Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 122



Urteilskopf

137 IV 122

18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland (Beschwerde in Strafsachen)
1B_141/2011 vom 16. Mai 2011

Regeste

Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO); Ersatzmassnahme der
Aufenthaltsbeschränkung (Art. 237 Abs. 2 lit. c StPO).
Der dringende Tatverdacht (E. 3) und der besondere Haftgrund der
Kollusionsgefahr (E. 4) sind zu bejahen. Hingegen liegt keine Ausführungsgefahr
gemäss Art. 221 Abs. 2 StPO vor; denn die Möglichkeit der Anordnung von
Präventivhaft entfällt, wenn sich die Drohung "lediglich" auf die Ausführung
eines Vergehens im Sinne von Art. 10 Abs. 3 StGB bezieht (E. 5.2 und 5.3). Die
Aufenthaltsbeschränkung gemäss Art. 237 Abs. 2 lit. c StPO besteht entweder in
der Verpflichtung, ein bestimmtes Gebiet nicht zu verlassen (Eingrenzung), oder
in jener, eine bestimmte Gegend nicht zu betreten (Ausgrenzung; E. 6.2). Eine
Eingrenzung auf ein bestimmtes Gebiet kommt primär bei Fluchtgefahr in
Betracht. Geht es demgegenüber darum einer Kollusionsgefahr in Form der
möglichen Beeinflussung des mutmasslichen Opfers zu begegnen, genügt in aller
Regel eine Ausgrenzung als mildere Massnahme (E. 6.4).

Sachverhalt ab Seite 123

BGE 137 IV 122 S. 123

A. X. wird beschuldigt, in den Jahren 2001-2005 mehrere Personen mit HIV
infiziert und dadurch die Straftatbestände der schweren Körperverletzung und
des Verbreitens menschlicher Krankheiten verwirklicht zu haben.
Am 4. Februar 2010 reichte die Ehefrau A. von X. Strafanzeige ein, worauf die
Strafverfolgung am 5. Februar 2010 auf die Vorwürfe der Drohung, der versuchten
Nötigung und der wiederholten Tätlichkeiten ausgedehnt wurde. Aufgrund dieser
Anzeige wurde X. verhaftet und mit Entscheid des Haftgerichts III
Bern-Mittelland vom 11. Februar 2010 in Untersuchungshaft versetzt. Das
Haftgericht III Bern-Mittelland hiess ein Haftentlassungsgesuch von X. mit
Entscheid vom 15. März 2010 teilweise gut und entliess ihn unter Anordnung der
folgenden Ersatzmassnahmen und Weisungen aus der Untersuchungshaft:
a) X. darf das Gebiet des Kantons Bern nicht verlassen.
b) X. hat sich täglich zwischen 10.00 und 13.00 Uhr persönlich wie folgt bei
der Kantonspolizei Bern zu melden: Montag bis Freitag auf der Polizeihauptwache
West, Bernstrasse 100, 3018 Bern-Bümpliz; Samstag und Sonntag auf der
Polizeihauptwache Waisenhausplatz, Bern.
c) X. darf mit folgenden Personen weder direkt (mündlich, schriftlich,
telefonisch, per E-Mail, SMS etc.) noch indirekt (über Drittpersonen,
ausgenommen über die verfahrensbeteiligten Anwälte auf dem Dienstweg) Kontakt
aufnehmen: A. und B. (unter Vorbehalt der vom zuständigen Gericht im Rahmen des
Eheschutzverfahrens gemäss Art. 176 ff ZGB noch zu erlassenden Regelung des
persönlichen Verkehrs i.S. von Art. 273 ZGB); C., D. und E.
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d) (...)
e) (...)
Am 9. Juni 2010 stellte X. den Antrag auf Aufhebung der Ersatzmassnahme gemäss
lit. b des Entscheids vom 15. März 2010. Das Haftgericht III Bern-Mittelland
hiess diesen Antrag mit Entscheid vom 11. Juni 2010 teilweise gut und ordnete
an, dass sich X. täglich zwischen 10.00 und 13.00 Uhr entweder persönlich oder
telefonisch von seinem Festanschluss in seiner Wohnung in Bern aus bei der
Kantonspolizei zu melden habe.
Am 31. August 2010 wies das Haftgericht den von X. am 1. Juli 2010 gestellten
Antrag auf Aufhebung der Ersatzmassnahmen gemäss lit. a und b des Entscheids
vom 15. März 2010 ab.
Mit Gesuch vom 27. Dezember 2010 stellte X. den Antrag, die angeordneten
Ersatzmassnahmen seien aufzuheben. Mit Entscheid vom 12. Januar 2011 verfügte
das Kantonale Zwangsmassnahmengericht was folgt:
1. Das Gesuch vom 27.12.2010 wird teilweise gutgeheissen.
2. Die mit Entscheid vom 15.03.2010 verfügten Ersatzmassnahmen werden in Bezug
auf Rayonverbot, Meldepflicht und Kontaktverbot dahingehend modifiziert, dass
der Gesuchsteller sein Besuchsrecht gemäss Vereinbarung vom 27.10./11.11.2010
in Lausanne ausüben kann.
(...)

