum
Sozialgerichtsgesetz, Lüdtke [Hrsg.], N. 31 zu § 131 SGG).

4.3.4 Frankreich
Auch der französische Code de la sécurité sociale geht davon aus, dass das
Gericht selbst eine medizinische Begutachtung veranlasst, wenn sich im
Verfahren eine "difficulté d'ordre médical" ergibt (Art. R. 142-24; FRANCIS
KESSLER, a.a.O., S. 616).

4.3.5 Italien
Über Klagen im Zusammenhang mit der Gewährung monetärer Sozialleistungen sind
nicht die Verwaltungs-, sondern die ordentlichen Gerichte zuständig. Sie
entscheiden im besonderen Verfahren des Prozesses in Arbeits- und
Sozialversicherungsangelegenheiten auf der Grundlage der Zivilprozessordnung (
Codice di procedura civile, CPC). Im Beschwerdefall greift das Gericht - falls
im Rahmen der Untersuchungsmaxime erforderlich - auf Gutachter (consulenti
tecnici) zurück. Als Sachverständige können nur Personen aus den speziellen
Sachverständigenverzeichnissen der Gerichte herangezogen werden. Die Parteien
selbst können die Anhörung eines
BGE 137 V 210 S. 263
Sachverständigen nur anregen, nicht aus eigenem Recht durchsetzen. Nach der
Regel des Art. 201 CPC muss das Gericht den Parteien jedoch die Möglichkeit
geben, Parteisachverständige zur streitigen Diskussion der Darlegungen des
gerichtlich bestellten Sachverständigen zu benennen. Wenn das Gericht vom
Sachverständigenurteil abweicht, führt dies zu einer erhöhten
Begründungspflicht. Folgt der Richter dem Urteil des gerichtlich bestellten
Sachverständigen, so braucht er seinen Dissens zu einem Parteisachverständigen
nicht zu begründen, es sei denn bei detaillierter Kritik einer Partei am
Gutachten des Gerichtssachverständigen. Die Kostenlosigkeit des
Gerichtsverfahrens erstreckt sich rechtsprechungsgemäss auch auf die im Rahmen
der richterlichen Aufklärung eingeholten Gutachten (HOHNERLEIN, a.a.O., S. 298
f.).

4.4

4.4.1

4.4.1.1 Ist das Gutachten einer versicherungsinternen oder -externen Stelle
nicht schlüssig und kann die offene Tatfrage nicht anhand anderer Beweismittel
geklärt werden, so stellt sich das Problem, inwieweit die mit der Streitsache
befasste Beschwerdeinstanz noch die Wahl haben soll zwischen einer Rückweisung
der Sache an die Verwaltung, damit diese eine neue oder ergänzende Expertise
veranlasse, und der Einholung eines Gerichtsgutachtens. Das Bundesgericht hat
dazu jüngst festgehalten, die den kantonalen Gerichten zufallende Kompetenz zur
vollen Tatsachenprüfung (Art. 61 lit. c ATSG) sei nötigenfalls durch Einholung
gerichtlicher Expertisen auszuschöpfen (BGE 136 V 376 E. 4.2.3 S. 381). Dies
schliesst ein, dass die erstinstanzlichen Gerichte diese Befugnis nicht ohne
Not durch Rückweisung an die Verwaltung delegieren dürfen.

4.4.1.2 Die Vorteile von Gerichtsgutachten (anstelle einer Rückweisung an die
IV-Stelle) liegen in der Straffung des Gesamtverfahrens und in einer
beschleunigten Rechtsgewährung. Die direkte Durchführung der Beweismassnahme
durch die Beschwerdeinstanz mindert das Risiko von - für die öffentliche Hand
und die versicherte Person - unzumutbaren multiplen Begutachtungen. Zwar gilt
die Sozialversicherungsverwaltung mit Blick auf die differenzierten Aufgaben
und die dementsprechend unterschiedliche funktionelle und instrumentelle
Ausstattung der Behörden in der Instanzenabfolge im Vergleich mit der Justiz
als regelmässig besser geeignet, Entscheidungsgrundlagen zu vervollständigen (
BGE 131 V 407 E. 2.1.1 S. 411). In der hier massgebenden Verfahrenssituation
BGE 137 V 210 S. 264
schlägt diese Rechtfertigung für eine Rückweisung indessen nicht durch.

