Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 I 195



Urteilskopf

137 I 195

19. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. und Mitb.
gegen Stockwerkeigentümergemeinschaft E. und Betreibungsamt F. (Beschwerde in
Zivilsachen)
5A_791/2010 vom 23. März 2011

Regeste

Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf rechtliches Gehör,
Replikrecht.
Die Wahrnehmung des Replikrechts als Teilaspekt des Anspruchs auf rechtliches
Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK setzt die Zustellung der
von den übrigen Verfahrensbeteiligten eingereichten Eingaben voraus. Hat das
Gericht eine solche Eingabe nicht zugestellt, befindet sie sich jedoch bei den
Akten, kann die Rechtsmittelinstanz die Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör nicht mit dem blossen Verweis auf die Möglichkeit der
Akteneinsicht heilen (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 195

BGE 137 I 195 S. 195

A. Die Ehegatten A. und B. sowie C. und D. (nachfolgend Beschwerdeführer) sind
Stockwerkeigentümer mit Sonderrecht an einer
BGE 137 I 195 S. 196
4 ½- beziehungsweise 3 ½-Zimmerwohnung. Sie sind alle Mitglieder der
Stockwerkeigentümergemeinschaft E. (nachfolgend Beschwerdegegnerin).
Mit "beschwerdefähiger Verfügung" vom 22. Juli 2010 kündigte das Betreibungsamt
F. den Beschwerdeführern im Rahmen mehrerer Betreibungsverfahren die
Durchführung der Schätzung ihrer Stockwerkeigentumsanteile auf den 26. August
2010, 09.00 Uhr, an.

B. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde an das Bezirksgericht
Dielsdorf als untere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen.
Mit Verfügung vom 16. August 2010 forderte das Bezirksgericht das
Betreibungsamt zur ("obligatorischen") Vernehmlassung und die
Beschwerdegegnerin zur Einreichung einer Beschwerdeantwort auf. Die
Beschwerdegegnerin und das Betreibungsamt reichten jeweils am 27. August 2010
eine Beschwerdeantwort beziehungsweise Vernehmlassung ein.
In seinem Beschluss vom 7. September 2010 trat das Bezirksgericht auf die
Beschwerde nicht ein.

C. Die Beschwerdeführer gelangten mit Rekurs vom 17. September 2010 an das
Obergericht des Kantons Zürich als obere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs-
und Konkurssachen. Neben der Aufhebung des bezirksgerichtlichen Beschlusses
verlangten sie insbesondere Einsicht in die Beschwerdeantwort der
Beschwerdegegnerin beziehungsweise in die Vernehmlassung des Betreibungsamtes
und die Einräumung einer Frist zur Beschwerdeergänzung.
Mit Beschluss vom 29. Oktober 2010 hiess das Obergericht den Rekurs in einem
Nebenpunkt teilweise gut. Im Übrigen wies es den Rekurs ab, soweit es darauf
eintrat.

D. Dem Bundesgericht beantragen die Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde vom
11. November 2010 insbesondere die Aufhebung des obergerichtlichen Beschlusses
(mit Ausnahme einer Dispositivziffer). Das Obergericht und das Betreibungsamt
haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Beschwerdegegnerin schliesst auf
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in
Zivilsachen gut, soweit es darauf eintritt, hebt die Dispositivziff. 1, 3 und 5
des angefochtenen Urteils auf und weist die Sache insoweit zu neuer Beurteilung
im Sinne der Erwägungen an das Obergericht zurück.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

BGE 137 I 195 S. 197
Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführer rügen hauptsächlich eine Verletzung ihres Replikrechts
als Ausfluss ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.

2.2 Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Dessen Verletzung führt
ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der
Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides (BGE 135 I 279 E.
2.6.1 S. 285). Diese Rüge ist deshalb vorweg zu behandeln.

2.3

2.3.1 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien eines
Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Diese Garantie umfasst auch
das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu
erhalten und sich dazu äussern zu können (sog. Replikrecht: BGE 133 I 98 E. 2.1
S. 99). Die Wahrnehmung des Replikrechts setzt voraus, dass die fragliche
Eingabe der Partei zugestellt wird. Das Bundesgericht hat wiederholt
festgehalten, dass den Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Zustellung von
Vernehmlassungen zusteht, unabhängig davon, ob diese Eingaben neue und
erhebliche Gesichtspunkte enthalten. Das Gericht muss vor Erlass seines Urteils
eingegangene Vernehmlassungen den Beteiligten zustellen, damit diese sich
darüber schlüssig werden können, ob sie sich dazu äussern wollen oder nicht (
BGE 133 I 100 E. 4.5 S. 103 f. mit Hinweisen; BGE 133 I 98 E. 2.2 S. 99; BGE
132 I 42 E. 3.3.2-3.3.4 S. 46 f.; Urteile 4D_111/2010 vom 19. Januar 2011 E.
2.1; 6B_181/2009 vom 29. September 2009 E. 2; 5A_411/2007 vom 29. November 2007
E. 4.2 f., in: ZBGR 2009 S. 254 f.; vgl. auch die Urteile des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte Schaller-Bossert g egen Schweiz vom 28.
Oktober 2010 § 39 f. und Nideröst-Huber gegen Schweiz vom 18. Februar 1997,
Recueil CourEDH 1997-I S. 101 § 24).