B. X. reichte am 24. Januar 2011 Beschwerde ans Obergericht des Kantons Bern
ein mit dem Antrag auf Aufhebung des Entscheids des Kantonalen
Zwangsmassnahmengerichts vom 12. Januar 2011 und der mit Entscheid vom 15. März
2010 verfügten Ersatzmassnahmen. Das Obergericht beschloss mit Entscheid vom
21. Februar 2011:
1. Es wird festgestellt, dass das Gesuch von X. vom 27. Dezember 2010 insofern
gutgeheissen wurde, als die mit Entscheid vom 15. März 2010 verfügten
Ersatzmassnahmen in Bezug auf Rayonverbot, Meldepflicht und Kontaktverbot
dahingehend modifiziert werden, dass der Gesuchsteller sein Besuchsrecht gemäss
Vereinbarung vom 27.10/11.11.2010 in Lausanne ausüben kann.
(...)

C. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 28. März 2011 beantragt X., den Beschluss
des Obergerichts vom 21. Februar 2011 und die mit Entscheid des Haftgerichts
III Bern-Mittelland vom 15. März 2010 verfügten Ersatzmassnahmen aufzuheben.
Des Weiteren sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu
gewähren.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:

Erwägungen

2. Die Ersatzmassnahmen in Form einer Aufenthaltsbeschränkung, einer
Meldepflicht und einem Kontaktverbot gemäss lit. a-c des Entscheids des
Haftgerichts III Bern-Mittelland vom 15. März 2010 schränken die persönliche
Freiheit des Beschwerdeführers ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5
EMRK). Eine Einschränkung dieses Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer
gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und
verhältnismässig ist; zudem darf sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht
beeinträchtigen (Art. 36 BV).
Nach Art. 221 StPO (SR 312) ist Untersuchungshaft nur zulässig, wenn die
beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig und
ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder
der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a); Personen beeinflusst oder
auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Abs.
1 lit. b); oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer
erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt
hat (Abs. 1 lit. c). Haft ist auch zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist,
eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen
(Abs. 2). Das zuständige Gericht ordnet gemäss Art. 237 Abs. 1 StPO an Stelle
der Untersuchungshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den
gleichen Zweck wie die Haft erfüllen. Die Verhängung von Ersatzmassnahmen setzt
damit ebenso wie die Anordnung von Untersuchungshaft voraus, dass ein
dringender Tatverdacht besteht und ein Haftgrund vorliegt.
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit wegen der
Anordnung von Untersuchungshaft oder von Ersatzmassnahmen erhoben werden,
prüfte das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs bisher die
Auslegung und Anwendung des kantonalen Strafprozessrechts frei. Auch die
Bestimmungen der Schweizerischen Strafprozessordnung über die Untersuchungshaft
und die Ersatzmassnahmen unterliegen der freien bundesgerichtlichen Prüfung
(Art. 95 lit. a BGG). Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen
der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn
die tatsächlichen
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Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art.
105 Abs. 2 BGG).

