Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 I 327



Urteilskopf

137 I 327

31. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des
Kantons St. Gallen gegen K. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_272/2011 vom 11. November 2011

Regeste

Art. 13 Abs. 1 und Art. 36 BV; Art. 179^quater StGB; Art. 43 in Verbindung mit
Art. 28 Abs. 2 ATSG; Art. 59 Abs. 5 IVG.
Art. 59 Abs. 5 IVG bildet eine genügende gesetzliche Grundlage für die
privatdetektivliche Observation in einem von jedermann ohne weiteres frei
einsehbaren Privatbereich (in casu: Balkon; E. 5.2). Die Observation muss
objektiv geboten sein (E. 5.4.2). Videoaufnahmen der versicherten Person, die
sie bei alltäglichen Verrichtungen (Haushaltsarbeiten) auf dem frei einsehbaren
Balkon zeigen, verletzen den dabei durch Art. 179^quater StGB vorgegebenen
Rahmen nicht (E. 6.1 und 6.2).

Sachverhalt ab Seite 328

BGE 137 I 327 S. 328

A. Die 1967 geborene K. meldete sich am 14. Mai 2008 unter Hinweis auf seit
1997 bestehende Rückenschmerzen und psychische Beschwerden bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Abklärungen medizinischer und
erwerblicher Art, insbesondere nach Einholung eines polydisziplinären
Gutachtens der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS; vom 20. Februar 2009),
gemäss welchem eine mittelgradige depressive Episode, eine generalisierte
Angststörung mit Panikattacken, der Verdacht auf eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung und ein generalisiertes, chronisches Schmerzsyndrom mit
Hyperalgesie rechts und Hypästesie rechts, einhergehend mit vielen vegetativen
Begleitbeschwerden, bestehen, stellte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
(nachfolgend: IV-Stelle) die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 70 % in Aussicht (Vorbescheid vom 8. Oktober 2009).
Gestützt auf eine vorgängig bei ihrem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD)
eingeholte Stellungnahme des Dr. med. N. vom 13. Mai 2009, der die Beschaffung
von zusätzlichen Informationen zum alltäglichen Verhalten und zur Belastbarkeit
der Versicherten wegen der bei ihr gutachterlich festgestellten erheblichen
Verdeutlichungstendenz, Selbstlimitierung und Inkonsistenzen als sinnvoll
erachtete, liess die IV-Stelle K. vom 29. September bis 1. Oktober 2009 von der
S. GmbH, überwachen. Zu den am 9. Oktober 2009 erstatteten Ergebnissen der
Observation hielt die RAD-Ärztin Dr. med. H., Fachärztin FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, am 26. Januar 2010 u.a. fest, die beobachteten Fähigkeiten
seien durchaus mit leichten bis mittelschweren Reinigungstätigkeiten zu
vereinbaren. Mit einer relevanten bzw. völligen Arbeitsunfähigkeit sei das
Observationsmaterial hingegen nicht in Einklang zu bringen. Aufgrund dieser
Ergebnisse verneinte die IV-Stelle nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
verfügungsweise am 22. April 2010 einen Anspruch auf Invalidenrente.
Mit Verfügung vom 8. Juni 2010 wies die IV-Stelle zudem ein Gesuch der
Versicherten um unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab.
BGE 137 I 327 S. 329

B. K. liess gegen beide Verfügungen Beschwerde erheben. Das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen vereinigte die Verfahren. In
teilweiser Gutheissung der gegen die Verfügung vom 22. April 2010 geführten
Beschwerde hob es diese auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung im Sinne
der Erwägungen und anschliessender Neuverfügung an die Verwaltung zurück. Es
bejahte zudem den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im
Verwaltungsverfahren, was zur Gutheissung der entsprechenden Beschwerde führte
(Entscheid vom 3. März 2011).

