Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 I 247



Urteilskopf

137 I 247

25. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und
Y. gegen Dienststelle für Bevölkerung und Migration und Staatsrat des Kantons
Wallis (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_327/2010 / 2C_328/2010 vom 19. Mai 2011

Regeste

Art. 8 EMRK, Art. 3 Abs. 1 KRK; Art. 255 i.V.m. Art. 109 Abs. 3 sowie Art. 105
Abs. 4 i.V.m. Art. 106 Abs. 1 ZGB; "umgekehrter" Familiennachzug des
ausländischen Sorge- und Obhutsberechtigten zu seinem Schweizer Kind.
Bestätigung der Rechtsprechung, wonach es im Rahmen der Interessenabwägung
gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK ordnungs- oder sicherheitspolizeilicher Gründe von
einem gewissen Gewicht bedarf, um dem sorge- und obhutsberechtigten
ausländischen Elternteil den Verbleib im Land zu verweigern und sein Schweizer
Kind (im Ergebnis) zu verpflichten, mit ihm auszureisen. Die entsprechende
Praxis gilt nicht unbesehen bei niederlassungs- oder aufenthaltsberechtigten
ausländischen Kindern aus Drittstaaten (E. 4). Würdigung des konkreten Falles
bei mutmasslich missbräuchlichem Verhalten des sorge- und obhutsberechtigten
Elternteils (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 248

BGE 137 I 247 S. 248
X. (geb. 1977) stammt aus Kamerun. Sie war vom 14. Juni 1999 bis zum 1. Juli
1999 in Zürich illegal als Prostituierte tätig. Am 8. August 1999 wurde sie in
ihre Heimat ausgeschafft und mit einer Einreisesperre bis zum 6. August 2002
belegt. Im Jahr 2001 reiste X. wiederum illegal in die Schweiz ein, wo sie sich
anschliessend bei ihrem Schweizer Freund aufhielt. Am 23. Juni 2003 ersuchte X.
in Kamerun um eine Einreisemöglichkeit in die Schweiz, da sie ihr Kind hier zur
Welt bringen wollte. Weil der Kindesvater nicht bereit war, für sie
aufzukommen, wurde Y. am 8. September 2003 in Kamerun geboren. Am 27. Juli 2007
anerkannte der Vater Y., worauf diese am 3. November 2008 erleichtert
eingebürgert wurde (Art. 58c i.V.m. Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 29.
September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts in der
Fassung vom 3. Oktober 2003 [BüG; SR 141.0]).
Im August 2005 lernte X. in Kamerun den Schweizer Z. (geb. 1954) kennen, den
sie am 19. Mai 2006 in Yaoundé heiratete. Am 19. Februar 2007 reisten X. und Y.
in die Schweiz ein, wo ihnen je eine bis zum 19. Februar 2008 gültige
Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde. Ab April 2007 trennte sich X. von ihrem
Mann. Die Ehe wurde am 23. Oktober 2008 geschieden. Am 12. September 2007
informierte die Dienststelle für Bevölkerung und Migration (DBM) des Kantons
Wallis X., dass sie beabsichtige, ihre Aufenthaltsbewilligung zu widerrufen und
sie und ihre Tochter aus der Schweiz wegzuweisen. Am 9. Februar 2009 lehnte sie
das Gesuch ab, die Aufenthaltsbewilligung von X. zu verlängern. Der Staatsrat
und das Kantonsgericht des Kantons Wallis bestätigten diesen Entscheid auf
Beschwerde hin am 9. September 2009 bzw. 26. Februar 2010.
X. (Beschwerdeführerin 1) und Y. gelangten hiergegen an das Bundesgericht,
welches ihre Beschwerden gutheisst, den Entscheid des Kantonsgerichts des
Kantons Wallis aufhebt und die Dienststelle für
BGE 137 I 247 S. 249
Bevölkerung und Migration des Kantons Wallis anweist, die
Aufenthaltsbewilligung von X. zu verlängern.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.