3. Die kantonalen Instanzen bejahen den dringenden Tatverdacht und das
Weiterbestehen von besonderen Haftgründen in Form von Kollusions- und
Ausführungsgefahr in Bezug auf die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen
Tatbestände der Drohung, der versuchten Nötigung und der Tätlichkeiten.
Betreffend die auf die Jahre 2001-2005 zurückgehenden Vorwürfe der mehrfachen
schweren Körperverletzung und des Verbreitens menschlicher Krankheiten wurde
das Vorliegen von Kollusions- und Ausführungsgefahr hingegen verneint.

3.1 Der Beschwerdeführer bestreitet vorab den dringenden Tatverdacht. Er führt
unter Bezugnahme auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung aus, bei Beginn der
Strafuntersuchung seien die Anforderungen an den dringenden Tatverdacht noch
geringer. Im Laufe des Strafverfahrens sei ein immer strengerer Massstab an die
Erheblichkeit und Konkretheit des Tatverdachts zu stellen. Nach Durchführung
der in Betracht kommenden Untersuchungshandlungen müsse eine Verurteilung als
wahrscheinlich erscheinen. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt.
Seit der letzten Einvernahme seiner Ehefrau Anfang März 2010 seien keine
weiteren Beweismassnahmen durchgeführt worden, und die Untersuchung könne als
abgeschlossen gelten. Im Ergebnis stünden seine Aussagen jenen seiner Ehefrau
gegenüber, sodass eine Verurteilung vor dem Hintergrund des Grundsatzes "in
dubio pro reo" nicht sehr wahrscheinlich sei.

3.2 Das Bundesgericht hat bei der Überprüfung des dringenden Tatverdachts keine
erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse
vorzunehmen. Zu prüfen ist vielmehr, ob genügend konkrete Anhaltspunkte für
eine Straftat und eine Beteiligung des Beschwerdeführers daran vorliegen, die
Untersuchungsbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit
vertretbaren Gründen bejahen durften. Im Haftprüfungsverfahren genügt der
Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das inkriminierte Verhalten
mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen
könnte (vgl. BGE 116 Ia 143 E. 3c S. 146). Das Beschleunigungsgebot in
Haftsachen lässt keinen Raum für ausgedehnte Beweismassnahmen. Zur Frage des
dringenden Tatverdachts hat das Haftgericht weder ein eigentliches
Beweisverfahren durchzuführen noch dem erkennenden Strafgericht
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vorzugreifen. Vorbehalten bleibt allenfalls die Abnahme eines liquiden
Alibibeweises (vgl. BGE 124 I 208 E. 3 S. 210 mit Hinweisen; Urteil 1B_330/2009
vom 2. Dezember 2009 E. 3).

3.3 Der Beschwerdeführer hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung korrekt
wiedergegeben, wonach nach Durchführung der in Betracht kommenden
Untersuchungshandlungen eine Verurteilung als wahrscheinlich erscheinen muss
(vgl. Urteil 1B_100/2009 vom 20. März 2009 E. 3.2.2). Der Beschwerdeführer
verkennt jedoch, dass "Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen", in welchen sich
als massgebliche Beweise belastende Aussagen des mutmasslichen Opfers und
bestreitende Aussagen der beschuldigten Person gegenüberstehen, keineswegs
zwingend oder auch nur höchstwahrscheinlich gestützt auf den Grundsatz "in
dubio pro reo" zu einem Freispruch führen müssen. Die einlässliche Würdigung
der Aussagen der Beteiligten wird Sache des urteilenden Gerichts sein. Dass die
Vorinstanz gestützt auf eine summarische Beweiswürdigung die Aussagen des
mutmasslichen Opfers als glaubhafter als jene des Beschwerdeführers eingestuft
und gestützt darauf gefolgert hat, eine Verurteilung erscheine wahrscheinlich,
verletzt kein Bundesrecht.

4.

4.1 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen von Kollusionsgefahr. Zwar
sei die richterliche Sachaufklärung im Hinblick auf die beschränkte
Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme anlässlich der Hauptverhandlung vor
unzulässigen Einflussnahmen zu bewahren. Die blosse Wahrscheinlichkeit einer
Einvernahme des mutmasslichen Opfers durch das Gericht genüge jedoch zur
Begründung von Kollusionsgefahr nicht.