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids vom 3. März 2011.
Eventualiter sei die Sache - unter Berücksichtigung des Observationsmaterials -
zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
K. lässt das Rechtsbegehren stellen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit
darauf einzutreten sei. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
schliesst auf Nichteintreten, eventualiter Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen beantragt die Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Wer Versicherungsleistungen beansprucht, muss unentgeltlich alle Auskünfte
erteilen, die zur Abklärung des Anspruchs und zur Festsetzung der
Versicherungsleistungen erforderlich sind (Art. 28 Abs. 2 ATSG [SR 830.1]). Die
Versicherten und ihre Arbeitgeber haben beim Vollzug der
Sozialversicherungsgesetze unentgeltlich mitzuwirken (Art. 28 Abs. 1 ATSG).
Personen, die Versicherungsleistungen beanspruchen, haben alle Personen und
Stellen, namentlich Arbeitgeber, Ärztinnen und Ärzte, Versicherungen sowie
Amtsstellen im Einzelfall zu ermächtigen, die Auskünfte zu erteilen, die für
die Abklärung von Leistungsansprüchen erforderlich sind. Diese Personen und
Stellen sind zur Auskunft verpflichtet (Art. 28 Abs. 3 ATSG).
Gemäss Art. 43 Abs. 1 ATSG prüft der Versicherungsträger die Begehren, nimmt
die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen
Auskünfte ein. Die IV-Stellen haben sodann die versicherungsmässigen
Voraussetzungen zu prüfen (Art. 57 Abs. 1 lit. c IVG). Zur Bekämpfung des
ungerechtfertigten
BGE 137 I 327 S. 330
Leistungsbezugs können die IV-Stellen Spezialisten beiziehen (Art. 59 Abs. 5
IVG).

4.

4.1 Streitig ist der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf eine Rente der
Invalidenversicherung. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob die Überwachung
durch einen Privatdetektiv rechtlich zulässig und somit die
Observationsergebnisse als rechtmässig erlangtes Beweismittel verwertbar sind,
was die Vorinstanz verneint.

4.2 Das kantonale Gericht sieht die durch Art. 43 in Verbindung mit Art. 28
Abs. 2 ATSG abgedeckte Beobachtung im öffentlichen Raum (BGE 135 I 169)
überschritten: Ein Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre (Art.
13 BV) setze einen begründeten (Anfangs-)Verdacht für die Anordnung der
Observation voraus, welcher hier nicht vorliege. Die Observation sei auch nicht
erforderlich gewesen, weshalb sie als unverhältnismässig anzusehen sei. Sodann
gehöre der Balkon einer Wohnung zum Hausfriedensbereich gemäss Art. 186 StGB.
Indem der Privatdetektiv Tatsachen aufgenommen habe, die sich in diesem
geschützten Privatbereich abspielten, sei Art. 179^quater StGB verletzt worden.

4.3 Wie die Vorinstanz feststellte, entstand der überwiegende Teil der
Aufnahmen des Privatdetektivs aus der Beobachtung der Balkone der von der
Versicherten gemieteten Wohnungen an der Strasse X., und (nach dem Umzug) an
der Strasse Y. Die meisten gefilmten Tätigkeiten haben nicht an öffentlich
zugänglichen Orten stattgefunden, aber an einem ohne weiteres öffentlich
einsehbaren Privatbereich in dem Sinne, dass beide Balkone nicht gegen
Einblicke besonders geschützt waren und das ungehinderte, freie Beobachten der
Beschwerdegegnerin ohne spezielle Vorkehrungen von der Strasse aus möglich war.

4.4 Nach der Rechtsprechung berührt die Erhebung und Aufbewahrung
erkennungsdienstlicher Daten, worunter auch Videoaufnahmen fallen, im
öffentlich-rechtlichen Verhältnis den Schutzbereich der persönlichen Freiheit
oder den Schutz der Privatsphäre (Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 BV; BGE 136 I 87
E. 8.1; BGE 135 I 169 E. 4.4; BGE 133 I 77 E. 3.2 mit Hinweisen). In der
privatdetektivlichen Beobachtung der Beschwerdegegnerin im frei einsehbaren
privaten Raum ist eine Verletzung der Privatsphäre zu sehen. Eine Einschränkung
des verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutzes bedarf einer gesetzlichen
Grundlage, muss im öffentlichen Interesse liegen,
BGE 137 I 327 S. 331
verhältnismässig sein und den Kerngehalt des Grundrechts wahren (Art. 36 BV;
BGE 135 I 169 E. 4.4 S. 171 f.). Diese Voraussetzungen sind nachfolgend zu
prüfen.

