Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 246



Urteilskopf

137 IV 246

35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen)
1B_236/2011 vom 15. Juli 2011

Regeste

Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG; Legitimation der Privatklägerschaft.
Am 1. Januar 2011 ist die revidierte Bestimmung von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff.
5 BGG in Kraft getreten. Die Voraussetzung, dass sich der angefochtene
Entscheid auf die Beurteilung der Zivilansprüche auswirken kann, blieb dabei
unverändert. An der bisherigen Praxis zur Beschwerdebefugnis des Opfers gemäss
aArt. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG ist insofern festzuhalten (E. 1.3.1).

Sachverhalt ab Seite 246

BGE 137 IV 246 S. 246

A. X. erstattete am 26. August 2010 Strafanzeige gegen seine von ihm getrennt
lebende Ehefrau Y. wegen falscher Anschuldigung im Sinne von Art. 303 StGB.
Gleichzeitig machte er Zivilforderungen geltend. Mit Entscheid vom 18. Oktober
2010 stellte das damals für die Untersuchung zuständige Amtsstatthalteramt
Luzern das Strafverfahren gegen Y. ein und trat auf die Zivilforderungen von X.
nicht ein. (...)
BGE 137 IV 246 S. 247
Gegen den Einstellungsentscheid reichte X. am 15. November 2010 Rekurs ein. Er
beantragte die Überweisung der Strafsache an das zuständige Gericht und
ersuchte zudem um Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege. Mit Entscheid vom 25.
März 2011 trat das Obergericht des Kantons Luzern auf den Rekurs nicht ein. Zur
Begründung führte es an, weder habe sich X. als Privatkläger im Sinne von § 35
Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Luzern vom 3. Juni 1957 über die
Strafprozessordnung (SRL 305) konstituiert, noch komme ihm Opferstellung nach
dem Opferhilfegesetz (SR 312.5) zu. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
wies das Obergericht wegen Aussichtslosigkeit ab.

B. Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 18. Mai 2011
beantragt X. im Wesentlichen die Aufhebung des Entscheids des Obergerichts.
(...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.3.1 Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer
vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur
Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der
Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Da der
angefochtene Entscheid nach dem 31. Dezember 2010 datiert, beurteilt sich die
Frage des rechtlich geschützten Interesses nach der am 1. Januar 2011 in Kraft
getretenen Fassung von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG (Art. 132 Abs. 1 BGG). Danach
wird der Privatklägerschaft ein rechtlich geschütztes Interesse zuerkannt, wenn
der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche
auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). In der bis zum 1. Januar
2011 geltenden Fassung dieser Bestimmung wurde dagegen nicht die
Privatklägerschaft schlechthin, sondern nur das Opfer als beschwerdelegitimiert
bezeichnet; dies ebenfalls unter der Voraussetzung, dass sich der angefochtene
Entscheid auf die Beurteilung seiner Zivilansprüche auswirken kann (AS 2006
1227).
Nach der Praxis zur Beschwerdebefugnis des Opfers (aArt. 81 Abs. 1 lit. b Ziff.
5 BGG; vgl. auch Urteil 6B_127/2007 vom 23. Juli 2007 E. 2) konnte dieses gegen
ein Strafurteil, durch das der
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Angeschuldigte freigesprochen wurde, Rechtsmittel im Strafpunkt grundsätzlich
nur erheben, wenn es, soweit zumutbar, seine Zivilansprüche aus strafbarer
Handlung im Strafverfahren geltend gemacht hatte. Dies wurde damit begründet,
dass das Strafverfahren nicht blosses Vehikel zur Durchsetzung von
Zivilforderungen in einem Zivilprozess sein soll, den das Opfer erst nach
Abschluss des Strafprozesses, je nach dessen Ausgang, anzustrengen gedenkt.
Vielmehr sollte das Opfer, soweit zumutbar, seine Zivilansprüche im
Strafverfahren geltend machen (BGE 131 IV 195 E. 1.2.2 S. 198; BGE 127 IV 185
E. 1 S. 186 ff.; BGE 120 IV 44 E. 4b S. 54 f.; Urteil 6B_260/2009 vom 30. Juni
2009 E. 2.2.1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 125 IV 161 E. 3 S. 164 mit
Hinweisen). Anders verhielt es sich im Falle der Einstellung des
Strafverfahrens. Da diesfalls vom Opfer nicht verlangt werden kann, dass es
bereits adhäsionsweise Zivilforderungen geltend gemacht hat, reichte es, wenn
es im Verfahren vor Bundesgericht darlegte, aus welchen Gründen sich der
angefochtene Entscheid inwiefern auf welche Zivilforderungen auswirken kann (
BGE 131 IV 195 E. 1.2.2 S. 199; BGE 122 IV 139 E. 1 S. 141; je mit Hinweisen).
Mit der Revision von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG wurde die Legitimation
auf die Privatklägerschaft erweitert. Die zusätzliche Voraussetzung, dass sich
der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung der Zivilansprüche auswirken
kann, blieb jedoch unverändert. An der Praxis, dass der Beschwerdeführer,
soweit zumutbar, seine Zivilansprüche im Strafverfahren geltend gemacht haben
muss, ist deshalb ebenso festzuhalten wie an der Ausnahme im Falle von
Verfahrenseinstellungen.