4.1

4.1.1 Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert grundsätzlich keinen
Anspruch auf Aufenthalt in einem Konventionsstaat (vgl. BGE 130 II 281 E. 3.1
S. 285 f.). Es ergibt sich daraus weder ein Recht auf Einreise noch auf Wahl
des für das Familienleben am geeignetsten erscheinenden Orts. Das in Art. 8
EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens kann nur angerufen werden,
wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme zur Trennung von
Familienmitgliedern führt. Selbst dann gilt der Anspruch jedoch nicht absolut.
Vielmehr ist nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ein Eingriff in das durch Ziff. 1
geschützte Rechtsgut statthaft, soweit er eine Massnahme darstellt, die in
einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche
Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze
der Gesellschaft und Moral sowie der Rechte und Pflichten anderer notwendig
erscheint. Die Konvention verlangt eine Abwägung der sich gegenüberstehenden
individuellen Interessen an der Erteilung der Bewilligung einerseits und der
öffentlichen Interessen an deren Verweigerung andererseits; diese müssen jene
in dem Sinne überwiegen, dass sich der Eingriff in das Privat- und
Familienleben als notwendig erweist (vgl. BGE 135 I 153 E. 2.1 und 2.2.1; BGE
122 II 1 E. 2 S. 6; BGE 116 Ib 353 E. 3 S. 357 ff.).

4.1.2 Als zulässiges öffentliches Interesse fällt dabei grundsätzlich auch das
Durchsetzen einer restriktiven Einwanderungspolitik in Betracht. Eine solche
ist im Hinblick auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen schweizerischer und
ausländischer Wohnbevölkerung, auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen
für die Eingliederung der in der Schweiz bereits ansässigen Ausländer und die
Verbesserung der Arbeitsmarktstruktur sowie auf eine möglichst ausgeglichene
Beschäftigung im Lichte von Art. 8 Ziff. 2 EMRK zulässig (BGE 135 I 153 E.
2.2.1, BGE 135 I 143 E. 2.2). Muss ein Ausländer, dem eine ausländerrechtliche
Bewilligung verweigert worden ist, das Land verlassen, haben dies seine
Angehörigen grundsätzlich hinzunehmen, wenn es ihnen "ohne Schwierigkeiten"
möglich ist, mit ihm
BGE 137 I 247 S. 250
auszureisen; eine Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK erübrigt sich in
diesem Fall. Anders verhält es sich, falls die Ausreise für die
Familienangehörigen "nicht von vornherein ohne Weiteres zumutbar" erscheint. In
diesem Fall ist immer eine Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK geboten,
welche sämtlichen Umständen des Einzelfalls Rechnung trägt (vgl. BGE 135 I 153
E. 2.1 mit Hinweisen).