5.

5.1 In BGE 135 I 169 E. 5.4.2 S. 173 hat das Bundesgericht erwogen, eine
regelmässige Observation versicherter Personen durch Privatdetektive stelle
jedenfalls dann einen durch Art. 43 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 ATSG
abgedeckten, relativ geringfügigen Eingriff in die grundrechtlichen Positionen
der überwachten Personen dar, wenn sie sich auf den öffentlichen Raum
beschränken. Durch eine solche Überwachung werde der Kerngehalt von Art. 13 BV
nicht angetastet (vgl. auch: BGE 132 V 241 E. 2.5.1 S. 242). Da die genannten
Bestimmungen des ATSG im Bereich der Invalidenversicherung ebenfalls anwendbar
sind (Art. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG), ist die Voraussetzung
einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage einer Observation im öffentlichen
Raum grundsätzlich erfüllt.

5.2 Für das invalidenversicherungsrechtliche Verfahren besteht überdies in Art.
59 Abs. 5 IVG eine spezialgesetzliche Grundlage, welche zur Bekämpfung des
ungerechtfertigten Leistungsbezugs den Beizug von Spezialisten ermöglicht. Dass
damit der Einsatz von Privatdetektiven gemeint ist, steht nicht in Frage
(AEBI-MÜLLER/EICKER/VERDE, Grenzen bei der Verfolgung von
Versicherungsmissbrauch mittels Observation, in: Versicherungsmissbrauch,
Riemer-Kafka [Hrsg.], 2010, S. 39 mit Verweis in Fn. 117 auf AB 2006 N 396;
2006 S 609). Hinsichtlich der notwendigen Bestimmtheit der gesetzlichen
Grundlage lässt sich weder dem Gesetzeswortlaut noch der Botschaft vom 22. Juni
2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (5.
Revision; BBl 2005 4459 Ziff. 2.1 zu Art. 59 Abs. 5 IVG) etwas entnehmen.
Jedenfalls sind die Voraussetzungen einer zulässigen privatdetektivlichen
Observation durch die Spezialgesetzgebung nicht weiter eingeschränkt. In
Beachtung des Umstands, dass bei der hier zu beurteilenden Sachlage der
Eingriff in die Privatsphäre nach Art. 13 BV nicht als schwer einzustufen ist,
wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt, kann - auch wenn sich die
Observation nicht auf den öffentlichen Raum beschränkte, sondern den von
jedermann ohne weiteres einsehbaren Privatbereich miteinbezog - in Art. 59 Abs.
5 IVG von seinem Wortlaut sowie seinem Sinn und Zweck her eine hinreichende
gesetzliche Grundlage für die hier zu beurteilende Observation gesehen werden.
BGE 137 I 327 S. 332

5.3 Das öffentliche Interesse an der Einschränkung des Schutzes der
Privatsphäre liegt darin, nur geschuldete Leistungen zu erbringen, um die
Gemeinschaft der Versicherten nicht zu schädigen (BGE 129 V 323 E. 3.3.3 S.
325). Dieses Interesse an einer wirksamen Missbrauchsbekämpfung und der
Aufdeckung bzw. Verhinderung von Versicherungsbetrug, welches im
Privatversicherungsbereich als Rechtfertigungsgrund der mit einer Observation
verbundenen Persönlichkeitsverletzung (vgl. Art. 28 ZGB) anerkannt ist (SJ 1998
S. 301, 5C.187/1997 E. 2), gilt gleichermassen auch im Sozialversicherungsrecht
(BGE 135 I 169 E. 5.5 S. 174).