2.3.2 Eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs
kann ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die
Möglichkeit erhält, sich vor einer Rechtsmittelinstanz zu äussern, die sowohl
den Sachverhalt wie auch die Rechtslage frei überprüfen kann. Unter dieser
Voraussetzung ist darüber hinaus - im Sinne einer Heilung des Mangels - selbst
bei einer schwerwiegenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von
einer Rückweisung der Sache an die Vorinstanz abzusehen, wenn und
BGE 137 I 195 S. 198
soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen
Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten)
Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache
nicht zu vereinbaren wären (vgl. zum Ganzen: BGE 136 V 117 E. 4.2.2.2 S. 126
f.; BGE 133 I 201 E. 2.2 S. 204 f.).

2.4 Das Obergericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass das
Bezirksgericht die Beschwerdeführer weder über die von der Beschwerdegegnerin
eingereichte Beschwerdeantwort noch die Vernehmlassung des Betreibungsamtes
orientiert noch ihnen diese beiden Eingaben zugestellt habe. Die
Beschwerdeführer hätten damit "aktenkundlich" erst mit dem bezirksgerichtlichen
Beschluss vom 7. September 2010 von der Existenz dieser beiden Eingaben
erfahren.
Gestützt auf diese Tatsachenfeststellungen schloss das Obergericht auf eine
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführer durch das
Bezirksgericht. Da es selbst aber über die gleiche Kognition wie das
Bezirksgericht verfüge, werde dieser nicht besonders schwere Mangel im
obergerichtlichen Verfahren geheilt, indem die Beschwerdeführer "umfassend zu
hören" seien. Entgegen dem Rekursantrag sei aber die Zustellung der beiden
fraglichen Eingaben an die Beschwerdeführer nicht geboten, nachdem sie
spätestens mit dem bezirksgerichtlichen Entscheid Kenntnis von den Eingaben
erhalten hätten und ihnen stets das Recht auf Akteneinsicht zugestanden habe.

2.5 Die Beschwerdeführer wenden dagegen ein, der vorliegend in Frage stehende
Verfahrensfehler sei besonders schwer und damit eine Heilung durch die
Rechtsmittelinstanz von vornherein ausgeschlossen. Selbst wenn jedoch eine
Heilung durch das Obergericht möglich gewesen wäre, könne diese nicht mit dem
blossen Verweis auf das Akteneinsichtsrecht der Beschwerdeführer erfolgen,
sondern hätte das Obergericht die fraglichen Eingaben von sich aus zustellen
müssen.

2.6 Das Obergericht hat zutreffend auf eine Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör durch das Bezirksgericht geschlossen, da dieses den
Beschwerdeführern die Vernehmlassung des Betreibungsamtes und die
Beschwerdeantwort der Beschwerdegegnerin nicht zustellte (obwohl es diese
Eingaben zudem in seinem Entscheid ausführlich berücksichtigte).
BGE 137 I 195 S. 199
Eine Heilung dieses Mangels durch das Obergericht - das über dieselbe Kognition
verfügt wie das Bezirksgericht - hätte nun aber vorausgesetzt, dass diese
beiden Eingaben den Beschwerdeführern zugestellt worden wären und sie sich dazu
hätten äussern können. Nur so hätte der aus dem Replikrecht fliessende Anspruch
auf Zustellung der Vernehmlassungen gewahrt werden können (vgl. E. 2.3.1 oben).
Dies war aber vorliegend nicht der Fall. Das Obergericht durfte die
festgestellte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der
Beschwerdeführer nicht mit dem reinen Verweis auf die Möglichkeit der
Akteneinsicht heilen.
Die Argumentation des Obergerichts läuft zudem darauf hinaus, dass die
Beschwerdeführer ihr Recht auf Akteneinsicht innerhalb der Rechtsmittelfrist
hätten wahrnehmen müssen. Statt einer Replik hätten sie sogleich die
Rekursschrift unter Berücksichtigung der Argumente in den beiden Eingaben des
Betreibungsamtes und der Beschwerdegegnerin einreichen müssen. Angesichts der
Rechtsmittelfrist von zehn Tagen (Art. 18 Abs. 1 SchKG) wären damit den
Beschwerdeführern im Ergebnis nur wenige Tage verblieben, um auf die fraglichen
Eingaben reagieren zu können, was ohnehin unzureichend wäre (vgl. Urteil 2C_794
/2008 vom 14. April 2009 E. 3.5).
Indem das Obergericht den Beschwerdeführern die Vernehmlassung und
Beschwerdeantwort nicht zustellte, verletzte es (wie bereits das
Bezirksgericht) ihren Anspruch auf rechtliches Gehör beziehungsweise hat es die
vorangegangene Verletzung durch das Bezirksgericht nicht geheilt.

2.7 Der angefochtene Entscheid (Ziff. 1, 3 und 5 des Dispositivs) ist aus den
dargelegten Gründen aufzuheben, ohne dass die von den Beschwerdeführern
überdies geltend gemachten Rügen noch zu prüfen wären. Eine Heilung dieses
Verfahrensmangels im bundesgerichtlichen Verfahren ist nicht angezeigt. Sofern
der Vorinstanz eine Missachtung formeller Verfahrensgarantien vorgeworfen
werden muss, bildet die Kassation ihres Entscheides weiterhin die Regel, zumal
die Rechtsunterworfenen grundsätzlich Anspruch auf Einhaltung des
Instanzenzuges haben (Urteil 8C_241/2007 vom 9. Juni 2008 E. 1.3.2).