Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 7



Urteilskopf

137 IV 7

2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S.
Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Beschwerde in
Strafsachen)
6B_490/2010 vom 11. Januar 2011

Regeste

Art. 5, 15 und 32 JStG; Anrechnung vorsorglicher jugendstrafrechtlicher
Massnahmen.
Vorsorgliche jugendstrafrechtliche Schutzmassnahmen gemäss Art. 5 JStG sind
nicht als Untersuchungshaft im Sinne von Art. 110 Abs. 7 StGB zu verstehen (E.
1.6.1).
Der Zeitpunkt der Anrechnung einer vorsorglichen jugendstrafrechtlichen
Massnahme an den ausgefällten Freiheitsentzug ist unterschiedlich, je nachdem,
ob der Richter im Haupturteil die im Untersuchungsstadium vorsorglich
angeordnete Massnahme unverändert weiterführt, ändert oder ganz aufhebt. Nur im
Falle ihrer Änderung oder Aufhebung ist im Sachurteil über die Anrechnung zu
befinden, ansonsten erst nach deren Beendigung (E.1.6.2).

Sachverhalt ab Seite 8

BGE 137 IV 7 S. 8

A. Das Jugendgericht Winterthur verurteilte am 17. Juni 2009 X. wegen Schändung
zum Nachteil von A., mehrfachen Raubes, falscher Anschuldigung,
Hausfriedensbruchs, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen teilweise
geringfügigen Diebstahls sowie mehrfacher Übertretung des
Betäubungsmittelgesetzes zu einem unbedingten Freiheitsentzug von elf Monaten.
Es rechnete 17 Tage erstandene Haft sowie 161 Tage Unterbringung in
geschlossenen Anstalten an den Freiheitsentzug an. Es ordnete ausserdem eine
Unterbringung von X. in einer geschlossenen Einrichtung im Sinne von Art. 15
Abs. 1 und 2 JStG sowie eine ambulante Behandlung gemäss Art. 14 JStG an.

B. X. sowie die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhoben gegen
dieses Urteil Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, das mit Urteil
vom 26. Februar 2010 die Rechtskraft der nicht angefochtenen Urteilspunkte des
Jugendgerichts Winterthur feststellte und X. der Schändung sowie der
Sachbeschädigung zum Nachteil der SBB schuldig sprach. Es bestrafte ihn mit 11
Monaten Freiheitsentzug, welche durch vorläufige Festnahme, Untersuchungs- und
Sicherheitshaft erstanden seien.

C. Die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in
Strafsachen. Sie beantragt, das Urteilsdispositiv betreffend Anrechnung der
vorsorglichen Schutzmassnahme an den ausgefällten Freiheitsentzug aufzuheben
und durch folgende Anordnung zu ersetzen: "Der Angeklagte wird bestraft mit 11
Monaten Freiheitsentzug, wovon 17 Tage durch Untersuchungshaft erstanden sind."
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zur neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
( Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die vorliegende Beschwerde in Strafsachen richtet sich einzig gegen die
vorinstanzliche Anrechnung der Dauer der vorsorglichen Unterbringung an den
ausgefällten Freiheitsentzug.
BGE 137 IV 7 S. 9

1.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz verletze Art. 51 StGB
in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über das
Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1), Art. 1 Abs. 3 JStG in
Verbindung mit Art. 2 JStG sowie Art. 11 und Art. 32 Abs. 3 JStG. Die
Anrechnung der vorsorglich angeordneten Schutzmassnahme habe nicht im Zeitpunkt
des Urteils zu erfolgen, in dem die definitive Schutzmassnahme angeordnet
werde. Der Entscheid sei vielmehr im Rahmen der Aufhebung der Schutzmassnahme
zu fällen beziehungsweise sei bei erreichtem Zweck der Massnahme obsolet.
Andernfalls würde die vom Gesetzgeber angestrebte ergänzende Funktion von
Schutzmassnahme und Strafe im Sinne des dualistischen Systems aufgehoben.
Faktisch könnten Jugendliche, bei denen vorsorglich eine Schutzmassnahme
angeordnet worden sei und die gemäss Urteil weitergeführt werde, nicht mehr
bestraft werden. Dasselbe gelte für Jugendliche, die in eine
Erziehungseinrichtung eingewiesen worden seien und während laufender
Schutzmassnahme delinquierten. Diese könnten aufgrund der Anrechnung der
Schutzmassnahme nicht mehr sanktioniert werden, was für die untergebrachten
Jugendlichen einem Freipass gleichkäme, weiter zu delinquieren.