4.2

4.2.1 Das Bundesgericht ist ursprünglich davon ausgegangen, dass es einem
schweizerischen Kind, namentlich einem solchen im Kleinkindalter, regelmässig
zumutbar ist, das Lebensschicksal des Sorge- bzw. Obhutsberechtigten zu teilen
und diesem hierfür gegebenenfalls ins Ausland zu folgen (vgl. BGE 135 I 143 E.
2.2; BGE 127 II 60 E. 2a S. 67; BGE 122 II 289 E. 3c S. 298). In neueren
Entscheiden hat es diese Rechtsprechung mit Blick auf die Vorgaben des
Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK; SR 0.107)
sowie die verfassungsrechtlichen Gebote staatsbürgerrechtlicher Natur bei
Schweizer Kindern relativiert (BGE 135 I 153 ff.; BGE 136 I 285 ff.; MARTINA
CARONI, in: Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Caroni/
Gächter/Thurnherr[Hrsg.], 2010, N. 62 Vorbemerkung zu Art. 42-52 AuG; PETER
UEBERSAX, Die EMRK und das Migrationsrecht aus der Sicht der Schweiz, in: EMRK
und die Schweiz, Breitenmoser/Ehrenzeller [Hrsg.], 2010, S. 203 ff., dort 226
ff.; RUMO-JUNGO/SPESCHA, Kindeswohl, Kindesanhörung und Kindeswille in
ausländerrechtlichen Kontexten, AJP 2009 S. 1103 ff., dort 1112 ff.; MARC
SPESCHA, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd/Bolzli [Hrsg.], 2. Aufl. 2009,
Nr. 18 Rz. 19 ff.). Allein die Zumutbarkeit der Ausreise und das öffentliche
Interesse, eine restriktive Einwanderungspolitik betreiben zu können, genügen
danach nicht mehr dafür, dem sorgeberechtigten Ausländer eines Schweizer Kindes
die Anwesenheit mit diesem zu verweigern; es bedarf hierfür jeweils besonderer
- namentlich ordnungs- und sicherheitspolizeilicher - Gründe, welche die mit
der Ausreise für das Schweizer Kind verbundenen weitreichenden Folgen
zusätzlich rechtfertigen (BGE 136 I 285 E. 5.2; BGE 135 I 153 E. 2.2.4 S. 158,
BGE 135 I 143 E. 3 und 4 S. 148 ff.).

4.2.2 Liegt gegen den ausländischen, sorgeberechtigten Elternteil eines
Schweizer Kindes nichts vor, was ihn als "unerwünschten" Ausländer erscheinen
lässt oder auf ein missbräuchliches Vorgehen hinweist, ist davon auszugehen,
dass dem hier lebenden Schweizer
BGE 137 I 247 S. 251
Kind nicht zugemutet werden soll, dem sorgeberechtigten ausländischen
Elternteil in dessen Heimat folgen zu müssen. Der Umstand, dass der
ausländische Elternteil, der sich um eine Aufenthaltsbewilligung bemüht,
straffällig geworden ist, darf bei der Interessenabwägung mitberücksichtigt
werden, doch überwiegt nur eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit von einer gewissen Schwere das Interesse des Schweizer Kindes, mit
dem sorgeberechtigten Elternteil hier aufwachsen zu können (BGE 136 I 285 E.
5.2 S. 287; Urteile 2C_660/2009 vom 7. Juni 2010 E. 2.2 und 2.3 [Verurteilung
zu 10 Jahren wegen banden- und gewerbsmässiger Widerhandlung gegen das BetmG]
sowie 2C_843/2009 vom 14. Juni 2010 E. 3.2 [von der Sozialhilfe abhängige
Mutter aus Sierra Leone eines autistischen Schweizer Kindes]).

4.2.3 Grundsätzlich nicht verändert hat sich durch diese Neuausrichtung der
Rechtsprechung die Rechtslage bei aufenthaltsberechtigten oder niedergelassenen
ausländischen Kindern, da in diesen Fällen keine spezifischen bürgerrechtlichen
Überlegungen (Niederlassungsfreiheit, Ausweisungsverbot, späteres
Wiedereinreiserecht usw.) zu berücksichtigen sind (Urteil 2C_364/2010 vom 23.
September 2010 E. 2.2.6). Hier genügt die Zumutbarkeit der Ausreise des Kindes
für eine Bewilligungsverweigerung an den sorge- bzw. obhutsberechtigten
Elternteil, wobei die Möglichkeit der Ausübung des Besuchsrechts des in der
Schweiz anwesenheitsberechtigten anderen Elternteils sachgerecht
mitberücksichtigt werden kann (zit. Urteil 2C_364/2010 E. 2.2.2). Für die
Erteilung der Bewilligung gestützt auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 Abs. 1 BV ist
in diesem Fall erforderlich, dass eine intensive Beziehung in affektiver und
wirtschaftlicher Hinsicht zwischen dem hier anwesenden besuchsberechtigten
Elternteil und dem Kind besteht und sich der obhutsberechtigte Elternteil,
welcher um die Bewilligung ersucht, seinerseits "tadellos" verhalten hat. Dabei
ist mit noch grösserer Zurückhaltung auf eine Pflicht zu schliessen, ihm eine
Bewilligung zu erteilen, als im Falle des besuchsberechtigten Ausländers, der
selber, im Hinblick auf die Ausübung seines Besuchsrechts, um die Bewilligung
nachsucht. Der obhutsberechtigte Elternteil, der die Bewilligung einzig zur
Erleichterung der Ausübung des Besuchsrechts zwischen dem Kind und dem anderen
Elternteil erhältlich machen will, soll dies nur bei Vorliegen besonderer
Umstände tun können (Urteile 2C_364/2010 vom 23. September 2010 E. 2.2.4;
2C_372/2008 vom 25. September 2008 E. 3.2.1; 2A.508/2005 vom 16. September 2005
E. 2.2.3).
BGE 137 I 247 S. 252