4.2 Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 237 Abs. 1 StPO ist
Untersuchungshaft respektive die Anordnung von Ersatzmassnahmen zulässig, wenn
ernsthaft zu befürchten ist, die beschuldigte Person könnte Personen
beeinflussen oder auf Beweismittel einwirken, um so die Wahrheitsfindung zu
beeinträchtigen.
Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass die
beschuldigte Person die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue
Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln oder zu gefährden. Konkrete
Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des
Beschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner
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Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie
aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen.
Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des
Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der
von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der
untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen. Nach
Abschluss der Strafuntersuchung bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer
besonders sorgfältigen Prüfung (BGE 132 I 21 E. 3.2 S. 23).

4.3 Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte der Drohung, der versuchten
Nötigung und der wiederholten Tätlichkeiten richten sich gegen seine Ehefrau,
und der Tatvorwurf stützt sich weitgehend auf ihre Aussagen. Es besteht damit
ein gewichtiges Interesse, Einflussnahmen auf die Ehefrau zu verhindern, da
ihre Aussagen für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind. Sie hat bei der
Polizei und der Staatsanwaltschaft ausgesagt. Es erscheint jedoch
wahrscheinlich, dass sie in der Hauptverhandlung erneut einvernommen wird, denn
gemäss Art. 343 Abs. 3 StPO erhebt das Gericht im Vorverfahren ordnungsgemäss
erhobene Beweise nochmals, sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels
für die Urteilsfällung notwendig erscheint.
Vorliegend bestehen konkrete Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer bei
einer Aufhebung sämtlicher Ersatzmassnahmen seine Ehefrau beeinflussen würde,
um sie zu einem Widerruf oder zur Abschwächung ihrer belastenden Aussagen zu
veranlassen (vgl. hierzu auch Urteil 1B_415/2010 vom 23. Dezember 2010 E. 3.5).
So wurde im forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 13. Dezember 2010, auf
welches die Vorinstanz in ihrer Begründung Bezug genommen hat, namentlich
ausgeführt: "Die Wahrscheinlichkeit, dass X. seine Beziehungen auch in Zukunft
in dieser, das Gegenüber tendenziell ausbeutenden Art und Weise konstelliert,
ist hoch." Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung der Vorinstanz, der
Beschwerdeführer könnte versucht sein, auf seine Ehefrau Einfluss zu nehmen,
nicht zu beanstanden, zumal der Beschwerdeführer gemäss den Feststellungen im
angefochtenen Beschluss, sich wiederholt über die angeordnete Kontaktsperre
hinweggesetzt und seine Ehefrau kontaktiert bzw. zu kontaktieren versucht hat.
An dieser Bewertung ändert entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nichts
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Entscheidendes, dass er keine Vorstrafen aufweist und seine Ehefrau in der
Zwischenzeit nach Lausanne gezogen ist.

5. Wie dargelegt (E. 4 hiervor), ist der Haftgrund der Kollusionsgefahr im
Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO zu bejahen. Damit sind die
Voraussetzungen für die Anordnung von Ersatzmassnahmen erfüllt. Die Frage, ob
zusätzlich der Haftgrund der Ausführungsgefahr gemäss Art. 221 Abs. 2 StPO
gegeben ist, wird dennoch behandelt. Läge nämlich auch dieser zweite Haftgrund
vor - was im Folgenden verneint wird -, so hätte dies Auswirkungen auf die
Beurteilung der Verhältnismässigkeit von Ersatzmassnahmen.

5.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz habe den Haftgrund der
Ausführungsgefahr zu Unrecht bejaht. Er habe keine konkreten Anstalten
getroffen, welche eine aktuelle Ausführungsgefahr begründen könnten. Vielmehr
akzeptiere er die von seiner Ehefrau gewünschte Distanz und halte diese auch
ein. Dass ihn seine Ehefrau subjektiv als Gefahr wahrnehme, bedeute nicht
automatisch, dass auch objektiv eine Ausführungsgefahr bestehe. Ebenso wenig
liessen die Feststellungen im forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 13.
Dezember 2010 einen solchen Schluss zu.

