Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 92



Urteilskopf

137 IV 92

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und Zwangsmassnahmengericht des Kantons
Aargau (Beschwerde in Strafsachen)
1B_153/2011 vom 5. Mai 2011

Regeste

Art. 31 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Art. 224 Abs. 1 und 2, Art. 226 Abs. 1 StPO;
Beschleunigungsgebot, Fristen des Haftverfahrens.
Der Staatsanwaltschaft und dem Zwangsmassnahmengericht stehen nach den
angeführten Bestimmungen der StPO nach der Festnahme des Beschuldigten je 48
Stunden zu, um den Haftantrag zu stellen bzw. den Haftentscheid zu fällen. Die
Untersuchungshaft wird nicht schon dann gesetzwidrig, wenn die
Staatsanwaltschaft den Haftantrag verspätet einreicht, sondern erst, wenn das
Zwangsmassnahmengericht nicht innert 96 Stunden entschieden hat. Diese
gesetzlichen Fristen sind Maximalfristen, die im Normalfall nicht ausgeschöpft
werden dürfen (E. 2 und 3).
Das Zwangsmassnahmengericht hat den Haftentscheid 86 Stunden nach der Festnahme
eröffnet, was in concreto nicht zu beanstanden ist. Der Verletzung der
48-stündigen Frist durch die Staatsanwaltschaft wurde vom Obergericht im
angefochtenen Entscheid bereits Rechnung getragen, indem es eine entsprechende
Feststellung ins Dispositiv aufnahm und entgegen dem Ausgang des Verfahrens die
gesamten Gerichtskosten auf die Staatskasse nahm (E. 3.2.2 und 3.2.3).
Das Obergericht selber hat das Beschleunigungsgebot nicht verletzt, indem es
die Sache ans Zwangsmassnahmengericht zurückwies, anstatt selber zu entscheiden
(E. 3.2.4).

Sachverhalt ab Seite 94

BGE 137 IV 92 S. 94

A. X. wurde am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, beim Grenzübertritt in Diepoldsau/SG
vorläufig festgenommen wegen des Verdachts, einer international tätigen, auf
Luxusautomobile spezialisierten Diebesbande anzugehören. Am 2. März 2011 wurde
er der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau zugeführt, welche ihn tags darauf
befragte und ihm anschliessend die Festnahme eröffnete. Am 4. März 2011
beantragte die Staatsanwaltschaft Aarau-Lenzburg dem Zwangsmassnahmengericht
des Kantons Aargau, gegen X. vorläufig bis zum 3. Juni 2011 Untersuchungshaft
anzuordnen.
Am 5. März 2011 führte das Zwangsmassnahmengericht eine Verhandlung durch und
versetzte X. bis zum 3. Juni 2011 in Untersuchungshaft.
Am 7. März 2011 erhob X. beim Obergericht des Kantons Aargau Beschwerde mit dem
Antrag, ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Am 21. März 2001 erkannte die Beschwerdekammer des Obergerichts:
"1. Es wird festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau das
prozessuale Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt hat.
2. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Verfügung des
Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 5. März 2011 aufgehoben. Die
Sache wird zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Haftrichterin
zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
3. und 4. (Kosten- und Entschädigungsfolgen)"

B. Am 25. März 2011 versetzte das Zwangsmassnahmengericht X. einstweilen bis
zum 1. Juni 2011 in Untersuchungshaft. Die Beschwerde von X. gegen diesen
Entscheid ist beim Obergericht hängig.

C. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 1. April 2011 beantragt X. in der Sache,
Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids des Obergerichts vom 21. März 2011
aufzuheben und wie folgt neu zu fassen:
BGE 137 IV 92 S. 95
"Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des
Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 5. März 2011 aufgehoben. Der
Beschwerdeführer wird unverzüglich aus der Haft entlassen."
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Der Beschwerdeführer wurde am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, festgenommen. Der
Haftanordnungsantrag der Staatsanwaltschaft ging nach den unbestrittenen
Feststellungen der kantonalen Instanzen am 4. März 2011, um 07.36 Uhr, beim
Zwangsmassnahmengericht ein. Dieses führte die Haftverhandlung am 5. März 2011,
ab 08.30 Uhr, durch und eröffnete dem Beschwerdeführer den Haftentscheid um
9.15 Uhr mündlich.

2.1 Nach Art. 224 Abs. 1 der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen (AS 2010
1881) Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0)
befragt die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person unverzüglich und gibt
ihr Gelegenheit, sich zum Tatverdacht und zu den Haftgründen zu äussern. Sie
erhebt unverzüglich jene Beweise, die zur Erhärtung oder zur Entkräftung des
Tatverdachts und der Haftgründe geeignet und ohne Weiteres verfügbar sind.
Bestätigen sich der Tatverdacht und die Haftgründe, so beantragt die
Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens aber
innert 48 Stunden seit der Festnahme, die Anordnung von Untersuchungshaft oder
einer Ersatzmassnahme. Sie reicht ihren Antrag schriftlich ein, begründet ihn
kurz und legt die wesentlichen Akten bei (Abs. 2). Nach Art. 226 Abs. 1 StPO
hat daraufhin das Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens aber innert
48 Stunden nach Eingang des Antrags zu entscheiden.