4.4.1.3 Die Einschränkung der Befugnis der Sozialversicherungsgerichte, eine
Streitsache zur neuen Begutachtung an die Verwaltung zurückzuweisen, verhält
sich komplementär zu den (gemäss geänderter Rechtsprechung) bestehenden
partizipativen Rechten der versicherten Person im Zusammenhang mit der
Anordnung eines Administrativgutachtens (Art. 44 ATSG; vgl. oben E. 3.4).
Letztere tragen zur prospektiven Chancengleichheit bei, derweil das Gebot, im
Falle einer Beanstandung des Administrativgutachtens eine Gerichtsexpertise
einzuholen, die Waffengleichheit im Prozess gewährleistet, wo dies nach der
konkreten Beweislage angezeigt ist. Insoweit ist die ständige Rechtsprechung,
wonach das (kantonale) Gericht prinzipiell die freie Wahl hat, bei
festgestellter Abklärungsbedürftigkeit die Sache an den Versicherungsträger
zurückzuweisen oder aber selber zur Herstellung der Spruchreife zu schreiten
(vgl. statt vieler ARV 1997 S. 85, C 85/95 E. 5d mit Hinweisen; Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts H 355/99 vom 11. April 2000 E. 3b), zu ändern.

4.4.1.4 Freilich ist es weder unter praktischen noch rechtlichen
Gesichtspunkten - und nicht einmal aus Sicht des Anliegens, die
Einwirkungsmöglichkeiten auf die Erhebung des medizinischen Sachverhalts fair
zu verteilen - angebracht, in jedem Beschwerdefall auf der Grundlage eines
Gerichtsgutachtens zu urteilen. Insbesondere ist der Umstand, dass die MEDAS
von der Invalidenversicherung finanziert werden, kein genügendes Motiv dafür.
Doch drängt sich auf, dass die Beschwerdeinstanz im Regelfall ein
Gerichtsgutachten einholt, wenn sie einen (im Verwaltungsverfahren anderweitig
erhobenen) medizinischen Sachverhalt überhaupt für gutachtlich
abklärungsbedürftig hält oder wenn eine Administrativexpertise in einem
rechtserheblichen Punkt nicht beweiskräftig ist (vgl. die Kritik an der
bisherigen Rückweisungspraxis bei NIEDERBERGER, a.a.O., S. 144 ff.). Die
betreffende Beweiserhebung erfolgt alsdann vor der - anschliessend
reformatorisch entscheidenden - Beschwerdeinstanz selber statt über eine
Rückweisung an die Verwaltung. Eine Rückweisung an die IV-Stelle bleibt
hingegen möglich, wenn sie allein in der notwendigen Erhebung einer bisher
vollständig ungeklärten Frage begründet ist. Ausserdem bleibt es dem kantonalen
Gericht (unter dem Aspekt der Verfahrensgarantien) unbenommen, eine Sache
zurückzuweisen, wenn lediglich eine Klarstellung,
BGE 137 V 210 S. 265
Präzisierung oder Ergänzung von gutachtlichen Ausführungen erforderlich ist
(siehe beispielsweise das Urteil 9C_646/2010 vom 23. Februar 2011 E. 4; vgl.
auch SVR 2010 IV Nr. 49 S. 151, 9C_85/2009 E. 3.5).
Offenbleiben kann, ob eine, nach diesen Grundsätzen betrachtet,
ungerechtfertigte Rückweisung an die Verwaltung zwecks Einholung eines
Gutachtens einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil nach Art. 93 Abs. 1 lit.
a BGG bewirken könnte (vgl. oben E. 3.4.2.7 sinngemäss).

4.4.1.5 Nach dem Gesagten besteht Anspruch auf ein Gerichtsgutachten, wenn die
Abklärungsergebnisse aus dem Verwaltungsverfahren in rechtserheblichen Punkten
nicht ausreichend beweiswertig sind. Die entstandene Beweislücke muss adäquat
ausgefüllt werden. Konnte also auf ein (begründetermassen) interdisziplinäres
Administrativgutachten nicht abgestellt werden, so ist in der Regel auch
Interdisziplinarität des gerichtlichen Gutachtens erforderlich. Für solche
Fälle stehen die achtzehn MEDAS als von den Gerichten zu beauftragende
Sachverständige im Vordergrund, weil sie weitgehend den medizinischen
Sachverstand repräsentieren, welcher zur interdisziplinären Begutachtung
landesweit zur Verfügung steht. Sofern es einem Gericht im Einzelfall nicht aus
sachlichen Gründen geboten erscheint, eine bestimmte Abklärungsstelle (MEDAS
oder sonstige) mit der Begutachtung zu beauftragen, soll es die Stelle unter
Berücksichtigung der aktuell vorhandenen Kapazitäten bezeichnen können. Zu
prüfen wäre deshalb, inwieweit den Gerichten - etwa über die vom BSV in
Aussicht gestellte IT-Plattform (oben E. 3.1.2) - Daten über die Auslastung der
Begutachtungsstellen zur Verfügung gestellt werden sollten.