5.4 In Bezug auf die Verhältnismässigkeit der Observation hat eine
Interessenabwägung unter den Gesichtspunkten der Eignung, Erforderlichkeit und
Zumutbarkeit (Verhältnismässigkeit im engeren Sinn) zu erfolgen:

5.4.1 Die Anordnung einer Observation durch einen Privatdetektiv ist
grundsätzlich ein geeignetes Mittel, um die versicherte Person bei der Ausübung
alltäglicher Verrichtungen zu sehen. Die unmittelbare Wahrnehmung kann
bezüglich der Arbeitsfähigkeit einen anderen Erkenntnisgewinn bringen als eine
weitere Begutachtung (nicht publ. E. 1.4), was dem Ziel einer wirksamen
Missbrauchsbekämpfung dienen kann (zur Alternative einer ärztlichen
Untersuchung anstelle einer Observation: BGE 135 I 169 E. 5.6 S. 174 f.).

5.4.2

5.4.2.1 Zur vom kantonalen Gericht vertretenen Ansicht, die Observation sei
unverhältnismässig, da nicht auf einem begründeten Anfangsverdacht beruhend,
führte das Bundesgericht in BGE 136 III 410 E. 4.2. S. 416 ff. mit Hinweis auf
BGE 117 IV 67 E. 2c S. 74 aus, dass der Begriff "Anfangsverdacht" die
Strafverfolgung betreffe, die bei Vorliegen eines hinreichenden
Anfangsverdachts zu eröffnen sei und im Zusammenhang mit dem privatrechtlichen
Persönlichkeitsschutz regelmässig nicht verwendet werde. Vielmehr wurde die
objektive Gebotenheit der Observation als wichtiges Element der
Interessenabwägung im Persönlichkeitsschutz bezeichnet. Dies hat gleichfalls
für den verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz zu gelten. Die Observation
muss demnach objektiv geboten sein, womit gemeint ist, dass konkrete
Anhaltspunkte vorliegen müssen, die Zweifel an den geäusserten gesundheitlichen
Beschwerden oder der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit aufkommen lassen.
Solche Anhaltspunkte können beispielsweise gegeben sein bei
BGE 137 I 327 S. 333
widersprüchlichem Verhalten der versicherten Person, oder wenn Zweifel an der
Redlichkeit derselben bestehen (eventuell durch Angaben und Beobachtungen
Dritter), bei Inkonsistenzen anlässlich der medizinischen Untersuchung,
Aggravation, Simulation oder Selbstschädigung u.Ä. (vgl. BGE 136 III 410 E.
4.2.1 S. 417 f. mit Verweis auf DETTWILER/HARDEGGER, Zulässige
Video-Überwachung von Suva-Versicherten, HAVE 2003 S. 246 ff., S. 247 Ziff. III
/3/a). Diese Elemente können einzeln oder in Kombination zureichende Hinweise
liefern, die zur objektiven Gebotenheit der Observation führen.

5.4.2.2 Der RAD-Arzt Dr. med. N. hielt am 5. Juni 2008 fest, dass hinsichtlich
der vegetativen Begleitsymptomatik eine Tendenz zur Symptomausweitung bestehe.
Im Gutachten der MEDAS konnte das ausgedehnte, generalisierte Schmerzsyndrom
mit der vegetativen Begleitsymptomatik somatisch nur teilweise erklärt werden.
Es lagen gutachterliche Hinweise auf eine erhebliche Verdeutlichung und eine
Selbstlimitierung mit zum Teil nicht nachvollziehbarer Schmerzangabe vor. Die
Gutachter massen sodann den psychischen Faktoren entscheidende Bedeutung zu,
wobei sich der begutachtende Psychiater Dr. med. I., wesentlich auf die
subjektiven Angaben der Versicherten abstützte, jedoch ebenfalls festhielt,
eine demonstrative Tendenz sei nicht zu übersehen gewesen. Die Versicherte
umschrieb Leistungseinschränkungen, die nicht mehr plausibel erschienen und
ärztlicherseits nur teilweise objektiviert werden konnten, was bereits im
Austrittsbericht der Klinik Z. (vom 15. Mai 2008) anlässlich eines vom 15.
April bis 8. Mai 2008 erfolgten stationären Aufenthaltes erwähnt wurde.