5.

5.1

5.1.1 Der vorliegende Fall wirft die Frage auf, welches negative Verhalten des
sorgeberechtigten ausländischen Elternteils geeignet erscheint, das private
Interesse des Schweizer Kindes zu überwiegen, mit diesem im Land verbleiben zu
dürfen. Das Bundesgericht hat bisher - wie bereits dargelegt - einerseits
festgestellt, dass lediglich Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit von einer gewissen Schwere ins Gewicht fallen können (BGE 136 I 285
ff.); andererseits hat es ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen als allfälliges
öffentliches Interesse bezeichnet, welches gegen die Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung an den sorgeberechtigten Elternteil sprechen kann (BGE
135 I 153 E. 2.2.4; Urteil 2C_843/2009 vom 14. Juni 2010 E. 3.2 und 4.2). Das
Verbot des Rechtsmissbrauchs setzt der Ausübung eines Anspruchs, der formal im
Einklang mit der Rechtsordnung steht, jedoch treuwidrig und damit unredlich
geltend gemacht wird, eine ethisch-materielle Schranke. Es steht der
Inanspruchnahme eines Rechtsinstituts zu Zwecken entgegen, welche dieses nicht
schützen will (BGE 131 I 166 E. 6.1 S. 177; BGE 128 II 145 E. 2.2 S. 151). Das
Rechtsmissbrauchsverbot lässt scheinbares Recht weichen, wo offenbares Unrecht
geschaffen würde (BGE 125 III 257 E. 3 S. 261). Nur stossendes, zweckwidriges
Verhalten erscheint rechtsmissbräuchlich und soll über das
Rechtsmissbrauchsverbot sanktioniert werden. War das ANAG noch vom Grundsatz
des freien Ermessens der Behörden (Art. 4 ANAG [BS 1 121]) und einzelnen offen
formulierten Rechtsansprüchen geprägt, was eine breitere Anwendung des
Rechtsmissbrauchsverbots rechtfertigte, hat der Gesetzgeber im Ausländergesetz
die einzelnen Bewilligungs- bzw. Missbrauchssituationen und die sie prägenden
Wertentscheidungen neu und detaillierter gefasst, was es nahelegt, das
Rechtsmissbrauchsverbot heute wieder stärker auf seinen Kernbereich zu
beschränken, d.h. auf eigentliche Machenschaften, um die Behörden zu täuschen
bzw. eine Bewilligung zu erschleichen (Urteil 2C_606/2009 vom 17. März 2010 E.
2.4.1; vgl. PETER UEBERSAX, Der Rechtsmissbrauch im Ausländerrecht, Jahrbuch
für Migrationsrecht 2005/2006, 2006 S. 3 ff., dort 24 ff.; vgl. auch Art. 35
der Richtlinie 2004/38/EG [ABl. L 229 vom 29. Juni 2004 S. 35 ff.]).