4.4.2 Wo zur Durchführung der vom Gericht als notwendig erachteten
Beweismassnahme an sich eine Rückweisung in Frage käme, eine solche indessen
mit Blick auf die Wahrung der Verfahrensfairness entfällt, sind die Kosten der
Begutachtung durch eine MEDAS den IV-Stellen aufzuerlegen und nach der (zu
modifizierenden; E. 3.2) tarifvertraglichen Regelung zu berechnen. Die
Vergütung der Kosten von MEDAS-Abklärungen als Gerichtsgutachten durch die
IV-Stelle ist mit Art. 45 Abs. 1 ATSG durchaus vereinbar. Danach übernimmt der
Versicherungsträger die Kosten der Abklärung, soweit er die Massnahmen
angeordnet hat. Hat er keine Massnahmen angeordnet, so übernimmt er deren
Kosten dennoch, wenn die
BGE 137 V 210 S. 266
Massnahmen für die Beurteilung des Anspruchs unerlässlich waren oder
Bestandteil nachträglich zugesprochener Leistungen bilden (vgl. auch Art. 78
Abs. 3 IVV).

5. Die in E. 2 festgestellten Defizite können durch die dargestellten
Korrektive insgesamt ausgeglichen werden; in dieser Sicht verstösst der Beizug
von Administrativexpertisen der MEDAS und deren Verwendung auch im
Beschwerdeverfahren nicht gegen die einschlägigen Verfahrensgarantien. Soweit
diese justiziabel sind, wird das Verfahren in den betreffenden Punkten
unmittelbar anzupassen sein. Weitere Vorkehren (E. 3.1, 3.2 und 3.3) liegen in
der Gestaltungsmacht des Verordnungsgebers und der Aufsichtsbehörde. Insofern
handelt es sich vorliegend um einen sogenannten Appellentscheid (vgl. BGE 136
II 120 E. 3.5.3 S. 131). Nur wenn die zuständigen Behörden die betreffenden
Fragen nicht binnen angemessener Zeit prüfen sollten, könnte das Bundesgericht
im Rahmen von Art. 190 BV gestützt auf die einschlägigen verfassungs- und
konventionsrechtlichen Garantien gehalten sein, im Einzelfall weitergehende
verbindliche Korrekturen vorzunehmen.

6. Bei Beachtung dieser Grundsätze für die Fallbeurteilung ist zu
berücksichtigen, dass die Anwendbarkeit justiziabler Korrektive (vgl. oben E.
3.4 und 4) auf laufende Verfahren (BGE 132 V 368 E. 2.1 S. 369) nicht bedeutet,
dass nach altem Verfahrensstandard eingeholte Gutachten ihren Beweiswert per se
verlören. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften Prüfung des Einzelfalls mit
seinen spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen Rügen entscheidend, ob das
abschliessende Abstellen auf die vorhandenen Beweisgrundlagen im angefochtenen
Entscheid vor Bundesrecht standhält.