1.2 Die Vorinstanz erwägt, über den Zeitpunkt der Anrechnung der vorsorglichen
Unterbringung sagten weder die Art. 15, 16 und 32 JStG noch die in Ergänzung zu
den Bestimmungen des Jugendstrafrechts auf Jugendliche anwendbaren §§ 368-389
StPO/ZH, insbesondere die §§ 380 und 382 StPO/ZH, etwas aus. In solchen Fällen
seien gemäss Art. 1 Abs. 2 lit. b JStG ergänzend die Bestimmungen des
Strafgesetzbuches - hier Art. 51 StGB (Anrechnung der Untersuchungshaft) -
sinngemäss anwendbar. Unter dem in Art. 110 Abs. 7 StGB verwendeten Begriff
"Untersuchungshaft" könne jede Form der Freiheitsentziehung verstanden werden,
so auch die vorsorgliche Unterbringung. Diese sei im vorliegenden Fall damit
begründet worden, dass "die persönliche, gesundheitliche, erzieherische und
berufliche Betreuung" des Beschwerdegegners nicht habe anders gewährleistet
werden können, weshalb die vorsorgliche Unterbringung vom Gericht im Rahmen der
Strafausfällung auf die ausgefällte Strafe anzurechnen sei. Dass die
Freiheitsstrafe im Urteilszeitpunkt vielfach bereits durch die vorsorgliche
Schutzmassnahme erstanden sei, müsse hingenommen werden.

1.3 Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Jugendstrafrecht folgt wie das
Strafgesetzbuch dem dualistisch-vikariierenden System,
BGE 137 IV 7 S. 10
wonach neben einer Massnahme grundsätzlich auch eine Strafe auszufällen ist. Im
Jugendstrafrecht stehen allerdings - im Unterschied zum Strafgesetzbuch - die
erzieherischen Massnahmen im Vordergrund. Die Sanktionen des Jugendstrafrechts
dienen nicht der Tatvergeltung, sondern verfolgen das Ziel, den zu
beurteilenden Jugendlichen im Sinne der Spezialprävention von der Begehung
weiterer Straftaten abzuhalten. So sieht Art. 2 Abs. 1 JStG vor, dass der
Schutz und die Erziehung des Jugendlichen wegleitend für die Anwendung des
Jugendstrafrechts sein sollen. Da bei Jugendlichen die Charakterbildung sowie
die geistige und sittliche Entwicklung noch nicht abgeschlossen sind, muss sich
die Strafe vor allem nach dem Alter und der gesamten Persönlichkeit des
jugendlichen Täters richten, und zwar in der Weise, dass sie sich auf seine
Weiterentwicklung nicht hemmend oder schädlich auswirkt, sondern diese im
Gegenteil fördert und günstig beeinflusst (Urteil 6B_232/2010 vom 20. Mai 2010
E. 3.3 mit Hinweisen). Art. 2 Abs. 2 JStG bestimmt, dass den Lebens- und
Familienverhältnissen des Jugendlichen sowie der Entwicklung seiner
Persönlichkeit besondere Beachtung zu schenken ist. Entsprechend erfolgt die
Wahl der Sanktion im Jugendstrafrecht nicht nach denselben Kriterien wie beim
Erwachsenenstrafrecht. Die begangenen Straftaten werden nicht in erster Linie
als Verletzung des Rechtsfriedens verstanden, die nach einer ausgleichenden
oder vergeltenden Sanktion ruft, sondern als mögliches Indiz für eine
Fehlentwicklung, die es aufzufangen gilt. Was im Einzelfall als erzieherisch
wirksam und geboten erscheint, beurteilt sich nach dem Persönlichkeitsbild des
Delinquenten und seinem "Erziehungszustand" (Urteil a.a.O. E. 3.3 mit
zahlreichen Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung).

