Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 177



Urteilskopf

137 IV 177

25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft (Beschwerde in Strafsachen)
1B_244/2011 vom 24. Juni 2011

Regeste

Art. 5 Abs. 2, Art. 227 und 236 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV; Art. 5 Ziff. 4 EMRK;
vorzeitiger Strafantritt während eines hängigen Rechtsstreits über eine
Haftverlängerung.
Ein laufendes Haftverlängerungsverfahren kann gegenstandslos werden, wenn die
sich in Untersuchungshaft befindende Person vorzeitig ihre Strafe antritt und
das Interesse an der Überprüfung der Haftvoraussetzungen verliert. Ein Verlust
des Rechtsschutzinteresses ist jedoch nicht zwingend (E. 2.1).
Die Rüge, es führe zu unnötigen und zeitraubenden Weiterungen, wenn nach dem
vorzeitigen Strafantritt an Stelle eines hängigen Rechtsstreits über eine
Haftverlängerung ein neues Haftentlassungsverfahren angehoben werden müsse, ist
im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot und das Gebot der Prozessökonomie
nicht unbegründet. Voraussetzung für eine beschleunigte und optimierte
Verfahrensabwicklung ist allerdings, dass das Bundesgericht bzw. die kantonalen
Behörden über die verschiedenen von den Verfahrensbeteiligten unternommenen
Schritte bzw. parallel laufenden Verfahren informiert werden (E. 2.2).

Sachverhalt ab Seite 178

BGE 137 IV 177 S. 178
Am 22. März 2011 beantragte die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft beim
Zwangsmassnahmengericht Basel-Landschaft die Verlängerung der Untersuchungshaft
von X. Am 4. April 2011 stellte X. bei der Staatsanwaltschaft ein Gesuch um
Bewilligung des vorzeitigen Strafvollzugs. Am 5. April 2011 verlängerte das
Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft für die Dauer von acht Wochen bis
zum 5. Juni 2011. Am 18. April 2011 erhob X. gegen diesen Entscheid Beschwerde
an das Kantonsgericht Basel-Landschaft. Am 20. April 2011 erteilte die
Staatsanwaltschaft X. die Bewilligung zum vorzeitigen Strafvollzug, woraufhin
er am 3. Mai 2011 in den vorzeitigen Strafvollzug verlegt wurde. Auf die
Beschwerde gegen die Verlängerung der Untersuchungshaft trat das Kantonsgericht
mit Beschluss vom 10. Mai 2011 nicht ein. Gegen diesen Beschluss gelangt X. mit
Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht. Er beantragt, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und er aus der Untersuchungshaft bzw. dem vorläufigen
Strafvollzug zu entlassen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur neuen
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht schreibt die Beschwerde als gegenstandslos ab.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. (...)