5.4.2.3 Bei dieser Sachlage bestanden genügend Anhaltspunkte, die trotz
umfassender Begutachtung Zweifel an den behaupteten Beeinträchtigungen
aufkommen liessen. Das bei der Versicherten diagnostizierte generalisierte
chronische Schmerzsyndrom führte gemäss ihren Angaben zu Rückenschmerzen "von
unten bis zum Nacken ausstrahlend mit Blockierungen und
Bewegungseinschränkungen". Da ärztlicherseits jedoch nicht nur organische
Ursachen hiefür gefunden werden konnten, sondern, nebst einer mittelgradigen
depressiven Episode mit einer generalisierten Angststörung mit Panikattacken,
auch somatoforme Beeinträchtigungen diagnostiziert wurden, ist die unmittelbare
Wahrnehmung mittels Überwachung als geeignet und erforderlich anzusehen, um das
Ausmass der tatsächlichen Einschränkungen zu erfassen, da sich die Einschätzung
der Arbeitsfähigkeit aufgrund des Zusammenspiels somatischer und
BGE 137 I 327 S. 334
somatoformer Leiden mit einer Verdeutlichungstendenz und Selbstlimitierung
sowie psychischer Beeinträchtigungen ausserordentlich schwierig erwies (nicht
publ. E. 1.4).

5.5 Hinsichtlich der Zumutbarkeit hat eine Interessenabwägung zu erfolgen. Die
von der Observation betroffene Person erhebt gegenüber der Versicherung einen
Anspruch und ist deshalb verpflichtet, an Abklärungen ihres
Gesundheitszustands, ihrer Arbeitsfähigkeit usw. mitzuwirken, und sie hat zu
dulden, dass allenfalls auch ohne ihr Wissen von der Versicherung die objektiv
gebotenen Untersuchungen durchgeführt werden (BGE 136 III 410 E. 2.2.3 S. 413
f.; BGE 129 V 323 E. 3.3.3 S. 324 f.; BGE 135 I 169 E. 5.1 S. 172). Zu
berücksichtigen ist auch die Höhe des geltend gemachten Anspruchs, welche mit
Blick auf die geforderte Rente als erheblich zu bezeichnen ist. Nicht
überschritten wurde sodann das Ausmass der Observation in zeitlicher und
inhaltlicher Hinsicht, wurden doch einzig für die Anspruchsbeurteilung
relevante Alltagsverrichtungen gefilmt. Dies betrifft auch die Aufnahmen im
häuslichen Bereich der frei einsehbaren Balkone, die keinerlei Vorgänge mit
engem Bezug zur Privatsphäre festhielten, sondern vorwiegend Reinigungsarbeiten
dokumentierten. Damit bestand ein vernünftiges Verhältnis zwischen dem Ziel der
Verhinderung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs und dem durch die
Observation erfolgten Eingriff in die Privatsphäre der Versicherten.

5.6 Zusammenfassend ergibt sich daher Folgendes: Wenn konkrete Anhaltspunkte
bestehen, die Zweifel an der behaupteten Arbeitsunfähigkeit wecken (objektive
Gebotenheit der Observation), die Observation nur während einer
verhältnismässig kurzen, begrenzten Zeit stattfindet (hier: während drei
Tagen), und einzig Verrichtungen des Alltags ohne engen Bezug zur Privatsphäre
(hier: vorwiegend Putzen des Balkons, Einkaufstüten tragen) gefilmt werden, ist
der Persönlichkeitsbereich auch bei einer Observation im öffentlich
einsehbaren, privaten Raum nur geringfügig tangiert und wiegt der Eingriff in
die Persönlichkeitsrechte nicht schwer (vgl. auch BGE 136 III 410 E. 4.4 S. 418
f.; BGE 135 I 169 E. 5.4.2 S. 173 f.; BGE 133 I 77 E. 5.3 S. 85). Umgekehrt hat
die Versicherung und die dahinter stehende Versichertengemeinschaft ein
erhebliches schutzwürdiges Interesse daran, dass nicht zu Unrecht Leistungen
erbracht werden. Mit anderen Worten wird bei der erfolgten Observation kein
Rechtsgut verletzt, welches Vorrang vor dem öffentlichen Interesse der
BGE 137 I 327 S. 335
Missbrauchsbekämpfung hat, und unter Einbezug sämtlicher Umstände sind die
Interessen der Beschwerdeführerin gegenüber den privaten Interessen der
Beschwerdegegnerin als höherwertig einzustufen. Die durchgeführte Observation
ist als zumutbar und damit verhältnismässig im engeren Sinn zu bezeichnen. Der
Kerngehalt von Art. 13 BV wird durch die Anordnung einer solchen Überwachung
ebenfalls nicht angetastet.