1.4 Art. 10 Abs. 1 JStG regelt, dass die urteilende Behörde die nach den
Umständen erforderlichen Schutzmassnahmen anordnet, wenn der Jugendliche eine
mit Strafe bedrohte Tat begangen hat und die Abklärung ergibt, dass er einer
besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischen Behandlung bedarf,
unabhängig davon, ob er schuldhaft gehandelt hat. Ist dies jedoch der Fall,
verhängt die urteilende Behörde zusätzlich zu einer Schutzmassnahme oder als
einzige Rechtsfolge eine Strafe (Art. 11 Abs. 1 JStG).

1.5 Nach Art. 15 Abs. 1 und 2 JStG ist eine Unterbringung anzuordnen, wenn die
notwendige Erziehung und Behandlung des Jugendlichen nicht anders
sichergestellt werden kann. Diese erfolgt namentlich bei Privatpersonen oder in
Erziehungs- oder
BGE 137 IV 7 S. 11
Behandlungseinrichtungen, die in der Lage sind, die erforderliche erzieherische
oder therapeutische Hilfe zu leisten (Abs. 1). Die urteilende Behörde darf die
Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung nur anordnen, wenn sie für den
persönlichen Schutz oder für die Behandlung der psychischen Störung des
Jugendlichen unumgänglich ist (lit. a) oder für den Schutz Dritter vor
schwerwiegender Gefährdung durch den Jugendlichen notwendig ist (lit. b).

1.6

1.6.1 Der Auffassung der Vorinstanz, vorsorgliche Schutzmassnahmen seien als
Untersuchungshaft im Sinne von Art. 110 Abs. 7 StGB zu verstehen, weshalb Art.
51 StGB (Anrechnung von Untersuchungshaft) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 JStG
anzuwenden und die vorsorgliche Massnahme auf den Freiheitsentzug anzurechnen
sei, kann nicht gefolgt werden. Das Jugendstrafrecht nimmt im Gegensatz zum
Strafgesetzbuch eine klare Unterscheidung zwischen vorsorglichen
Schutzmassnahmen (Art. 5 JStG und Art. 26 Abs. 1 lit. c der
Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 [JStPO; SR 312.1]) und der
Untersuchungshaft (aArt. 6 JStG bzw. Art. 26 Abs. 1 lit. b JStPO) vor. Im Sinne
einer ultima ratio darf die Untersuchungshaft nur angeordnet werden, wenn ihr
Zweck nicht durch andere Massnahmen erreicht werden kann (aArt. 6 Abs. 1 Satz 1
JStG bzw. Art. 27 Abs. 1 JStPO). Es widerspricht daher der Gesetzessystematik,
vor allem aber Sinn und Zweck des Jugendstrafrechts, Untersuchungshaft und
vorsorgliche Schutzmassnahmen im vorliegenden Zusammenhang gleich zu behandeln.