2.1 Soll eine Person länger als vom Zwangsmassnahmengericht angeordnet (vgl.
Art. 226 Abs. 4 lit. a StPO [SR 312.0]) oder länger als drei Monate in
Untersuchungshaft bleiben, hat die Staatsanwaltschaft beim
Zwangsmassnahmengericht von Amtes wegen ein Haftverlängerungsgesuch zu stellen
(Art. 227 Abs. 1 StPO). Das Zwangsmassnahmengericht hat diesfalls in Anwendung
von Art. 227 Abs. 2 ff. StPO darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen für
eine Fortdauer der Untersuchungshaft noch erfüllt sind. Da die
BGE 137 IV 177 S. 179
Untersuchungshaft gemäss Art. 220 Abs. 1 StPO mit dem vorzeitigen Antritt einer
freiheitsentziehenden Sanktion endet, gelangt Art. 227 StPO nicht (mehr) zur
Anwendung, wenn eine sich zuvor in Untersuchungshaft befindende Person
vorzeitig ihre Strafe antritt. Ein analoges Verfahren, in welchem das
Zwangsmassnahmengericht nach dem vorzeitigen Antritt des Strafvollzugs der
beschuldigten Person von Amtes wegen periodisch darüber zu befinden hätte, ob
die Haftvoraussetzungen noch erfüllt sind, sieht die Schweizerische
Strafprozessordnung nicht vor (vgl. DONATSCH/HANSJAKOB/LIEBER, Kommentar zur
Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 4 zu Art. 236 StPO). Ein
allenfalls laufendes Verfahren gemäss Art. 227 StPO kann demzufolge
gegenstandslos werden, wenn die sich in Untersuchungshaft befindende Person
vorzeitig ihre Strafe antritt und das Interesse an der Überprüfung der
Haftvoraussetzungen verliert. Ein Verlust des Rechtsschutzinteresses ist jedoch
nicht zwingend. Der Häftling kann weiterhin in erster Linie die Entlassung aus
der Haft anstreben und die Strafe vorzeitig antreten, weil er beispielsweise
für den Fall des Scheiterns seiner Entlassungsbemühungen das
Strafvollzugsregime vorzieht (vgl. zur Haft während der Strafverfolgung und im
Strafvollzug BGE 117 Ia 72 E. 1c und d S. 76 ff.).

2.2 Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers endete nach dem Gesagten am 3.
Mai 2011 mit dem vorzeitigen Antritt des Strafvollzugs. Damit stellte sich für
die Vorinstanz die Frage der Gegenstandslosigkeit des seinerzeit von der
Staatsanwaltschaft von Amtes wegen eingeleiteten Verfahrens nach Art. 227 StPO.
Das Bundesgericht hat allerdings schon mehrmals Haftentlassungsbegehren
materiell beurteilt, auch wenn die rechtliche Basis der Haft im Verlaufe des
bei ihm hängigen Beschwerdeverfahrens geändert hatte (Urteil 1B_25/2011 vom 14.
März 2011 E. 1.2 [Anordnung von Sicherheitshaft nach Anklageerhebung bei
vorbestehender Untersuchungshaft]; Urteil 1B_9/2011 vom 7. Februar 2011 E. 1
[Ablösung einer altrechtlichen Untersuchungshaft durch Sicherheitshaft nach dem
erstinstanzlichen Urteil]). Es hat sich bei diesem Vorgehen namentlich von den
gesetzes- und verfassungsrechtlichen Vorgaben an das Beschleunigungsgebot (Art.
5 Abs. 2 StPO, Art. 31 Abs. 4 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK) und von
prozessökonomischen Überlegungen leiten lassen (vgl. BGE 136 I 274 E. 1.3 S.
276). Insoweit ist die Rüge des Beschwerdeführers, es führe zu unnötigen und
zeitraubenden Weiterungen, wenn an Stelle des bereits hängigen Rechtsstreits um
Verweigerung der Haftverlängerung ein neues
BGE 137 IV 177 S. 180
Haftentlassungsverfahren angehoben werden müsse, nicht unbegründet. Zu beachten
ist aber, dass das Bundesgericht bzw. die kantonalen Behörden in den
vergleichbaren Fällen über die verschiedenen parallel laufenden Demarchen
orientiert und auf dem Laufenden gehalten wurden, was Voraussetzung für eine
beschleunigte und optimierte Verfahrensabwicklung ist.
Es obliegt grundsätzlich den für die Verfahrensleitung zuständigen Behörden
(Art. 61 StPO), das Bundesgericht während des hängigen Beschwerdeverfahrens
über neue Entscheide wie etwa betreffend den vorzeitigen Strafantritt oder die
Weiterführung oder Beendigung der Untersuchungshaft zu informieren. Zudem kann
auch vom Beschwerdeführer im bundesgerichtlichen Verfahren erwartet werden,
dass er das Bundesgericht über seine Eingaben an die zuständigen Behörden
orientiert, soweit sie für die Behandlung der beim Bundesgericht eingereichten
Beschwerde relevant sein können.