5.1.2 Zu denken ist dabei an Lügengebäude und falsche, täuschende Angaben, an
Umgehungsanerkennungen bzw. -adoptionen oder Umgehungsehen (auch
"Ausländerrechts-" oder "Scheinehen"
BGE 137 I 247 S. 253
genannt; vgl. etwa: THOMAS GEISER, Scheinehe, Zwangsehe und Zwangsscheidung aus
zivilrechtlicher Sicht, ZBJV 144/2008 S. 817 ff.; Memo/09/311 vom 2. Juli 2009,
"Guidelines on free movement and residence rights of EU citizens and their
families"; Entschliessung des EG-Rates 97/C 382/01 vom 4. Dezember 1997 über
Massnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen). Auch in solchen Fällen ist jedoch
ausländerrechtlich dem Wohl des Schweizer Kindes im Einzelfall jeweils
sachgerecht und nicht schematisierend Rechnung zu tragen; das Kindeswohl muss
dem gegenläufigen öffentlichen Interesse der Generalprävention und
Missbrauchsbekämpfung (vgl. Art. 118 AuG [SR 142.20]:Strafbarkeit der
rechtsmissbräuchlichen Ehe) gegenübergestellt und sorgfältig abgewogen werden.
Beziehungen oder Verwandtschaftsverhältnisse, die ausschliesslich geschlossen
oder begründet werden, um der ausländischen Person die Einreise oder den
Aufenthalt in der Schweiz zu ermöglichen, verdienen als solche verfassungs- und
konventionsrechtlich keinen besonderen Schutz. Der Gesetzgeber hat dies als
Ausfluss des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots inzwischen mit verschiedenen
Anpassungen des Zivilgesetzbuchs klargestellt (vgl. Art. 97a, 98 Abs. 4, Art.
99 Abs. 4, Art. 105 Ziff. 4 in Verbindung mit Art. 106 Abs. 1 sowie Art. 109
Abs. 3 ZGB).

5.1.3 Obwohl das Eingehen einer Scheinehe ein rechtsmissbräuchliches Verhalten
darstellt, soll dem Schweizer Kind ein bloss mutmasslich missbräuchliches
Verhalten des sorgeberechtigten Elternteils im Rahmen der ausländerrechtlichen
Interessenabwägung nicht entgegengehalten werden, solange sein zivilrechtlicher
Status und die daran geknüpften Rechtswirkungen fortbestehen (vgl. Art. 255
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 sowie Art. 105 Abs. 4 in Verbindung
mit Art. 106 Abs. 1 ZGB). Nach Art. 3 Abs. 1 KRK ist das Kindeswohl bei allen
staatlichen Massnahmen vorrangig zu berücksichtigen. Gestützt auf Art. 2 Abs. 2
KRK treffen die Vertragsstaaten zudem die geeigneten Massnahmen, um
sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder
Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäusserungen oder der
Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen
geschützt wird. Ist die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung
eines ausländischen erziehungsberechtigten Elternteils mit Schweizer Kind zu
beurteilen, genügen unerhärtete Hinweise dafür, dass der ausländische
Elternteil versucht haben könnte, ein Anwesenheitsrecht zu erwirken, für sich
BGE 137 I 247 S. 254
allein regelmässig nicht, um dem Interesse des Schweizer Kindes am Verbleib im
Land vorzugehen. Erforderlich sind auch in diesem Fall zusätzlich besondere,
namentlich ordnungs- und sicherheitspolizeiliche Gründe, welche die mit der
Ausreise für das Schweizer Kind verbundenen weitreichenden Folgen
rechtfertigen. Die Interessenabwägung ist bei dieser Ausgangslage mit Blick auf
Art. 3 Abs. 1 KRKzwingend eine andere, als wenn allein der Aufenthalt des
ausländischen Partners eines Schweizer Gatten zur Diskussion steht: Einem
unmündigen Kind unter der elterlichen Gewalt des ausländischen Ehepartners ist
es kaum möglich, allein in der Schweiz zu verbleiben; zudem ist regelmässig
auch der Möglichkeit zur Wahrnehmung des Besuchsrechts durch den hiesigen
schweizerischen Elternteil Rechnung zu tragen. Der zivilrechtliche
Zuteilungsentscheid, der in erster Linie dem Kindeswohl entsprechen muss (vgl.
Art. 133 Abs. 2 und 3 ZGB), soll überdies nicht durch - allenfalls
unsachgerechte - ausländerrechtliche Motive verfälscht werden. Zudem gilt es
schliesslich zu verhindern, dass ein Schweizer Kind ohne gewichtige Gründe
hierfür das Land verlassen muss, jedoch nach seiner Volljährigkeit jederzeit in
dieses zurückkehren kann und sich dann relativ grossen Integrationsproblemen
gegenübersieht.

