Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 V 162



Urteilskopf

137 V 162

22. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. SVA Aargau,
Ausgleichskasse gegen H. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_150/2011 vom 3. Mai 2011

Regeste

Art. 43^bis Abs. 4 AHVG; kein Wiederaufleben der Hilflosenentschädigung bei
erneuter Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen.
Besitzstandsgarantien im Sozialversicherungsrecht setzen eine ausdrückliche
gesetzliche Grundlage voraus. Art. 43^bis Abs. 4 AHVG betrifft nicht
Sachverhaltsänderungen. Ein Wiederaufleben zufolge Sachverhaltsänderung
untergegangener Ansprüche ist gesetzlich nicht vorgesehen, weshalb der
vormalige Anspruch auf Hilflosenentschädigung der AHV nicht wieder auflebt,
selbst wenn die entsprechenden Voraussetzungen zu einem späteren Zeitpunkt
erneut erfüllt werden (E. 2 und 3).

Sachverhalt ab Seite 163

BGE 137 V 162 S. 163

A. H., geboren 1941, bezog bis zum Erreichen des AHV-Rentenalters am 1. April
2006 eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung für eine
Hilflosigkeit schweren Grades, anschliessend richtete die AHV eine Leistung in
gleicher Höhe aus. Am 1. November 2008 zog H. von der eigenen Wohnung in die
Stiftung X. Die Sozialversicherungsanstalt Aargau, Ausgleichskasse
(nachfolgend: SVA), verfügte bei weiterhin unbestrittenem Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung schweren Grades zufolge Änderung des Aufenthaltsortes am
26. März 2009 die Anpassung der Hilflosenentschädigung auf den halben Ansatz
und forderte zu viel bezogene Leistungen zurück. Ab 1. Oktober 2009 wohnte H.
wieder ausserhalb eines Heimes. Die SVA verfügte am 3. Februar 2010, es bestehe
weiterhin Anspruch auf den halben Ansatz der Hilflosenentschädigung schweren
Grades, weil sich H. im AHV-Alter befinde und der Besitzstand nach Verlassen
des Heims nicht wieder aufleben könne. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 11. Mai 2010 fest.

B. In Gutheissung der hiegegen erhobene Beschwerde des H. hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau den Einspracheentscheid vom 11. Mai
2010 mit Entscheid vom 21. Dezember 2010 auf und sprach H. ab 1. Oktober 2009
den ganzen Ansatz der Hilflosenentschädigung zu.

C. Die SVA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
folgenden Rechtsbegehren:
"Es sei die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gutzuheissen
und das Urteil des Versicherungsgerichtes des Kantons Aargau vom 21. Dezember
2010 aufzuheben.
Es sei festzustellen, dass der Beschwerdegegner gemäss Verfügung vom 3. Februar
2010 ab 1. Oktober 2009 Anspruch auf den halben Ansatz der
Hilflosenentschädigung hat.
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Es sei der vorliegenden Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Es seien die Kosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen."
H., vertreten durch den Rechtsdienst Integration Handicap, schliesst auf
Abweisung der Beschwerde; dem Antrag um aufschiebende Wirkung widersetzt er
sich nicht. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine
Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Vorinstanz erwog, der Wortlaut des Art. 43^bis Abs. 4 AHVG regle nicht,
unter welchen Umständen die Besitzstandsgarantie dahinfalle. Auch das
systematische Auslegungselement führe nicht weiter. Die bei der historischen
Auslegung zu berücksichtigende Botschaft vom 21. Februar 2001 über die 4.
Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (BBl 2001 3205 ff.),
wonach der Betrag einer Assistenzentschädigung der IV auch im AHV-Alter
ausgerichtet werde, sofern die entsprechenden Voraussetzungen weiterhin erfüllt
sind (Botschaft, a.a.O., 3249 Ziff. 2.3.1.5.4.1, 3301 Ziff. 4.4.3 ad Art. 43^
bis Abs. 4 AHVG), spreche nicht dagegen, der versicherten Person nach
Beendigung eines Heimaufenthaltes wiederum den ganzen Ansatz der
Hilflosenentschädigung zuzusprechen. Nichts anderes ergebe die teleologische
Auslegung, zumal der Leitgedanke des Art. 43^bis Abs. 2 AHVG darin bestehe,
eine Leistungsverschlechterung im Ablösungsfall zu vermeiden. Der Versicherte
habe sowohl vor als auch nach dem Heimaufenthalt die Voraussetzungen für eine
schwere Hilflosigkeit erfüllt und der Heimaufenthalt sei nur von
vorübergehender Natur gewesen; die Herabsetzung des Ansatzes habe einzig aus
der veränderten Wohnsituation resultiert. Schliesslich fehle für die von der
Verwaltung vertretene Ansicht eine gesetzliche Grundlage, weshalb die
Hilflosenentschädigung des Versicherten nach dessen Heimaufenthalt zu Unrecht
beim halben Ansatz belassen worden sei. Korrekterweise lebe die in Art. 43^bis
Abs. 4 AHVG festgeschriebene Besitzstandsgarantie wieder auf und es bestehe
nach Verlassen des Heims wiederum Anspruch auf dieselbe Hilflosenentschädigung
wie vor dem Heimaufenthalt.