6.

6.1 Mit Blick auf die vorinstanzliche Auffassung, vorliegend habe die mit der
Observation beauftragte Person Art. 179^quater StGB verletzt, ist festzuhalten,
dass gegen Art. 179^quater StGB ("Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs
durch Aufnahmegeräte") verstösst, wer eine Tatsache aus dem Geheimbereich eines
andern oder eine nicht jedermann ohne weiteres zugängliche Tatsache aus dem
Privatbereich eines andern ohne dessen Einwilligung mit einem Aufnahmegerät
beobachtet oder auf einen Bildträger aufnimmt (Abs. 1).
Die in Art. 179^quater StGB benutzte Wendung "nicht jedermann ohne weiteres
zugängliche Tatsache aus dem Privatbereich" erfasst die auf die
Lebensverhältnisse einer Person bezogenen Tatsachen, deren Wahrnehmung nur
einem begrenzten Personenkreis möglich ist (STRATENWERTH/WOHLERS,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 2. Aufl. 2009, N. 9 zu Art. 179
^quater StGB). Nicht zum geschützten Bereich gehört, was sich in der
Öffentlichkeit abspielt und von jedermann wahrgenommen werden kann. Zur
geschützten Privatsphäre gehören demnach grundsätzlich dagegen alle Vorgänge in
geschlossenen, gegen den Einblick Aussenstehender abgeschirmten Räumen und
Örtlichkeiten (STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht,
Besonderer Teil I, 7. Aufl. 2010, § 12 Rz. 55; FRANZ RIKLIN, Der
strafrechtliche Schutz des Rechts am eigenen Bild, in: Festschrift für Leo
Schürmann, 1987, S. 550 f.; BGE 118 IV 41 E. 4 S. 46 ff., BGE 118 IV 319 E. 3b
S. 324), wie Vorgänge in einem Haus, in einer Wohnung oder in einem
abgeschlossenen, privaten Garten (VON INS/WYDER, in: Basler Kommentar,
Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 9 zu Art. 179^quater StGB). In Literatur
und Rechtsprechung unbestritten ist, dass Vorgänge in einem solchen nach Art.
186 StGB geschützten Raum nicht mit technischen Hilfsmitteln beobachtet oder
aufgenommen werden dürfen. Mit Blick auf den häuslichen Bereich wird in der
Literatur auch die Ansicht vertreten, dass nicht jede beliebige Aufnahme aus
dem geschützten Privatbereich
BGE 137 I 327 S. 336
strafbar sein soll, sondern nur die Abbildung eines Objekts erfasst sein kann,
das einen engen Bezug zur Privatsphäre hat. Genannt werden das Eigenleben
betreffende Tatsachen aus dem Privatbereich im engeren Sinn, die faktisch also
nicht jedermann ohne weiteres zugänglich sind (TRECHSEL/LIEBER, Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 4 zu Art. 179^quater StGB mit
weiteren Hinweisen; BGE 118 IV 41 E. 4b bis 4e S. 46 ff.); es geht um das
Festhalten privater Lebensvorgänge (vgl. RIKLIN, a.a.O., S. 551 und MARTIN
SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. III: Delikte gegen die
Ehre, den Geheim- oder Privatbereich und gegen die Freiheit, Art. 173-186 StGB,
1984, N. 12 zu Art. 179^quater StGB). Müssen körperliche oder
rechtlich-moralische Schranken überwunden werden, um damit in die Privatsphäre
im engeren Sinn fallende Tatsachen aufzunehmen, sind die Tatsachen nicht mehr
"ohne weiteres" jedermann zugänglich. Als rechtlich-moralisches Hindernis gilt
eine Grenze, die nach den hierzulande allgemein anerkannten Sitten und
Gebräuchen ohne die Zustimmung der Betroffenen nicht überschritten wird (BGE
118 IV 41 E. 4e S. 49 f.). Bei einer Person, die bei freiwillig ausgeübten, von
blossem Auge beobachtbaren Alltagsverrichtungen in einem von jedermann
öffentlich einsehbaren Bereich gefilmt wird, darf angenommen werden, sie habe
insoweit auf einen Schutz der Privatheit verzichtet und in diesem Umfang ihre
Privatsphäre der Öffentlichkeit ausgesetzt.