1.6.2 Art. 32 JStG (Zusammentreffen von Schutzmassnahmen und Freiheitsentzug)
ist auch bei vorsorglich angeordneten Schutzmassnahmen anwendbar. Art. 5 JStG
erteilt der zuständigen Behörde die Kompetenz, während der Untersuchung
vorsorgliche Schutzmassnahmen gemäss den Verfahrensbestimmungen der definitiven
Schutzmassnahmen in Art. 12-15 JStG anzuordnen. Die Vorinstanz hält zu Recht
fest, dass Art. 32 JStG über den Zeitpunkt der Anrechnung der vorsorglichen
Schutzmassnahmen nichts aussagt. Diese Bestimmung regelt lediglich die
Koordination der beiden Sanktionsarten. Nach Abs. 1 geht die Unterbringung dem
Vollzug eines gleichzeitig ausgesprochenen oder eines wegen Widerrufs oder
Rückversetzung vollziehbaren Freiheitsentzuges voraus. Wird die Unterbringung
aufgehoben, weil sie ihren Zweck erreicht hat, so wird der Freiheitsentzug
nicht mehr vollzogen (Abs. 2). Wird die Unterbringung aus einem anderen Grund
aufgehoben, so entscheidet die urteilende
BGE 137 IV 7 S. 12
Behörde, ob und wieweit der Freiheitsentzug noch zu vollziehen ist. Dabei ist
die mit der Unterbringung verbundene Freiheitsbeschränkung anzurechnen (Abs.
3). Aus Abs. 3 ergibt sich somit, dass die aufgehobene Unterbringung nicht
automatisch an den Freiheitsentzug anzurechnen ist, wenn der Massnahmezweck
nicht erreicht worden ist. Es liegt im Ermessen der urteilenden Behörde, ob sie
den Vollzug des ganzen oder nur eines Teils des Freiheitsentzugs anordnen oder
aber ganz darauf verzichten möchte (GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, in: Basler Kommentar,
Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 6 zu Art. 32 JStG; PETER AEBERSOLD,
Schweizerisches Jugendstrafrecht, 2007, S. 174). Art. 32 Abs. 3 JStG kommt nur
zum Tragen, wenn der neben der Massnahme ausgesprochene Freiheitsentzug nicht
bereits erstanden ist. Die Beschwerdeführerin weist in diesem Zusammenhang
darauf hin, dass die im Jugendstrafrecht vergleichsweise kurzen
Freiheitsentzüge durch die Anrechnung vorsorglicher Schutzmassnahmen im
Zeitpunkt des Strafurteils regelmässig bereits abgegolten sind (hierzu auch
JOSITSCH/LOHRI, Sicherungsmassnahme im Jugendstrafrecht-, AJP 2008 S. 793). Im
Schrifttum wird daher vorgeschlagen, über eine Anrechnung der Schutzmassnahme
an die Strafe erst bei Aufhebung der Schutzmassnahme zu entscheiden (MARCEL
RIESEN-KUPPER, in: StGB, Kommentar, 18. Aufl. 2010, N. 44 zu Art. 1 JStG;
BÄNZIGER/BURKHARD/HÄNNI, Der Strafprozess im Kanton Bern, 2010, N. 1322 zu Art.
29 JStPO).
Im Erwachsenen-Massnahmenrecht hat nach Auffassung von MARIANNE HEER (in:
Basler Kommentar, a.a.O., N. 10 zu Art. 57 StGB) die Anrechnung einer
vorsorglichen Massnahme an die ausgefällte Strafsanktion differenziert zu
erfolgen. Wenn die vorsorgliche Massnahme gemäss Urteil in der Hauptsache
unverändert als definitive Massnahme weitergeführt werden soll, ist erst nach
deren Beendigung über die Anrechnung an die Freiheitsstrafe zu befinden. Ändert
sie der Richter hingegen im Haupturteil, indem er etwa statt einer ambulanten
eine stationäre Massnahme anordnet, hat er sie im Sachurteil formell
aufzuheben, weshalb er - analog der Untersuchungshaft - über die Anrechnung der
abgeschlossenen Massnahme an die Strafe zu entscheiden hat. Mit Blick auf das
dualistische System des neuen Jugendstrafrechts erscheint es sinnvoll, den
Zeitpunkt der Anrechnung einer Massnahme an den ausgefällten Freiheitsentzug
auch im Jugendstrafrecht differenziert auszugestalten. Massgebend soll dabei
ebenfalls sein, ob der Richter im Haupturteil die im Untersuchungsstadium
vorsorglich angeordnete
BGE 137 IV 7 S. 13
Massnahme unverändert weiterführt, ändert oder ganz aufhebt. Nur im Falle ihrer
Änderung oder Aufhebung ist im Sachurteil über die Anrechnung zu befinden,
ansonsten erst nach deren Beendigung.

1.7 Die Beschwerdeführerin ordnete am 7. Januar 2009 eine vorsorgliche
geschlossene Unterbringung des Beschwerdegegners an, welche die erste Instanz
sowie die Vorinstanz unverändert weiterführten. Die vorsorgliche sowie die
anschliessende definitive geschlossene Unterbringung sind daher bei nicht
erreichtem Massnahmeziel gemäss Art. 32 Abs. 3 JStG erst im Zeitpunkt der
Beendigung der Massnahme an die ausgesprochene Freiheitsentziehung anzurechnen.
Wird der Zweck der Massnahme hingegen erreicht, erfolgt keine Anrechnung, da
der Freiheitsentzug nicht mehr vollzogen wird (Art. 32 Abs. 2 JStG).