2.2 Die Beschwerde führende Sozialversicherungsanstalt rügt, der angefochtene
Entscheid verletze Bundesrecht. Die
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Besitzstandsgarantie wirke sich zeitlich auf den Ablösefall (von der IV zur
AHV) aus und halte nur so lange an, wie die entsprechenden Voraussetzungen
erfüllt seien. Eine zufolge Sachverhaltsänderung erlassene neue
Leistungsverfügung beruhe inhaltlich allein auf einer materiell-rechtlichen
Anspruchsprüfung, aber nicht mehr auf besitzstandsrechtlichen Überlegungen. Ein
Wiederaufleben widerspreche somit dem entscheidenden Gedanken, welcher dem
Besitzstand nach Art. 43^bis Abs. 4 AHVG zu Grunde liege. Auch in Zusammenhang
mit Zusatzrenten gelte nichts anderes. Diese würden ebenfalls nur so lange
ausgerichtet, als die bisherigen Anspruchsgrundlagen gegeben seien.

3.

3.1 Nach Art. 43^bis Abs. 4 AHVG wird einer hilflosen Person, welche bis zum
Erreichen des Rentenalters oder dem Rentenvorbezug eine Hilflosenentschädigung
der Invalidenversicherung bezog, die Entschädigung mindestens im bisherigen
Betrag weitergewährt. Unbestrittenermassen hatte die AHV-Stelle den Ansatz der
Hilflosenentschädigung des von dieser Besitzstandsgarantie profitierenden
Versicherten nach dessen Heimeintritt zu Recht halbiert (Art. 42^ter Abs. 2
IVG). Streitig ist indes, ob er nach dem Austritt aus dem Heim wiederum
Anspruch auf eine Verdoppelung des Ansatzes hat. Diesbezüglich ist dem Wortlaut
von Art. 43^bis Abs. 4 AHVG nichts zu entnehmen.

