Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 84



Urteilskopf

137 IV 84

11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft und Zwangsmassnahmengericht des Kantons Basel-Landschaft
(Beschwerde in Strafsachen)
1B_126/2011 vom 6. April 2011

Regeste

Haftgrund der Wiederholungsgefahr; Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO.
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO in der deutschen und der italienischen Fassung ist
dahingehend auszulegen, dass "Verbrechen oder schwere Vergehen" drohen müssen
(E. 3.2).

Sachverhalt ab Seite 84

BGE 137 IV 84 S. 84

A. X. befindet sich seit dem 15. Juli 2010 in Untersuchungshaft. Gegen ihn
wurde ein Strafverfahren wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz eingeleitet.
Am 29. September 2010 beantragte das Besondere Untersuchungsrichteramt des
Kantons Basel-Landschaft die Verlängerung der Untersuchungshaft um sechs
Monate. Mit Beschluss vom 7. Oktober 2010 entsprach die Präsidentin des
Verfahrensgerichts in Strafsachen des Kantons Basel-Landschaft dem Gesuch. Sie
verlängerte die Untersuchungshaft für die Dauer von sechs Monaten bis zum 7.
April 2011.
Am 3. November 2010 erhob X. Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht.
Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 23. November 2010 ab (Urteil 1B_356/
2010).

B. Im Hinblick auf das Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung
vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) per 1. Januar
BGE 137 IV 84 S. 85
2011 reichte die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft dem
Zwangsmassnahmengericht Basel-Landschaft am 30. Dezember 2010 ein Gesuch um
Bestätigung, eventualiter um Neuanordnung der Untersuchungshaft gegen X. bis
zum 7. April 2011 ein.
Mit Entscheid vom 14. Januar 2011 stellte das Zwangsmassnahmengericht fest, die
mit Beschluss vom 7. Oktober 2010 bis zum 7. April 2011 verlängerte
Untersuchungshaft entspreche den gesetzlichen Bestimmungen der StPO.
Gegen diesen Entscheid erhob X. am 20. Januar 2011 Beschwerde ans
Kantonsgericht Basel-Landschaft. Mit Beschluss vom 28. Februar 2011 wies das
Kantonsgericht die Beschwerde ab und bestätigte den Entscheid des
Zwangsmassnahmengerichts vom 14. Januar 2011.

C. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 21. März 2011 beantragt X. insbesondere
den Beschluss des Kantonsgerichts vom 28. Februar 2011 aufzuheben und ihn
sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.2 Sinn und Zweck der Anordnung von Haft wegen Wiederholungs- bzw.
Fortsetzungsgefahr ist die Verhütung von Delikten. Die Haft ist somit
überwiegend Präventivhaft. Die Notwendigkeit, die beschuldigte Person an der
Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern, anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c
EMRK ausdrücklich als Haftgrund. Die Anordnung von Haft wegen
Wiederholungsgefahr dient auch dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung,
indem verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte
kompliziert und in die Länge zieht (BGE 135 I 71 E. 2.2 S. 72). Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr ist restriktiv zu handhaben (BGE 135 I 71 E. 2.3, 2.6
und 2.11 S. 73 ff.).
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO setzt die ernsthafte Befürchtung voraus, dass die
beschuldigte Person durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit
anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Strafen
verübt hat. Verlangt ist mithin eine ernsthafte und erhebliche Gefährdung der
Sicherheit anderer durch
BGE 137 IV 84 S. 86
"schwere Verbrechen oder Vergehen". Verbrechen sind Taten, die mit
Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (Art. 10 Abs. 2 StGB);
Vergehen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafe bedroht sind (Art. 10 Abs. 3 StGB). Die deutschsprachige sowie die
italienische Fassung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO sind als missglückt
einzustufen, denn "minder schwere" Verbrechen werden vom Wortlaut nicht
erfasst, obwohl sie mit höheren Strafen bedroht sind als Vergehen. Sachgerecht
erscheint, jegliche Verbrechen zu erfassen. Gestützt auf den
französischsprachigen Gesetzestext - "des crimes ou des délits graves" - ist
die Bestimmung deshalb durch Umplatzierung des Adjektivs "schwere" dahingehend
auszulegen, dass "Verbrechen oder schwere Vergehen" drohen müssen (vgl. zum
Ganzen MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung,
2011, N. 11 ff. zu Art. 221 StPO).
Die Begehung der in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO genannten Delikte muss
ernsthaft zu befürchten sein. Erforderlich ist eine sehr ungünstige
Rückfallprognose; dabei sind insbesondere die Häufigkeit und Intensität der
untersuchten Delikte sowie die einschlägigen Vorstrafen zu berücksichtigen
(FORSTER, a.a.O., N. 14 zu Art. 221 StPO).
Das Gesetz verlangt als weitere Voraussetzung der Präventivhaft wegen
Wiederholungsgefahr, dass die beschuldigte Person bereits früher gleichartige
Vortaten verübt hat (vgl. insoweit BGE 137 IV 13). Auch bei den Vortaten muss
es sich um Verbrechen oder schwere Vergehen gegen gleiche oder gleichartige
Rechtsgüter gehandelt haben. Die früher begangenen Straftaten können sich aus
rechtskräftig abgeschlossenen früheren Strafverfahren ergeben. Sie können
jedoch auch Gegenstand eines noch hängigen Strafverfahrens bilden, in dem sich
die Frage der Untersuchungs- und Sicherheitshaft stellt. Das Gesetz spricht von
verübten Straftaten und nicht bloss einem Verdacht, sodass dieser Haftgrund nur
bejaht werden kann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
feststeht, dass die beschuldigte Person solche Straftaten begangen hat. Neben
einer rechtskräftigen Verurteilung gilt der Nachweis auch bei einem glaubhaften
Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht (FORSTER, a.a.O., N.
15 zu Art. 221 StPO; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung,
Praxiskommentar, 2009, N. 12 zu Art. 221 StPO).