5.2 Ausführungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 2 StPO besteht, wenn ernsthaft
zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen
auszuführen, wahrmachen.
Die Notwendigkeit, Personen an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern,
wird in Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich als Haftgrund anerkannt (BGE
133 I 270 E. 2.1 S. 275). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung von
Delikten sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt
werden, reichen allerdings nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE
125 I 60 E. 3a S. 62 mit Hinweis). Bei der Annahme, dass die beschuldigte
Person eine schwere Straftat begehen könnte, ist nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung Zurückhaltung geboten. Erforderlich ist eine sehr ungünstige
Rückfallprognose. Nicht Voraussetzung ist hingegen, dass die verdächtige Person
bereits konkrete Anstalten getroffen hat, um die befürchtete Tat zu vollenden.
Vielmehr genügt es, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer
Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch
erscheint (BGE 125 I 361 E. 5 S. 366 f.). Besonders bei drohenden schweren
Gewaltverbrechen ist dabei auch dem psychischen Zustand der verdächtigen Person
bzw. ihrer
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Unberechenbarkeit oder Aggressivität Rechnung zu tragen (vgl. BGE 123 I 268 E.
2e S. 271 f.).
An dieser bisherigen Rechtsprechung ist grundsätzlich auch nach Inkrafttreten
der StPO festzuhalten, wobei nunmehr Art. 221 Abs. 2 StPO ausdrücklich
verlangt, dass die Verwirklichung eines "schweren Verbrechens" drohen muss.
Art. 10 Abs. 2 StGB enthält allerdings kein klares Abgrenzungskriterium für
"schwere" und "minder schwere" Verbrechen (vgl. zum Ganzen MARC FORSTER, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 18 zu Art. 221
StPO). Jedenfalls aber entfällt die Möglichkeit der Anordnung von
Präventivhaft, wenn sich die Drohung auf die Ausführung eines Vergehens im
Sinne von Art. 10 Abs. 3 StGB bezieht.

5.3 Die Vorinstanz hat zur Begründung auf das forensisch-psychiatrische
Gutachten vom 13. Dezember 2010 verwiesen, wo unter dem Titel
"Risikoeinschätzung" Folgendes festgehalten wurde (vgl. auch E. 4.3 hiervor):
"Das Risiko, dass es in solchen Beziehungen auch zu strafrechtlich relevanten
Verhaltensweisen kommt (z.B. Drohung, Nötigung, finanzielle Schädigung oder
andere Taten wie die, die aktuell zur Last gelegt werden), die letztlich dem
Ziel dienen, das Gegenüber zu beherrschen, ist ebenfalls erhöht." Die Frage
"Welche Straftaten sind mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten"
beantwortete die Gutachterin wie folgt: "Ausgehend von der Persönlichkeit des
Exploranden sind mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Straftaten denkbar, die darauf
abzielen, über andere Menschen Macht und Kontrolle zu erlangen." Die Vorinstanz
hat gefolgert, zum jetzigen Zeitpunkt dürfe und müsse sich die Abschätzung der
Ausführungsgefahr an diesem psychiatrischen Gutachten orientieren und gestützt
darauf sei die Ausführungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 2 StPO zu bejahen.
Diese Argumentation ist nicht stichhaltig. Nach der Einschätzung der
Gutachterin, welche die Vorinstanz in ihrer Begründung übernommen hat, besteht
ein erhöhtes Risiko, dass der Beschwerdeführer die Tatbestände der Drohung
(Art. 180 StGB) und der Nötigung (Art. 181 StGB) ausführen könnte. Diese beiden
Tatbestände sind mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bedroht
und stellen damit blosse Vergehen dar. Konkrete Hinweise auf drohende (Gewalt-)
Verbrechen finden sich demgegenüber im Gutachten nicht, und auch die Begründung
der Vorinstanz enthält keine Erwägungen hierzu. Dementsprechend ist die
Bejahung des Haftgrunds der Ausführungsgefahr nicht haltbar.
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6.

