Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 I 227



Urteilskopf

137 I 227

23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
1B_407/2010 vom 4. Mai 2011

Regeste

Art. 29, 30 Abs. 1 und Art. 191c BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Ablehnung der
Mitglieder einer Strafkammer des Obergerichts im Berufungsverfahren.
Die richterliche Einwirkung auf den Vertreter des Angeklagten, um diesen zum
Rückzug der Berufung zu veranlassen, ist unzulässig (Bestätigung von BGE 134 I
238; E. 2.2).
Es bestehen keine Anhaltspunkte für den Anschein der Befangenheit bei den
übrigen Mitgliedern der Strafkammer (E. 2.5). Eine Gerichtspraxis, die den
Anforderungen an den verfassungsmässigen Richter und die richterliche
Unabhängigkeit nicht entspricht, kann den Anschein der Befangenheit aller
Mitglieder eines Spruchkörpers begründen (E. 2.6.4).

Sachverhalt ab Seite 228

BGE 137 I 227 S. 228

A. X. wurde vom Bezirksgericht Zürich (...) mehrerer Vermögensdelikte für
schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 17 Monaten und 15
Tagen verurteilt. Der Verurteilte gelangte gegen dieses Urteil mit Berufung an
das Obergericht des Kantons Zürich. Dieses räumte dem amtlichen Verteidiger von
X. eine Frist ein, um allfällige Beweisanträge zu stellen und zu begründen,
worauf dieser mit Eingabe vom 14. Juni 2010 Beweisanträge stellte. In der Folge
schrieb der Vorsitzende der I. Strafkammer des Obergerichts, Vizepräsident
Peter Marti, am 29. Juni 2010 dem Verteidiger einen Brief, worin er eine
Beurteilung der Sach- und Rechtslage abgab und den Verteidiger ersuchte, mit
seinem Klienten ernsthaft einen Rückzug der Berufung wegen schlechter
Erfolgsaussichten zu diskutieren. Der Verteidiger antwortete mit Schreiben vom
23. August 2010, dass an der Berufung festgehalten werde. Mit Schreiben vom 24.
August 2010 teilte Oberrichter Marti dem Verteidiger mit, dass er die
Aufrechterhaltung der Berufung zur Kenntnis nehme und am weiteren Verfahren
nicht mitwirken werde.
Mit Eingabe vom 26. August 2010 stellte X. den Antrag, dass der Vorsitzende
sowie sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts im
Berufungsverfahren wegen des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu
treten haben. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer gaben -
mit Ausnahme von Oberrichter Marti - gewissenhafte Erklärungen ab, dass sie
nicht befangen seien. Mit Beschluss vom 3. November 2010 bewilligte das
Gesamtgericht des Obergerichts ohne Mitwirkung der Mitglieder der I.
Strafkammer den Ausstand von Oberrichter Marti für das Berufungsverfahren. Das
Ablehnungsbegehren gegen die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder der I.
Strafkammer wies es ab.

B. Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 8. Dezember 2010
beantragt X., der Beschluss des Gesamtgerichts des Obergerichts vom 3. November
2010 sei aufzuheben. Sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts
seien wegen Befangenheit oder des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu
versetzen. Er rügt die Verletzung des Anspruchs auf ein unabhängiges und
unparteiisches Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) sowie des
Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 29 BV). Zur Begründung beruft er sich
auf BGE 134 I 238, worin die Unzulässigkeit eines ähnlichen Vorgehens, wie es
Oberrichter Marti gegenüber dem Verteidiger praktiziert habe, festgehalten
worden sei.
BGE 137 I 227 S. 229
Die übrigen Mitglieder der I. Strafkammer billigten das verfassungswidrige
Verhalten ihres Vorsitzenden, weshalb auch bei ihnen der Anschein der
Befangenheit bestehe. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch
darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und
unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob
diese Garantien verletzt sind, prüft das Bundesgericht frei. Art. 30 Abs. 1 BV
soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des
Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen.
Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei
objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der
Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen.
Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung angenommen,
wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind,
Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Solche Umstände
können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen
äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet
sein. Bei der Beurteilung solcher Umstände ist nicht auf das subjektive
Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit
muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn
Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der
Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht
verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 136 I 207 E. 3.1 S.
210; BGE 135 I 14 E. 2; BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240; BGE 133 I 1 E. 6.2; BGE
131 I 24 E. 1.1; je mit Hinweisen).
Der Anschein der Befangenheit kann durch unterschiedlichste Umstände und
Gegebenheiten erweckt werden. Dazu können nach der Rechtsprechung insbesondere
vor oder während eines Prozesses abgegebene Äusserungen eines Richters zählen,
die den Schluss zulassen, dass sich dieser bereits eine feste Meinung über den
Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240; BGE 125 I 119
E. 3a S. 122).
BGE 137 I 227 S. 230