6.2 Die Beobachtung der Beschwerdegegnerin auf den Balkonen tangierte demnach
zwar ihren Privatbereich, beide Balkone der beobachteten Wohnungen waren aber
von der Strasse aus frei einsehbar. Soweit und solange sie sich auf den nicht
abgeschirmten Balkonen aufhielt, waren sämtliche Handlungen daher faktisch
nicht mehr nur von nahe verbundenen Personen, sondern von jedermann ohne
weiteres wahrnehmbar. Es handelt sich dabei um Tatsachen, die ohne Überwindung
einer physischen oder psychologischen Schranke zugänglich waren. Ausserdem
liegen keine besonders persönlichkeitsträchtige Szenen, sondern freiwillig
ausgeübte Alltagsverrichtungen vor; die Aufnahmen weisen keinen engen Bezug zur
Privatsphäre auf, weshalb bei der Observation nicht gegen Art. 179^quater StGB
verstossen wurde. Es kann daher offengelassen werden, ob allenfalls ein
überwiegendes öffentliches Interesse an der Vermeidung eines ungerechtfertigten
Leistungsbezugs besteht, welches auch ein einen Straftatbestand (von Art. 179^
quater StGB) erfüllendes Verhalten rechtfertigen würde.
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6.3 Die Vorinstanz hat demzufolge den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c
ATSG) und das Recht der Beschwerdeführerin auf Beweis (Art. 29 Abs. 2 BV)
verletzt, indem sie die Observationsergebnisse als unzulässiges Beweismittel
aus den Akten entfernen liess. Die Beweiserhebung mittels der vorgenommenen
Observation war dementgegen rechtmässig.

7.

7.1 Die Ergebnisse einer zulässigen Überwachung können zusammen mit einer
ärztlichen Aktenbeurteilung grundsätzlich geeignet sein, eine genügende Basis
für Sachverhaltsfeststellungen betreffend den Gesundheitszustand und die
Arbeitsfähigkeit zu bilden (SVR 2010 UV Nr. 17 S. 63, 8C_239/2008 E. 7; Urteil
9C_891/2010 vom 31. Dezember 2010 E. 5.2).