6.1 Der Beschwerdeführer erachtet die angeordneten Ersatzmassnahmen als
unverhältnismässig. Die seit dem Entscheid des Haftgerichts III Bern-Mittelland
vom 15. März 2010 andauernden Auflagen, den Kanton Bern nicht zu verlassen und
sich täglich bei der Kantonspolizei zu melden, bedeuteten erhebliche Eingriffe
in seine persönliche Freiheit. Diese Eingriffe gingen in sachlicher, räumlicher
und zeitlicher Hinsicht über das Notwendige hinaus. Ziel der Ersatzmassnahmen
sei, ihn von seiner Ehefrau fernzuhalten, damit er diese nicht beeinflussen
oder bedrängen könne. Weshalb dafür neben einer Kontaktsperre zusätzlich eine
sehr rigide Aufenthaltsbeschränkung und eine tägliche Meldepflicht erforderlich
seien, sei nicht ersichtlich und werde von der Vorinstanz in Verletzung der
Begründungspflicht und damit in Missachtung seines Anspruchs auf rechtliches
Gehör auch nicht dargelegt.

6.2 Nach Art. 237 Abs. 1 StPO ordnet das zuständige Gericht an Stelle der
Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen
an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen. Als Ersatzmassnahmen
kommen gemäss Art. 237 Abs. 2 StPO namentlich in Frage: a. die
Sicherheitsleistung; b. die Ausweis- und Schriftensperre; c. die Auflage, sich
nur oder sich nicht an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Haus
aufzuhalten; d. die Auflage, sich regelmässig bei einer Amtsstelle zu melden;
e. die Auflage, einer geregelten Arbeit nachzugehen; f. die Auflage, sich einer
ärztlichen Behandlung oder einer Kontrolle zu unterziehen; g. das Verbot, mit
bestimmten Personen Kontakte zu pflegen. Die Strafprozessordnung sieht damit
die vorliegend ausgesprochenen Ersatzmassnahmen der Aufenthaltsbeschränkung
(Art. 237 Abs. 2 lit. c StPO), der Meldepflicht (Art. 237 Abs. 2 lit. d StPO)
und des Kontaktverbots (Art. 237 Abs. 2 lit. g StPO) ausdrücklich vor.
Die Aufenthaltsbeschränkung gemäss Art. 237 Abs. 2 lit. c StPO besteht entweder
in der Verpflichtung, ein bestimmtes Gebiet nicht zu verlassen (Eingrenzung),
oder in jener, eine bestimmte Gegend nicht zu betreten (Ausgrenzung). Die
Weisung kann mithin ein Aufenthaltsgebot oder ein Aufenthaltsverbot zum
Gegenstand haben. Letzterem kommt insbesondere bei häuslicher Gewalt Bedeutung
zu. So kann etwa ein Ehemann, der seine Ehefrau massiv bedroht und schlägt, aus
der ehelichen Wohnung gewiesen und ihm verboten werden, diese zu betreten bzw.
sich ihr auch nur zu nähern (MATTHIAS HÄRRI, in: Basler Kommentar,
Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 11 zu Art. 237 StPO). Eine
Ausgrenzung kann zur
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Herabsetzung von Kollusionsgefahr verhängt werden, namentlich um zu vereiteln,
dass der Ehemann die ihn belastende Ehefrau zu beeinflussen versucht.
Eingrenzungen fallen demgegenüber vor allem zur Bannung von Fluchtgefahr in
Betracht. Gleiches gilt für die Auferlegung einer Meldepflicht nach Art. 237
Abs. 2 lit. d StPO, da hierdurch eine allfällige Flucht zumindest relativ rasch
entdeckt würde (SYLVA FISNAR, Ersatzanordnungen für Untersuchungshaft und
Sicherheitshaft im zürcherischen Strafprozess, 1997, S. 69). Ein Kontaktverbot
gemäss Art. 237 Abs. 2 lit. g StPO schliesslich stellt ebenfalls eine bei
Vorliegen von Kollusionsgefahr denkbare Massnahme dar.