2.2 Im vorliegenden Verfahren ist nicht umstritten, dass Oberrichter Marti mit
seinem Schreiben vom 29. Juni 2010 an den Verteidiger des Beschwerdeführers den
Anschein der Befangenheit erweckte (vgl. BGE 134 I 238 E. 2.6 S. 247). Deshalb
wurde ihm mit dem angefochtenen Entscheid der Ausstand bewilligt.

2.3 Das vom Obergericht abgewiesene Ausstandsbegehren gegen die übrigen
Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer begründete der
Beschwerdeführer damit, dass der Kammervorsitzende das Schreiben vom 29. Juni
2010 als Stellvertreter und mit Einverständnis der Referenten und Mitrichter
der Kammer versendet habe. Es handle sich um ein System, in das die ganze I.
Strafkammer involviert sei, sowie um ein Vorgehen, welches auf Absprache
erfolge und das bei den Mitrichtern zumeist Zustimmung finde, billigend in Kauf
genommen werde oder zumindest keine ausdrückliche Ablehnung erfahre. Wenn der
Prozess auf diese Weise erledigt werden könne, würden alle beteiligten Richter,
insbesondere die Referenten, von einer erheblichen Arbeitslast befreit.
Informelle Normen, Loyalität und Korpsgeist würden die Mitrichter verpflichten,
diese Praxis zu schützen. Der Kammervorsitzende verfüge über wesentliche
Qualifikations- und Steuerungsmöglichkeiten, welche für die Karriere seiner
Mitrichter wesentlich seien. Die Mitrichter, gerade wenn es sich um junge
Ersatzoberrichter handle, könnten sich diesem Gruppendruck kaum entziehen,
selbst wenn sie nicht einverstanden seien.

2.4 Das Obergericht hält der Argumentation des Beschwerdeführers im
angefochtenen Entscheid entgegen, die Ordnungsbefugnisse des Kammervorsitzenden
vermittelten ihm weder Vorgesetzteneigenschaft noch Befehlsgewalt (HAUSER/
SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, 2002, N. 4 zu §
39 und N. 2 zu § 121 GVG). Insbesondere erfolge keine Qualifikation der
Mitglieder oder Ersatzmitglieder durch den Kammervorsitzenden. Auch seien keine
anderen Steuerungsmöglichkeiten ersichtlich, mit welchen dieser auf deren
Karrieren Einfluss nehmen könnte. Es sei somit nicht einzusehen, weshalb sich
die übrigen Kammermitglieder informellen Normen, Loyalität und Korpsgeist
verpflichtet fühlen sollten. Entscheidend sei, ob die übrigen Richter der I.
Strafkammer den Inhalt des Schreibens vom 29. Juni 2010 gekannt und ihm
zugestimmt hätten, was aber vom Beschwerdeführer nicht behauptet werde. Aus den
Akten und dem besagten Schreiben des Kammervorsitzenden gehe dies nicht hervor.
Es seien bei objektiver Betrachtung keine Umstände auszumachen, welche bei den
Mitgliedern und
BGE 137 I 227 S. 231
Ersatzmitgliedern der I. Strafkammer den Anschein der Befangenheit und
Voreingenommenheit erweckten.