6.1 Vorab lehnt die Beschwerdeführerin die psychiatrische Teilgutachterin der
MEDAS, Frau Dr. B., ab.

6.1.1 Diese habe sie - wegen vermeintlich unpünktlichen Erscheinens - "lauthals
zusammengestaucht"; in der Folge sei die gesamte Exploration in dieser Art
verlaufen. Die Sachverständige sei damit voreingenommen und die von ihr
abgegebene Teilexpertise unverwertbar. Die Vorinstanz hält entgegen, diese Rüge
hätte nicht erst im kantonalen Beschwerdeverfahren, sondern schon im
Vorbescheidverfahren vorgebracht werden müssen, weshalb sie nicht zu hören sei.
Tatsächlich müssen Ausstands- oder Ablehnungsgründe nach wie vor so früh wie
möglich geltend gemacht werden. Es verstösst gegen Treu und Glauben,
Einwendungen dieser Art erst im
BGE 137 V 210 S. 267
Rechtsmittelverfahren vorzubringen, wenn dies schon vorher möglich und zumutbar
gewesen wäre. Wird die sachverständige Person nicht unverzüglich als befangen
abgelehnt, wenn die betroffene Person vom Ablehnungsgrund Kenntnis erhält,
verwirkt sie den Anspruch auf spätere Anrufung der Verfahrensgarantie (BGE 132
V 93 E. 7.4.2 S. 112; LEUZINGER-NAEF, a.a.O., S. 433). Das Argument der
Beschwerdeführerin, die Rüge wäre im Vorbescheidverfahren "mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit (...) nicht zugelassen worden", hält der
Anforderung einer frühzeitigen Geltendmachung nicht stand. Massgebend für die
Rechtzeitigkeit eines Befangenheitseinwands sind nicht dessen praktische
Erfolgsaussichten in einem bestimmten Verfahrensstadium. Grundsätzlich müssen
Ausstands- oder Ablehnungsgründe in die Entscheidungsfindung einfliessen,
sobald sie der betroffenen Person bekannt werden. Dieses Erfordernis folgt
nicht nur aus dem schon erwähnten Gebot treumässigen Verhaltens im Verwaltungs-
und Verwaltungsjustizverfahren; es liegt auch im Interesse der
Verfahrenseffizienz.

6.1.2 Eine andere Frage ist, ob am Grundsatz unter allen Umständen festzuhalten
ist, wenn sich die Ernsthaftigkeit des Ausstandsbegehrens in anderer Weise
zeitgerecht manifestiert hat. Der behandelnde Psychiater Dr. S. gelangte
umgehend nach der Untersuchung in der MEDAS, noch vor Ausfertigung des
Gutachtens, schriftlich an die Konsiliarexpertin, um deren Verhalten seiner
Patientin gegenüber zu rügen (Schreiben vom 25. Juni 2008); aus der von Dr. S.
erstellten Krankengeschichte ergibt sich sodann, die betreffende
Sachverständige habe diesbezüglich "kein Gehör und Gespür", das Gespräch sei
insgesamt unerfreulich verlaufen (Eintrag vom 9. Juli 2008). Ob auch unter
diesen Umständen von einer Verwirkung der formellen Einwendung ausgegangen
werden darf, kann einmal deswegen offenbleiben, weil die Vorinstanz aus anderen
Gründen ohnehin eine neue interdisziplinäre Begutachtung veranlassen wird
(nachfolgend E. 6.2). Die besonderen Begleitumstände der (psychiatrischen)
Begutachtung schlagen überdies direkt auf den Beweiswert der Expertise durch.
Gemäss den Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für
Versicherungspsychiatrie (SGVP) für die Begutachtung psychischer Störungen (in:
Schweizerische Ärztezeitung [SAeZ] 2004 S. 1048 ff.), welche den fachlich
anerkannten Standard einer sachgerechten und rechtsgleichen psychiatrischen
Begutachtungspraxis in der Sozialversicherung wiedergeben (Urteil I 142/07 vom
20. November 2007 E. 3.2.4; ferner - statt vieler - Urteile 8C_424/2010
BGE 137 V 210 S. 268
vom 19. Juli 2010 E. 3.2.1; 9C_233/2009 vom 6. Mai 2009 E. 2.3.2; 8C_694/2008
vom 5. März 2009 E. 5.3 und I 1094/06 vom 14. November 2007 E. 3.1.1), stellt
jede Begutachtung, trotz allen Bemühens um Objektivität und Neutralität, einen
Eingriff in das Krankheitsgeschehen dar. Daraus folgt, dass der Gutachter die
emotionale Wechselwirkung zwischen dem Exploranden und sich selbst, die
Motivation des Exploranden sowie die Aspekte der Abwehr, Übertragung und
Gegenübertragung reflektieren muss (Ziff. III/2). Eine Begutachtung, welche
interpersonellen Prozessen nicht Rechnung trägt, kann nicht als lege artis
anerkannt werden. Angesichts des konfliktbeladenen Einstiegs in die Exploration
ist auszuschliessen, dass das betreffende Erfordernis vorliegend erfüllt ist.

6.2 Die Vorinstanz hat die Gutachten der MEDAS und der Klinik S. gewürdigt und
bei seinem Entscheid auf die Schlussfolgerungen der Ersteren abgestellt.