7.2 Auf den Videoaufnahmen ist ersichtlich, dass sich die Beschwerdegegnerin
auf den Balkonen und ausser Haus ohne offenkundige Beeinträchtigung physischer
oder psychischer Natur bewegt. Sie zeigt ein flüssiges, zügiges Gangbild,
pflegt Kontakt zu Bekannten und Verwandten und ist imstande, Reinigungsarbeiten
(z.B. Staubsaugen und Boden wischen in der Hocke sowie Teppich ausschütteln)
auszuführen und Einkaufstaschen zu tragen. Es bereitete ihr offenbar ebenso
wenig Mühe, in einem gut besetzten Zugabteil eine halbe Stunde sitzend, Zug zu
fahren (Ermittlungsbericht vom 9. Oktober 2010). Die Angabe der
Beschwerdegegnerin, sie hätte an diesen Tagen einfach mehr Schmerzmittel
eingenommen, um sich flüssiger und freier bewegen zu können, erscheint in
Anbetracht des Umstands, dass im anlässlich der MEDAS-Begutachtung untersuchten
Medikamentenspiegel weder die behauptete Einnahme von Trazodon, Tramadol noch
Parazetamol nachweisbar waren, wenig glaubhaft. Unabhängig davon, ob sie zudem
einen Stützgurt trug, wie geltend gemacht wird, lassen sich die
Observationsergebnisse nur schwer mit dem diagnostizierten, seit Jahren
bestehenden generalisierten Schmerzsyndrom mit von unten bis in den Nacken
ausstrahlenden, permanenten Rückenschmerzen mit Bewegungseinschränkungen und
Blockierungen in Einklang bringen. Auch wenn die RAD-Ärztin Dr. med. H. die
Ansicht vertrat, das beobachtete Verhalten der Versicherten ohne jede
Schonhaltung lasse eine leichte bis mittelschwere Reinigungstätigkeit zu, und
ausführte "diese angebliche dauerhafte schwere psychische Beeinträchtigung ist
durch das Observationsmaterial nachhaltig in ihrer Glaubhaftigkeit
erschüttert", ist jedoch mit Blick auf die diagnostizierten Leiden
BGE 137 I 327 S. 338
gestützt hierauf noch nicht auf das Fehlen einer rentenrelevanten,
gesundheitlichen Beeinträchtigung zu schliessen. Angesichts der zu den
Observationsergebnissen stark divergierenden Untersuchungsresultate im
MEDAS-Gutachten vom 20. Februar 2009, wobei die Gutachter nicht zuletzt wegen
den psychischen Faktoren von einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit ausgingen,
sind die durch die Aufnahmen aufgeworfenen Fragen nicht vollständig aus dem Weg
geräumt.
Mit der Vorinstanz ist zudem festzustellen, dass in der Expertise der MEDAS
eine Auseinandersetzung namentlich mit dem Austrittsbericht der Klinik Z. vom
15. Mai 2008 fehlt, worin, im Gegensatz zu den MEDAS-Gutachtern, keine
eigenständige depressive Störung und Angststörung diagnostiziert, sondern eine
Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt aufgeführt wurde,
die aus Sicht der Ärzte der Klinik Z. lediglich zu einer Arbeitsunfähigkeit von
20 % führte. Die Experten der MEDAS legten nicht dar, weshalb sie zum Schluss
gelangten, der psychische Gesundheitszustand der Versicherten habe sich seit
dem stationären Aufenthalt in der Klinik Z. (vom 15. April bis 8. Mai 2008) -
mithin innerhalb eines Jahres - derart verschlechtert, dass aus psychischer
Sicht die Arbeitsfähigkeit um 70 % eingeschränkt war und warum überdies neu der
Verdacht auf eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bestand. Schliesslich
finden sich in der Expertise keine Hinweise darauf, inwiefern die festgestellte
Verdeutlichungstendenz und Selbstlimitierung in die Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit eingeflossen sind.

7.3 Trotz der vorliegenden Schwierigkeiten, aus medizinischer Sicht die
tatsächlich bestehenden gesundheitlichen Beschwerden festzustellen und gestützt
hierauf eine Arbeitsfähigkeitsschätzung abzugeben, können die bestehenden
Divergenzen hinsichtlich des erwerblichen Zumutbarkeitsprofils nicht im Rahmen
einer Beweiswürdigung aufgelöst werden. Es besteht daher aufgrund der diametral
entgegengesetzten Schlüsse aus Begutachtung und Observation Anlass zu weiteren
medizinischen Abklärungen. Diese sind interdisziplinär auszurichten, um den
somatischen wie psychischen Leiden Rechnung zu tragen. Entgegen der
vorinstanzlichen Ansicht wird das Observationsmaterial von den Medizinern dabei
nach dem Gesagten zu berücksichtigen sein. Die Sache ist daher an die
Beschwerdeführerin zurückzuweisen.