2.2 Die Staatsanwaltschaft beantragte die Anordnung von Untersuchungshaft rund
60 Stunden nach der Festnahme des Beschwerdeführers, mithin 12 Stunden zu spät.
Das ist unstrittig und wurde vom Obergericht mit einer entsprechenden
Feststellung in Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids sanktioniert.
Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 224 Abs. 2 StPO statuiere eine
Gültigkeits-, keine blosse Ordnungsvorschrift. Sie könne zwar im Ausnahmefall
zugunsten des Festgenommenen - z.B. für die Abnahme eines Entlastungsbeweises -
in engem Rahmen überschritten werden. Abgesehen davon sei sie zwingend
einzuhalten, bei Verletzung der Frist müsse der Festgenommene unverzüglich auf
BGE 137 IV 92 S. 96
freien Fuss gesetzt werden, da die Bestimmung sonst toter Buchstabe bleibe.

3.

3.1 Der Anspruch des Festgenommenen auf einen unverzüglichen richterlichen
Entscheid über die Anordnung von Untersuchungshaft bzw. die entsprechende
Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, einen Haftantrag mit besonderer
Beschleunigung dem zuständigen Haftrichter vorzulegen, ergeben sich unabhängig
vom anwendbaren Prozessrecht aus den entsprechenden verfassungs- und
konventionsrechtlichen Garantien von Art. 31 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK; eine
übermässige Haftdauer oder ungerechtfertigte, von den Strafverfolgungsbehörden
zu vertretende Verzögerungen im Haftanordnungsverfahren stellen
unverhältnismässige Beschränkungen dieser Grundrechte dar (BGE 133 I 270 E.
1.2.2; BGE 128 I 149 E. 2.2.1; je mit Hinweisen). Die Rechtsprechung zum
Beschleunigungsgebot geht zwar davon aus, dass die Frist zwischen Festnahme und
haftrichterlicher Anhörung 48 Stunden grundsätzlich nicht überschreiten sollte
(BGE 136 I 274 E. 2.2; BGE 131 I 36 E. 2.6 S. 44). Diese Zeitspanne ist
allerdings nicht als starre Frist zu verstehen; vielmehr ist stets im
Einzelfall zu prüfen, ob die Zeitspanne zwischen Festnahme und
haftrichterlicher Verhandlung unter Berücksichtigung aller massgeblicher
Umstände noch als "unverzüglich" im Sinn der verfassungs- und
konventionsrechtlichen Garantien gelten kann oder nicht. Die Verletzung des
Beschleunigungsgebotes kann im Weiteren nur zur Haftentlassung führen, wenn die
Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft
in Frage zu stellen. Das ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und
die Strafverfolgungsbehörden erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder in
der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und
konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben (BGE 128 I 149 E.
2.2.1; Urteil 1B_63/2007 vom 11. Mai 2007 E. 4.3, nicht publ. in: BGE 133 I 168
).

3.2 Der Gesetzgeber hat für den Zeitablauf zwischen Festnahme und Haftentscheid
nunmehr konkrete Fristen aufgestellt. Danach hat die Staatsanwaltschaft maximal
48 Stunden Zeit bis zur Einreichung des Haftantrags, und dem
Zwangsmassnahmengericht stehen anschliessend maximal 48 Stunden zu, seinen
Entscheid zu fällen (Art. 224 Abs. 2, Art. 226 Abs. 1 StPO). Das Gesetz regelt
die Säumnisfolgen nicht, und die Botschaft (BBl 2006 1085 ff., insbesondere
1230 ff.) schweigt sich dazu aus.
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3.2.1 Diese gesetzlichen Fristen sollen offensichtlich die oben in E. 3.1
dargestellten verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben konkretisieren.
Bereits daraus ergibt sich ohne Weiteres, dass es sich dabei nicht um reine
Ordnungsfristen handelt, aus deren Überschreitung der Betroffene in der Regel
nichts zu seinen Gunsten ableiten kann. Für den Festgenommenen entscheidend ist
allerdings nur die Zeitspanne zwischen Festnahme und Haftentscheid. Von
untergeordneter Bedeutung ist für ihn hingegen, wie sich die einzelnen
Verfahrensschritte vor dem Haftentscheid zeitlich verteilen. Insofern richtet
sich die Frist von Art. 224 Abs. 2 StPO in erster Linie an die
Staatsanwaltschaft, die durch deren Einhaltung gezwungen werden soll, dem
Haftrichter ausreichend Zeit für die Prüfung des Haftantrags einzuräumen. Es
handelt sich damit um eine vor allem die inneren Abläufe der
Strafverfolgungsbehörden betreffende Frist, deren Einhaltung grundsätzlich auch
im Interesse der festgenommenen Person liegt. Daraus ergibt sich, dass die
Aufrechterhaltung der Haft nicht schon dann gesetzwidrig wird, wenn die
Staatsanwaltschaft den Haftantrag nicht innert 48 Stunden nach der Festnahme
dem Haftrichter einreicht, sondern erst, wenn der Haftrichter den Haftentscheid
dem Festgenommenen nicht innert 96 Stunden nach der Festnahme eröffnet hat.
Allerdings ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass das verfassungs- und
konventionsrechtliche ebenso wie das strafprozessuale Beschleunigungsgebot eine
besonders beförderliche Behandlung des Haftverfahrens verlangen, was bedeutet,
dass diese gesetzlichen Maximalfristen im Normalfall weit unterschritten werden
müssen und höchstens in begründeten Einzelfällen ausgeschöpft werden dürfen.