2.5 Den Ausführungen der Vorinstanz ist im Ergebnis zuzustimmen. Der
Beschwerdeführer stützt sich bei seiner Kritik teilweise auf Vermutungen und
nicht erhärtete Tatsachen, ohne darzulegen, dass der dem angefochtenen
Entscheid zugrunde liegende Sachverhalt mangelhaft erhoben wurde (Art. 97 Abs.
1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Somit ist im bundesgerichtlichen Verfahren der
Sachverhalt massgebend, den das Obergericht festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Aufgrund der aktenkundigen Sachlage ergeben sich keine Anhaltspunkte,
welche für einen Anschein der Befangenheit bei den übrigen Mitgliedern und
Ersatzmitgliedern der I. Strafkammer sprechen. Die Vermutung des
Beschwerdeführers, das Vorgehen von Oberrichter Marti sei mit den anderen
Kammermitgliedern abgesprochen worden, ist nicht weiter belegt. Auch liegen
zurzeit keine hinreichend konkreten Hinweise dafür vor, dass das Obergericht
systematisch im Widerspruch zu Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE
134 I 238) auf Parteivertreter einwirkt, um diese zum Rückzug von Rechtsmitteln
zu bewegen.
Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf ein faires
Verfahren im Sinne von Art. 29 BV bemängelt, kann ihm ebenfalls nicht gefolgt
werden. Er sieht diesen Grundsatz dadurch verletzt, dass der Präsident der I.
Strafkammer den urteilenden Spruchkörper erst nach seinem Ausstand wegen
offensichtlicher Befangenheit nach seinem Gutdünken habe zusammenstellen
wollen. Auch hier behauptet der Beschwerdeführer einen Sachverhalt, der in den
Akten keine Stütze findet. Die I. Strafkammer legt in ihrer Vernehmlassung zur
Beschwerde detailliert dar, wie die Besetzung des Spruchkörpers ohne
Einflussnahme von Oberrichter Marti erfolgte. Diese Darstellung vermag der
Beschwerdeführer nicht substanziiert in Zweifel zu ziehen. Somit ist auf die
Rüge der Verletzung von Art. 29 BV nicht weiter einzutreten.

2.6 Das Vorgehen des Kammervorsitzenden weckt vor dem Hintergrund des Anspruchs
auf einen verfassungsmässigen Richter (Art. 30 Abs. 1 BV) und die richterliche
Unabhängigkeit (Art. 191c BV) gleichwohl erhebliche grundsätzliche Bedenken.
Diese werden hier trotz des Umstands, dass sich Oberrichter Marti nach dem
angefochtenen Entscheid im Ausstand befindet, wegen des hohen Stellenwerts der
Garantie verfassungsmässiger und unabhängiger Gerichte dargelegt.
BGE 137 I 227 S. 232

2.6.1 Die Garantie des verfassungsmässigen Richters soll nach ständiger
Rechtsprechung zu der für einen korrekten und fairen Prozess notwendigen
Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit letztlich ein
gerechtes Urteil ermöglichen. Offenheit des Verfahrens und Möglichkeit eines
gerechten Urteils werden aber gefährdet, wenn ausserhalb des Prozesses liegende
Umstände in sachwidriger Weise auf das Verfahren einwirken. Auch soweit ein
Richter allein wegen des Anscheins der Voreingenommenheit soll abgelehnt und
ausgeschlossen werden können, wollen Verfassung und Konvention ein faires und
auch aus der (objektivierten) Sicht der Parteien offenes Verfahren garantieren.
Der amtende Richter soll ein "echter Mittler" sein, und der "Rechtsuchende soll
sich beim Richter im Recht geborgen fühlen". Neben dem Schutz der
Prozessparteien dient dies dem Vertrauen der Betroffenen in ein
rechtsstaatliches Justizverfahren und ermöglicht ihnen die innere Anerkennung
des Gerichtsurteils. Aus der Sicht der Rechtsgemeinschaft geht es schliesslich
um das Vertrauen im gerichtlichen Verfahren und letztlich die Legitimation von
Gerichten in einem demokratischen Rechtsstaat überhaupt (zum Ganzen: BGE 114 Ia
50 E. 3c S. 55 f. mit Hinweisen; REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit,
2001, S. 55 ff.).