3.2 Der Bundesrat führte nach den zutreffenden Ausführungen im angefochtenen
Entscheid in seiner Botschaft unter dem Titel "Verhältnis zur AHV" (BBl 2001
3249 Ziff. 2.3.1.5.4.1) aus, dass Personen, die bereits vor Eintritt ins
AHV-Alter eine Assistenzentschädigung bezogen, denselben Betrag im AHV-Alter
weiter erhalten sollten, "solange die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt
sind (Besitzstand)". Daraus lässt sich indes nicht ableiten, nach Wegfall einer
Voraussetzung - z.B. für den höheren Ansatz der Hilflosenentschädigung der
ausserhalb eines Heimes wohnenden Versicherten - lebe der vormalige Anspruch
bei deren erneuter Erfüllung zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf. Sinn und
Zweck der Besitzstandsgarantie gemäss Art. 43^bis Abs. 4 AHVG ist es, zu
verhindern, dass die Versicherten beim Eintritt ins Rentenalter allein wegen
der Ablösung der IV durch die AHV eine Leistungskürzung gewärtigen müssen (zu
den historischen Hintergründen der Einführung dieser Bestimmung vgl. Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts H 218/04 vom 5. Dezember 2005 E. 6). Dies steht im
Einklang mit dem
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generellen Wesen von Besitzstandsgarantien, wonach eine (blosse) Rechtsänderung
die unter bisherigem Recht erworbenen Rechtspositionen unberührt lassen soll,
auch wenn sie dem neuen Recht nicht mehr entsprechen (vgl. z.B. Urteil I 714/06
vom 20. April 2007 E. 3.2; UELI KIESER, Besitzstand, Anwartschaften und
wohlerworbene Rechte in der beruflichen Vorsorge, SZS 1999 S. 294 und 299). Im
Sozialversicherungsrecht darf ein Besitzstand nur dann und soweit angenommen
werden, als er im Gesetz ausdrücklich garantiert ist (BGE 118 V 1 E. 4a S. 4).
Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes und weil eine anspruchserhebliche
Sachverhaltsänderung (unabhängig davon, ob sie freiwillig erfolgte) nicht mit
einer die Besitzstandswahrung auslösenden Rechtsänderung gleichgesetzt werden
kann, ist eine einschränkende Auslegung des Art. 43^bis Abs. 4 AHVG angezeigt.
Auch mit Blick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung von Versicherten gibt es
keinen Grund, die vom Besitzstand gemäss Art. 43^bis Abs. 4 AHVG profitierenden
Personen bei Änderung der tatsächlichen Verhältnisse anders zu behandeln als
alle anderen Versicherten, die im AHV-Alter Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung erheben und die den Bezügern von
Hilflosenentschädigungen der IV nicht gleichzustellen sind (BGE 102 V 4). Diese
Meinung vertrat im Übrigen auch das BSV im IV-Rundschreiben Nr. 209 vom 1.
November 2009 im Hinblick auf die Aufhebung der bis Ende 2010 gültig gewesenen
Rz. 8129 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der
Invalidenversicherung (KSIH) auf Ende 2010, auf die sich Vorinstanz und
Beschwerdegegner berufen (die indes für das Sozialversicherungsgericht nicht
verbindlich ist und gestützt auf welche keine über Gesetz und Verordnung
hinausgehenden Leistungen eingeführt werden können). Es verhält sich auch,
entgegen dem in der Vernehmlassung dargelegten Standpunkt, nicht grundsätzlich
anders als beispielsweise beim Wegfall der Voraussetzungen für eine
Zusatzrente, bei der ein Wiederaufleben ebenfalls ausgeschlossen ist (hiezu
Urteil I 714/06 vom 20. April 2007 E. 3.2, in: SVR 2008 IV Nr. 10 S. 30 ff.;
vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 33/05 vom 14. Juni 2005 E.
4.3). Im Übrigen kennt das Sozialversicherungsrecht auch bei (anderen)
Statuswechseln keine wiederauflebbare Besitzstandsgarantie (vgl. z.B.
betreffend Zivilstandsänderung Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 321/95
vom 17. Oktober 1996 E. 6c, in: Pra 1997 Nr. 29 S. 159 ff. mit Hinweis auf BGE
113 V 118 E. 4c; H 197/91 vom 27. März 1992 E. 3a). Das Gesetz bietet somit
keine Grundlage für einen Bestandesschutz oder eine Besitzstandsgarantie, wenn
nach Erreichen der
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Altersgrenze anspruchsrelevante Änderungen eintreten; vielmehr liegt diesfalls
gar kein Anwendungsfall von Art. 43^bis Abs. 4 AHVG mehr vor. Ein
Wiederaufleben der früheren Besitzstandsleistung scheidet somit aus.