3.2.2 Vorliegend wurde der Beschwerdeführer am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, bei
der Einreise in die Schweiz im Kanton St. Gallen verhaftet und am nächsten Tag
ins Bezirksgefängnis Unterkulm überführt, wo er um 17.30 Uhr eintraf. Die
Erledigung der mit der Festnahme verbundenen Formalitäten und die Organisation
des Transports sind mit einem nicht unerheblichen Zeitaufwand verbunden,
weshalb diese Überführung in zeitlicher Hinsicht nicht zu beanstanden ist.
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau führte mit dem Beschwerdeführer am 3.
März 2011, um 08.25 Uhr, eine Einvernahme durch. Sie erstellte gleichentags den
Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft und faxte diesen
unbestrittenermassen um 17.45 Uhr dem Verteidiger des Beschwerdeführers. Dem
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Zwangsmassnahmengericht stellte sie den Antrag am 4. März 2011, um 07.36 Uhr,
zu. Das Obergericht hat zu Recht beanstandet, dass die Staatsanwaltschaft die
Zustellung an das Zwangsmassnahmengericht ohne zwingenden Grund über Nacht
hinausschob. Dieses hat den Haftentscheid dann innert 26 Stunden gefällt und
eröffnet. Dieser Zeitbedarf erscheint unter dem Gesichtspunkt des
Beschleunigungsgebots nicht übermässig, insbesondere weil auch noch eine
Dolmetscherin aufgeboten werden musste.

3.2.3 Eine zusammenfassende Würdigung der Verfahrensführung in zeitlicher
Hinsicht ergibt somit, dass zwar der Staatsanwaltschaft vorzuwerfen ist, dass
sie den Antrag auf Haftanordnung dem Zwangsmassnahmengericht nicht am Abend des
3., sondern erst am frühen Morgen des 4. März 2011 zustellte und damit die
Frist von Art. 224 Abs. 2 StPO verletzte. Die richterliche Eröffnung der
Untersuchungshaft erfolgte indessen 86 Stunden nach der Festnahme und damit
innerhalb der gesetzlichen Maximalfrist von 96 Stunden. Das ist insbesondere
mit Blick auf die Schwierigkeiten des Verfahrens - Zuführung des
Beschwerdeführers aus einem anderen Kanton und Notwendigkeit, eine
Dolmetscherin für eine in der Schweiz wenig gängige Sprache aufzubieten -
gerade noch akzeptabel. Die Rüge, der Beschwerdeführer hätte wegen Verletzung
des Beschleunigungsgebots umgehend auf freien Fuss gesetzt werden müssen, ist
unbegründet. Das Obergericht hat zudem der Verletzung der Frist von Art. 224
Abs. 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft bereits Rechnung getragen, indem es
die Verletzung des Beschleunigungsgebots feststellte und entgegen dem Ausgang
des Beschwerdeverfahrens die gesamten Gerichtskosten auf die Staatskasse nahm,
obwohl es die Beschwerde nur teilweise guthiess und damit der Beschwerdeführer
an sich einen Teil der Verfahrenskosten hätte übernehmen müssen.

3.2.4 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe auch selber das
Beschleunigungsgebot verletzt, indem es die Sache zu neuem Entscheid an das
Zwangsmassnahmengericht zurückgewiesen habe, anstatt selber zu entscheiden. Mit
einem Entscheid in der Sache hätte das Obergericht indessen den Rechtsmittelzug
des Beschwerdeführers um eine Instanz verkürzt, und es steht keineswegs fest,
dass es in der Lage gewesen wäre, schneller neu zu entscheiden als es das
Zwangsmassnahmengericht tat, nämlich am 25. März 2011, nur vier Tage nach dem
Rückweisungsentscheid. Dieser ist daher auch unter dem Gesichtspunkt des
Beschleunigungsgebots vertretbar. Die Rüge ist unbegründet.