6.3 Die Vorinstanz hat ausgeführt, es sei nicht zu beanstanden, dass das
Kantonale Zwangsmassnahmengericht die Aufenthaltsbeschränkung, die Meldepflicht
und das Kontaktverbot dahingehend gelockert habe, dass der Beschwerdeführer
sein Besuchsrecht gemäss der Vereinbarung vom 27. Oktober/11. November 2010 in
Lausanne ausüben könne. Darüber hinaus seien die im Entscheid des Haftgerichts
III Bern-Mittelland vom 15. März 2010 angeordneten Ersatzmassnahmen gemäss lit.
d und e - Wiederaufnahme einer engmaschigen medizinisch-psychotherapeutischen
Betreuung und die Verpflichtung, den Weisungen und Anordnungen der Spezialisten
Folge zu leisten - seit dem Vorliegen des psychiatrischen Gutachtens nicht mehr
sinnvoll und daher aufzuheben.
Die Vorinstanz hat nicht begründet, weshalb eine weiter gehende Lockerung oder
Aufhebung der Aufenthaltsbeschränkung und der Meldepflicht nicht in Frage
kommt. Der Beschwerdeführer hat daher die Rüge der Verletzung der
Begründungspflicht zu Recht erhoben. Zu prüfen bleibt, ob seine Einwände auch
inhaltlich stichhaltig sind. Es fragt sich mithin, ob die
Aufenthaltsbeschränkung in Form der Eingrenzung auf das Gebiet des Kantons Bern
und die Verpflichtung, sich täglich bei der Kantonspolizei Bern zu melden,
geeignet, erforderlich und verhältnismässig im engeren Sinn sind, um der
bestehenden Kollusionsgefahr (Gefahr der Beeinflussung der Ehefrau) zu
begegnen. Vom Beschwerdeführer nicht beanstandet wird das angeordnete
Kontaktverbot.

6.4 Eine Eingrenzung auf ein bestimmtes Gebiet kommt, wie dargelegt (vgl. E.
6.2 hiervor), primär bei Fluchtgefahr in Betracht. Geht es demgegenüber darum,
einer Kollusionsgefahr in Form der möglichen Beeinflussung des mutmasslichen
Opfers zu begegnen, dürfte in aller Regel eine Ausgrenzung als mildere
Massnahme genügen. Dies ist auch vorliegend der Fall. Die Verpflichtung, den
BGE 137 IV 122 S. 133
Kanton Bern nicht zu verlassen, schränkt den Beschwerdeführer in seiner
persönlichen Freiheit stark ein. Das Ziel, zu verhindern, dass er seine Ehefrau
aufsucht oder sich auch nur in deren Nähe begibt, kann ebenso durch die weniger
einschneidende Massnahme der Ausgrenzung in Form der Auflage, den Wohnkanton
seiner Ehefrau ausserhalb der festgelegten Besuchszeiten für seine Tochter
nicht zu betreten, erreicht werden. Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass
die Eingrenzung des Beschwerdeführers auf das Gebiet des Kantons Bern nicht
verhältnismässig ist. Als Massnahme gegen mögliche Kollusionshandlungen ist
eine Ausgrenzung, das heisst ein Verbot, den Kanton Waadt zu betreten,
ausreichend.
Die Ersatzmassnahme der Meldepflicht wird ebenfalls vor allem zur Herabsetzung
von Fluchtgefahr angeordnet. Bei Kollusionsgefahr erscheint es hingegen
fraglich, ob eine Meldepflicht überhaupt eine taugliche Massnahme darstellt.
Die nunmehr seit über einem Jahr andauernde tägliche Meldepflicht ist aber
jedenfalls als unverhältnismässig einzustufen. Mit der Pflicht, sich täglich
zwischen 10.00 und 13.00 Uhr persönlich oder telefonisch von seinem
Festanschluss in der Wohnung in Bern aus bei der Kantonspolizei zu melden, wird
der Beschwerdeführer in seiner Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt, ohne
dass hierdurch Kollusionshandlungen wirkungsvoll verhindert werden könnten.

6.5 Zusammenfassend sind somit die Eingrenzung auf den Kanton Bern und die
tägliche Meldepflicht aufzuheben, da das verhängte Kontaktverbot und die
Ausgrenzung vom Kanton Waadt als mildere Massnahmen zur Herabsetzung der
Kollusionsgefahr ausreichen.