6.2.1 Nach Ansicht des kantonalen Gerichts ist die Expertise der Klinik S.,
wenngleich "ausführlich und umfassend ausgefallen", in ihren Schlussfolgerungen
nicht überzeugend. Einerseits werde festgehalten, die Arbeitsfähigkeit sei aus
somatischen und psychischen Gründen um 50 Prozent eingeschränkt; anderseits
werde eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit als aus somatischer Sicht
zumutbar, aus psychischen Gründen aber als "schwer bzw. geradezu unrealistisch"
umsetzbar bezeichnet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz gibt es keine
Hinweise darauf, dass die gutachtlichen Differenzierungen einer Uneinigkeit
unter den beteiligten Sachverständigen geschuldet sein könnten. Vielmehr werden
unterschiedliche Sachverhalte - einerseits die funktionelle Leistungsfähigkeit,
anderseits deren (invalidenversicherungsrechtlich gegebenenfalls
unmassgebliche) praktische Umsetzbarkeit quantifiziert. Ein Mangel an
gutachtlicher Klarheit - nicht zu verwechseln mit einer bewusst angelegten
Unbestimmtheit, welche eine Schwierigkeit der Sachverhaltsklärung widerspiegelt
- ist nur mit grosser Zurückhaltung interpretatorisch auszuräumen;
Beweiswürdigung soll sich möglichst nicht auf spekulative Elemente stützen.
Hier indessen kann den zitierten Stellen des Gutachtens zwanglos die
Gesamtaussage entnommen werden, der organische Befund an sich lasse eine
leichte bis mittelschwere Tätigkeit zu, während die psychische Beeinträchtigung
- wiederum für sich allein betrachtet - eine hälftige Leistungseinschränkung
bedeute. Aus dem Zusammenwirken der Befunde folge sodann eine Minderung der
Leistungsfähigkeit um 75 Prozent.
BGE 137 V 210 S. 269
Die Schlussfolgerungen im Gutachten der Klinik S. werden durch den Bericht des
Psychiaters Dr. S. vom 4. September 2003 gestützt. Dieser Arzt empfahl eine
"baldige Reintegration am Arbeitsplatz mit steigender zeitlicher Belastung" und
warnte damit implizit bereits zu einem frühen Zeitpunkt vor den
gesundheitlichen Implikationen einer arbeitsmarktlichen Desintegration.
Ungeachtet dessen hat die IV-Stelle zwischen Anmeldung und erstmaliger
Begutachtung lange Zeit keine Eingliederungsmassnahmen (nach damaligem Recht)
ergriffen.

6.2.2 Selbst wenn mit der Vorinstanz festzustellen gewesen wäre, das Gutachten
der Klinik S. enthalte widersprüchliche Angaben zur Arbeitsfähigkeit, wäre das
Beweismittel deswegen nicht schlichtweg unbeachtlich; jedenfalls weichen die
untereinander scheinbar widersprüchlichen Einschätzungen allesamt erheblich von
der Beurteilung im MEDAS-Gutachten ab. Sofern die Expertise der Klinik S. nicht
aus anderen Gründen ohnehin beweisuntauglich sein sollte, müsste die
Unstimmigkeit erst einmal zu einer Rückfrage an die Sachverständigen führen.
Auch die vorinstanzliche Feststellung, die Gutachter an der Klinik S. hätten
sich nicht zur Frage der Überwindbarkeit der Beschwerden (im Hinblick auf die
bestmögliche Ausschöpfung der funktionellen Leistungsfähigkeit) geäussert,
dürfte dieses Dokument nicht gänzlich von der Beweiswürdigung ausschliessen.
Ist ein Beweismittel unvollständig oder ist ihm ein anderer Mangel eigen, so
darf es nicht in seiner Gesamtheit unberücksichtigt gelassen werden, weil
ansonsten ein verbleibender Erkenntnisgewinn verloren ginge. Dem Gutachten aus
den genannten Gründen den Beweiswert abzusprechen, verletzt den
bundesrechtlichen Grundsatz der freien und umfassenden Beweiswürdigung (Art. 43
Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG).

6.2.3 Weiter kann nicht gesagt werden, der Expertise der Klinik S. liege nicht
die nötige Fachkunde zugrunde. In ihrer Stellungnahme vom 18. April 2007
begegneten Prof. A. und Prof. O. der im RAD-Bericht vom 14. März 2007 erhobenen
Kritik am Gutachten der Klinik S. vom 9. Januar 2007, wonach die Beurteilung
psychogener Beschwerden nicht in das Fachgebiet eines Neurologen gehöre, zu
Recht mit dem Hinweis, die Beurteilung beruhe auf dem Konsens der beteiligten
Experten im Rahmen der interdisziplinären Begutachtung. Hinzu kommt, dass es
nicht in jedem Fall überhaupt wünschbar ist, fachübergreifende Stellungnahmen
eines einer anderen
BGE 137 V 210 S. 270
Disziplin zugehörigen Arztes zu vermeiden; so wird etwa dem Rheumatologen auch
in Bezug auf psychosomatische Beschwerden eine beschränkte
Beurteilungskompetenz zugebilligt (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 704
/03 vom 28. Dezember 2004 E. 4.1.1; vgl. auch Urteil 9C_621/2010 vom 22.
Dezember 2010 E. 2.2.2).