5.2

5.2.1 Die Vorinstanz ging davon aus, die Beschwerdeführerin 1 sei in der
Schweiz wiederholt straffällig geworden; zudem bestünden konkrete Anhaltspunkte
dafür, dass ihr Aufenthalt mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu weiteren
Verstössen gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung führen werde. Ihr
Verhalten sei alles andere als korrekt gewesen: Das illegale Einreisen (1999
und 2001 bis 2003), das Erwarten eines Kindes von einem Schweizer Bürger,
verbunden mit der Absicht, das Kind in der Schweiz zu gebären (2003), sowie die
Heirat mit einem anderen Schweizer Bürger (2006) und die anschliessende
Einreise in die Schweiz (2007) bzw. das Verhalten als Ehefrau (Verlassen des
gemeinsamen Haushalts und Aufenthalt in Zürich, Prostitution, Indizien für
Scheinehe [BGE 122 II 289 ff.]) liessen darauf schliessen, dass sie mit allen
Mitteln versucht habe, in die Schweiz zu gelangen und sich hier längerfristig
aufzuhalten. Ihrem Nachzug habe eine "geplante rechtsmissbräuchliche Strategie"
zugrunde gelegen.

5.2.2 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz überwiegen die nach dem Gesagten
vorrangig zu berücksichtigenden Interessen des Schweizer
BGE 137 I 247 S. 255
Kindes am Verbleib mit der Mutter im Land indessen diese Aspekte. Die
Einschätzung des Kantonsgerichts klammert die Interessen des Schweizer Kindes,
auf die es entscheidend ankommt, vollständig aus und hält diesem einseitig das
Verhalten der sorgeberechtigten Mutter entgegen. Deren Straffälligkeit ist im
Übrigen zu relativieren: Sie wurde 1999, d.h. vor mehr als zehn Jahren, zu
einer bedingten Gefängnisstrafe von 30 Tagen wegen Widerhandlung gegen das ANAG
verurteilt und hernach in ihre Heimat ausgeschafft. Am 25. Mai 2007 ist sie
wegen der punktuellen Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit ohne
Bewilligung und unzulässiger Ausübung der Prostitution vom Stadtrichteramt mit
einer Busse von Fr. 500.- belegt worden. Diese Verurteilungen wiegen nicht
derart schwer, dass sie aus sicherheitspolizeilichen Gründen das Recht des
Schweizer Kindes überwiegen würden, mit dem sorgeberechtigten Elternteil in
seinem Heimatland verbleiben zu dürfen. Der Fall ist diesbezüglich weitgehend
mit dem in BGE 136 I 285 ff. beurteilten vergleichbar. Es handelt sich um
Bagatelldelikte, welche für sich allein nicht geeignet erscheinen, dem
Interesse des Schweizer Kindes vorzugehen.