2.6.2 Das Bundesgericht hat in BGE 134 I 238 E. 2.6 S. 245 ff., wo ebenfalls in
einem Berufungsverfahren eine Kontaktnahme eines Oberrichters mit einem
Rechtsvertreter zur Diskussion stand, entschieden, dass dieses Verhalten den
Anschein der Befangenheit erweckt. Mit der aktiven Mitteilung der vorläufigen
Einschätzung vonseiten des Referenten schon im Voraus wird der Eindruck
erweckt, dass sich dieser bereits eine abschliessende Meinung gebildet habe und
das Verfahren - auch unter Beachtung der noch bevorstehenden
Berufungsverhandlung - nicht mehr offen, der Prozess somit bereits verloren
sei. Der Betroffene wird nicht ohne Weiteres verstehen, dass die Mitteilung des
Referenten - nach durchgeführtem Verfahren vor erster Instanz - möglicherweise
auf eine Ersparnis an Aufwand und Kosten im Rechtsmittelverfahren abzielt.
Vielmehr bekommt er den Eindruck, dass die Berufungssache in rascher Weise
erledigt werden soll, "kurzer Prozess" gemacht wird. Bei dieser Sachlage
erweckt der den Kontakt mit dem Rechtsvertreter aufnehmende Referent den
Anschein, in der Sache nicht mehr offen und daher voreingenommen zu sein. Die
Partei kann mit Grund befürchten, der Referent unterziehe seine geäusserte
Auffassung anlässlich der Verhandlung und Beratung nicht mehr einer
BGE 137 I 227 S. 233
unvoreingenommenen Prüfung. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit des
Richters erscheint in einer solchen Situation aus objektiver Sicht als
begründet.