6.2.4 Der Beweiswert des MEDAS-Gutachtens kann nach dem Gesagten, anders als
die Beschwerdeführerin meint, nicht aus prinzipiellen Gründen verworfen werden.
Im konkreten Fall jedoch enthält es keine überprüf- und nachvollziehbaren
Angaben, wie die erhebliche Differenz zu den Schlussfolgerungen zur Expertise
der Klinik S. zustandekommt. In diesem Sinne ist das Administrativgutachten
nicht schlüssig. Die Vorinstanz führt unter Hinweis auf das Urteil 9C_528/2008
vom 26. März 2009 E. 2.2 aus, eine explizite gutachtliche Auseinandersetzung
mit den Vorakten werde von der Rechtsprechung nicht verlangt; vielmehr sei nur
- aber immerhin - erforderlich, dass das Gutachten in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden sei. Diese Aussage ist in dieser Form
offensichtlich nicht mit der einschlägigen ständigen Rechtsprechung vereinbar
(vgl. aber immerhin die Hinweise bei BOLLINGER, a.a.O., Fn. 92). Richtig ist
hingegen, dass in einem Aktenauszug keine Zusammenfassung der aufgeführten
Dokumente verlangt ist. Der Gutachter hat sich im Rahmen seiner eigenen
Beurteilung mit den wesentlichen Vorakten zu befassen, soweit die betreffenden
Stellungnahmen - abhängig von ihrem Entstehungskontext - hinreichend
substantiiert und nicht unter einem anderen Aspekt offenkundig vernachlässigbar
sind. Dass und inwiefern der Sachverständige die Vorakten bei der Untersuchung
in seine Überlegungen einbezieht, muss im Text des Gutachtens zum Ausdruck
kommen. Die Ausführungen müssen umso ausführlicher ausfallen, je grösser
allfällige Divergenzen sind und je unmittelbarer sie für die zu klärenden
Belange bedeutsam sind. Das MEDAS-Gutachten erfüllt diese Anforderung nicht,
weshalb darauf nicht abschliessend abgestellt werden kann.

6.2.5 Auf der anderen Seite ist nicht auszuschliessen, dass den gutachtlichen
Schlussfolgerungen der Klinik S. nicht nur gesundheitliche Gründe, sondern
teilweise auch nicht versicherte (soziale) Faktoren zugrundeliegen. Aus diesem
Grund kann auch dieses Gutachten nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage
herangezogen werden, wenngleich nicht anzunehmen ist, der vermerkte Mangel an
Motivation sei in die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit eingeflossen.
BGE 137 V 210 S. 271

6.3 Zusammengefasst ergibt sich, dass ein abschliessender materieller Entscheid
aufgrund des gegebenen medizinischen Dossiers nicht möglich ist. Die Sache ist
daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses ein
Gerichtsgutachten einhole und gestützt darauf neu entscheide.

7.

7.1 Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu erneuter Abklärung gilt für
die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung
als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und
2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende Begehren im
Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235;
Urteil 8C_671/2007 vom 13. Juni 2008 E. 4.1).

7.2 Bei diesem Verfahrensausgang hat die unterliegende IV-Stelle die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Was die Höhe anbelangt, ist die
Kostenpflicht auf einen Rahmen von 200 bis 1'000 Franken beschränkt, da es um
die Invalidenrente als Sozialversicherungsleistung geht (Art. 65 Abs. 4 lit. a
BGG). Wenn besondere Gründe es rechtfertigen, kann über diesen Höchstbetrag bis
zu maximal 10'000 Franken hinausgegangen werden (vgl. Art. 65 Abs. 5 BGG). Die
Überprüfung der IV-Begutachtungspraxis auf ihre Rechtskonformität hin
verursachte dem Bundesgericht einen überdurchschnittlichen Aufwand, der durch
den Ausgleichsfonds der Invalidenversicherung (Art. 79 IVG) angemessen
abzugelten ist.

7.3 Der obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin steht eine
Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG). Bei deren Bemessung ist der
überdurchschnittliche Aufwand im bundesgerichtlichen Verfahren ex aequo et bono
zu berücksichtigen.