5.2.3 Zwar weisen die kantonalen Behörden darauf hin, dass Anhaltspunkte dafür
bestünden, dass die Beschwerdeführerin 1 eine Scheinehe eingegangen sei, um mit
ihrem Kind in der Schweiz leben zu können; sie haben indessen nicht
festgestellt, dass dies tatsächlich so gewesen ist. Die Frage wurde weder im
zivil- noch im ausländerrechtlichen Verfahren abschliessend geklärt (vgl. das
Urteil 2C_697/2008 vom 2. Juni 2009 E. 4.4). Der illegale Aufenthalt 2001 hing
mit der längeren Beziehung der Beschwerdeführerin 1 zum Schweizer Vater ihrer
Tochter zusammen. Es ist nicht erstellt, dass sie in dieser Zeit illegal hier
berufstätig gewesen wäre. Ihr damaliger Schweizer Partner setzte sich im
Anschluss hieran dafür ein, dass die Beschwerdeführerin 1 zur Geburt ihrer
Tochter nicht in die Schweiz einreisen konnte, da er sein "geordnetes Leben"
nicht zerstört wissen wollte. Inzwischen richtet er regelmässige
Unterhaltszahlungen für seine Tochter in der Höhe von Fr. 500.- aus und
verbringt nach Angaben der kantonalen Behörden sporadisch - ein- bis zweimal
pro Monat - offenbar auch etwas Zeit mit ihr. Seine Vaterschaft und die
schweizerische Staatsbürgerschaft der Tochter stehen fest; es ist diesbezüglich
von den zivilrechtlichen Vorgaben auszugehen, solange diese nicht auf den dort
vorgesehenen Rechtswegen modifiziert wurden.
BGE 137 I 247 S. 256

5.2.4 Tatsächlich heiratete die Beschwerdeführerin 1 am 19. Mai 2006 den 23
Jahre älteren Z., doch kann aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz trotz
der kurzen Dauer der Ehe nicht als erwiesen gelten, dass diese ausschliesslich
eingegangen worden ist, um die Bestimmungen über die Zulassung und den
Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern zu umgehen. Dass die
Beschwerdeführerin eine Aufenthaltsmöglichkeit in der Schweiz gesucht hat und
die Ehe schon wenige Wochen nach der Einreise als gescheitert gelten musste,
genügt hierfür nicht; es ist aufgrund der Akten und der Feststellungen der
Vorinstanz nicht erwiesen, dass von Anfang an bei der Heirat in Kamerun
keinerlei Lebensgemeinschaft angestrebt gewesen wäre.

5.2.5 Die Beschwerdeführerin 1 und ihre Tochter leben heute im Kanton Zürich
und beziehen dort Nothilfe. Nach Art. 63 Abs. 1 lit. c AuG kann eine
Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der
Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in
erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist. Das Bundesgericht hat hieraus
abgeleitet, dass eine fortgesetzte und erhebliche Sozialhilfeabhängigkeit auch
dem Verbleib des sorgeberechtigten Ausländers eines Schweizer Kindes im
umgekehrten Familiennachzug entgegenstehen kann, wenn keine Änderung absehbar
erscheint (Urteil 2C_697/2008 vom 2. Juni 2009 E. 4.4; differenzierter das
Urteil 2C_843/2009 vom 14. Juni 2010 E. 4.2). Die Beschwerdeführerin 1 kann
zurzeit mangels einer Bewilligung nicht arbeiten, weshalb sie und ihre
Schweizer Tochter nothilfeabhängig wurden. In Kamerun soll sie nach den Angaben
ihres ehemaligen Gatten in einem Coiffeursalon tätig gewesen sein. Sollte sie
in der Schweiz einer Arbeit nachgehen können, dürfte ihre Bedürftigkeit relativ
rasch dahinfallen. Würde sich dies nicht bestätigen, bestünde die Möglichkeit,
im Rahmen einer neuen Interessenabwägung - wiederum unter angemessener
Berücksichtigung der Interessen der Schweizer Tochter - die
Aufenthaltsbewilligung allenfalls zu widerrufen oder nicht mehr zu verlängern,
wessen sich die Beschwerdeführerin bei der Gestaltung ihres weiteren
Aufenthalts im Land bewusst sein muss.