2.6.3 Eine Gerichtsperson, die trotz Kenntnis der erwähnten Grundsätze mit
einem Verteidiger Kontakt aufnimmt und ihr den Verzicht auf die Berufung
nahelegt, nimmt zumindest in Kauf, dass gegen sie im weiteren
Berufungsverfahren ein Ausstandsgrund vorliegt. Ein solches Verhalten, dessen
Unvereinbarkeit mit Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK in BGE 134 I 238
dargelegt wurde, ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.
Zunächst steht das Herbeiführen eines Ausstandsgrunds durch die Justizperson
selbst im Widerspruch zur Pflicht, ihre Unabhängigkeit und die anhaltende
Offenheit des Verfahrens sicherzustellen. Gerichtspersonen, die staatliche
Aufgaben wahrnehmen, sind an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu
ihrer Verwirklichung beizutragen (Art. 35 Abs. 2 BV). Der Ausstand ist als
prozessuale Folge einer unvermeidbaren Beeinträchtigung der richterlichen
Unabhängigkeit ausgestaltet. Die Möglichkeit des Ausstands entbindet die
Gerichtspersonen jedoch nicht von der Verpflichtung, primär mit eigenem
verantwortungsbewusstem Handeln ihre durch Art. 30 Abs. 1 und Art. 191c BV
garantierte Unabhängigkeit zu bewahren (vgl. KIENER, a.a.O., S. 327 ff.).
Mit dem Ausstand eines Richters wird zudem die Besetzung des Spruchkörpers
verändert, was im konkreten Fall im überwiegenden Interesse der Besetzung des
Spruchkörpers mit unabhängigen Gerichtspersonen hingenommen werden kann. Wird
einem zur Instruktion einer Angelegenheit zuständigen Richter jedoch
zugestanden, dass er in eigenem Belieben in einer konkreten Angelegenheit
seinen Ausstand provozieren darf, so entsteht die Gefahr der Manipulation der
Zusammensetzung des Spruchkörpers und damit der Rechtsprechung.
Auch kann der Anschein der Befangenheit eines Spruchkörpers entstehen, wenn ein
im Ausstand befindliches Mitglied einer Kammer seine Meinung zum Ausgang eines
Verfahrens bereits dargelegt hat und auf diese Weise den Spruchkörper
beeinflusst.
Ein bewusster Verstoss einer Gerichtsperson gegen die Pflicht zur Wahrung ihrer
Unabhängigkeit schadet somit dem Vertrauen in eine gerechte Beurteilung durch
die staatlichen Gerichte und ist geeignet, die Legitimation von Gerichten im
demokratischen Rechtsstaat
BGE 137 I 227 S. 234
infrage zu stellen. Akzeptanz und Legitimität der Justiz sowie die glaubwürdige
Autorität der Rechtsprechung und des ihr anvertrauten Rechts setzen jedoch ein
in der Erfahrung bewährtes Vertrauen auf reale Unabhängigkeit des Richters
unabdingbar voraus (vgl. KURT EICHENBERGER, Sonderheiten und Schwierigkeiten
der richterlichen Unabhängigkeit in der Schweiz, in: Unabhängigkeit und
Bindungen des Richters, Richard Frank [Hrsg.], 2. Aufl. 1997, S. 98).

2.6.4 Zurzeit liegen entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keine
hinreichend konkreten Hinweise dafür vor, dass das Obergericht systematisch im
Widerspruch zu Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf Parteivertreter
einwirkt, um diese zum Rückzug von Rechtsmitteln zu bewegen. Im Übrigen sind
auch Fälle denkbar, in welchen die Mitteilung einer vorläufigen Einschätzung
des zuständigen Richters mit den Garantien von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK vereinbar sein kann. Als Beispiele für zulässige Mitteilungen wird
in BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 243 f. erwähnt, dass einer Partei mit dem Hinweis
auf einen allfälligen Rückzug möglicherweise weitere Kosten und ein aufwändiges
Verfahren erspart werden können oder sie im Falle einer Anschlussberufung auf
die Gefahr einer Verschlechterung aufmerksam gemacht werden darf (vgl. zur
richterlichen Fürsorgepflicht BGE 131 I 350 E. 4.1 S. 360 mit Hinweisen).
Denkbar ist auch, dass einem Rechtssuchenden unmittelbar nach Eingang einer
Rechtsschrift offensichtliche formelle Mängel mitgeteilt werden und
gleichzeitig darauf hingewiesen wird, diese könnten während der noch laufenden
Beschwerdefrist behoben werden (für weitere Beispiele: BGE 134 I 238 E. 2.4 S.
243 f.).
Trotz solcher Möglichkeiten zulässiger Mitteilung einer vorläufigen
Einschätzung der Prozessaussichten an eine Verfahrenspartei ist dabei
grundsätzlich mit Blick auf den Anspruch auf einen unbefangenen Richter grosse
Zurückhaltung geboten. Keinesfalls sollte ein Richter den Rückzug des
Rechtsmittels fordern und dabei offen oder verdeckt Druck ausüben. Ebenso wenig
darf der Eindruck entstehen, dass sich der Richter mit der Sache nicht
urteilsmässig befassen wolle (BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 244). Eine Praxis, welche
den dargelegten Anforderungen nicht nachkommt, ist mit Art. 30 Abs. 1 und Art.
191c BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK unvereinbar und kann den Anschein der
Befangenheit nicht nur in Bezug auf die betroffene Gerichtsperson, sondern für
den gesamten Spruchkörper begründen.