Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 IV 113



Urteilskopf

137 IV 113

16. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen X. (Beschwerde in
Strafsachen)
6B_925/2010 vom 18. April 2011

Regeste

Konkurrenz zwischen versuchter Tötung und einfacher und/oder schwerer
Körperverletzung.
Bestätigung der Rechtsprechung (E. 1).

Erwägungen ab Seite 113

BGE 137 IV 113 S. 113
Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Die Beschwerdeführerin rügt, ein Tötungsversuch könne auch ohne
Herbeiführung einer Körperverletzung begangen werden. Habe der Täter durch sein
Handeln versucht, sein Opfer zu töten, und habe er dieses gleichzeitig
verletzt, könne das Tatunrecht nur durch die zusätzliche Verurteilung wegen
Körperverletzung abgedeckt werden. Zwischen der versuchten vorsätzlichen Tötung
und den Körperverletzungen müsse daher Idealkonkurrenz, d.h. echte Konkurrenz
angenommen werden. Der Beschwerdegegner sei folglich auch der schweren und der
einfachen Körperverletzung mit einer Waffe schuldig zu sprechen.

1.2 In Lehre und Rechtsprechung herrscht weitgehend Einigkeit, dass zwischen
einer vollendeten vorsätzlichen Tötung (Art. 111 StGB) und den damit (durch
dieselbe Handlung) einhergehenden einfachen oder schweren Körperverletzungen
(Art. 122 f. StGB) unechte Konkurrenz besteht, d.h. das Unrecht durch die
Verurteilung wegen vollendeter Tötung abgegolten wird. Unechte Konkurrenz wird
auch angenommen, wenn der Tod des Opfers erst mit einer zeitlichen Verzögerung
eintritt. Dies wird damit begründet, dass die Körperverletzung ein notwendiges
Durchgangsstadium zur Tötung ist, da die Tötung immer auch eine
Körperverletzung beinhaltet (vgl. CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Basler
Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 13 zu Art. 111 StGB;
STRATENWERTH/WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 2. Aufl.
2009, N. 8 zu Art. 111 StGB; MARTIN SCHUBARTH, Kommentar zum
BGE 137 IV 113 S. 114
schweizerischen Strafrecht, Bd. I: Delikte gegen Leib und Leben, Art. 111-136
StGB, 1982, N. 79 zu Art. 123 StGB; differenzierend bezüglich der hier nicht
relevanten Fallkonstellation einer "Tötung mit Verletzung im Überschuss" ULFRID
NEUMANN, in: Strafgesetzbuch, Bd. II, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen [Hrsg.], 3.
Aufl. 2010, N. 30 ff. zu § 212 StGB/D; ALBIN ESER, in: Strafgesetzbuch, Schönke
/Schröder [Hrsg.], 28. Aufl. 2010, N. 17 ff. zu § 212 StGB/D mit Hinweisen;
ähnlich STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil
I, 7. Aufl. 2010, N. 12 S. 67). Umstritten ist im Schrifttum hingegen, ob dies
auch gilt, wenn es beim Tötungsversuch bleibt, dem Opfer jedoch einfache oder
schwere Körperverletzungen zugefügt wurden.

1.3 Das Bundesgericht äusserte sich in BGE 77 IV 57 E. 2 zu dieser Frage. Es
erwog, habe der Täter dem Opfer nicht zeigen wollen, was Krankheit und
Schmerzen bedeuten, sondern dieses mit seiner Handlung ums Leben bringen
wollen, sei er ausschliesslich wegen versuchter Tötung zu verurteilen (gleich
auch BGE 115 IV 8 E. I.d). Dieser Auffassung, wonach zwischen der versuchten
Tötung und der einfachen und schweren Körperverletzung unechte Konkurrenz
besteht, folgt ein Teil der Lehre (vgl. ANDREAS DONATSCH, Delikte gegen den
Einzelnen, 9. Aufl. 2008, S. 41 f.; STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, a.a.O., N. 12 S.
67 und N. 42 S. 78; SCHUBARTH, a.a.O., N. 80 zu Art. 123 StGB; BERNARD CORBOZ,
Les infractions en droit suisse, Bd. II, 3. Aufl. 2010, N. 23 S. 31; JOSÉ
HURTADO POZO, Droit pénal, Partie spéciale, 2009, N. 110 S. 40). Als Argument
wird angeführt, der Strafmilderungsgrund des Versuchs gemäss Art. 22 Abs. 1
StGB sei fakultativ. Die versuchte Tötung könne gleich schwer bestraft werden
wie die vollendete Tat. Mit der Verurteilung wegen Versuchs könne daher nicht
nur der Verhaltens-, sondern auch der (potenzielle) Erfolgsunwert im Tatunrecht
berücksichtigt werden (DONATSCH, a.a.O., S. 41 f.).

1.4

1.4.1 Eine andere, von der Beschwerdeführerin angerufene Lehrmeinung nimmt
hingegen zwischen der versuchten Tötung und den Körperverletzungen echte
Konkurrenz an. Dies mit der Begründung, ansonsten würde dem Umstand, dass
immerhin eine Körperverletzung eingetreten sei, nicht ausreichend Rechnung
getragen (vgl. ESER, a.a.O., N. 23 zu § 212 StGB/D; ähnlich SCHWARZENEGGER,
a.a.O., N. 13 zu Art. 111 StGB; STRATENWERTH/WOHLERS, a.a.O., N. 8 zu Art. 111
StGB; für das deutsche Recht auch NEUMANN, a.a.O.,
BGE 137 IV 113 S. 115
N. 37 f. zu § 212 StGB/D; THOMAS FISCHER, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 58.
Aufl. 2011, N. 107 zu § 211 StGB/D und N. 22 zu § 212 StGB/D; LACKNER/KÜHL,
Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2011, N. 9 zu § 212 StGB/D). Dieser
Auffassung schloss sich im Jahre 1998, in Änderung seiner früheren
Rechtsprechung, auch der deutsche Bundesgerichtshof an (vgl. BGH 44 196). In
eine ähnliche Richtung geht das Argument, mit einer Versuchsstrafe könne kein
Erfolg abgegolten werden, weshalb Körperverletzungen in echter Konkurrenz zur
versuchten Tötung stünden (vgl. TRECHSEL/FINGERHUTH, Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 12 zu Art. 122 StGB; ROTH/
BERKEMEIER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 25 zu
Art. 122 StGB).

1.4.2 Dem kann nicht gefolgt werden. Der Versuch ist seit Inkrafttreten des
neuen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches am 1. Januar 2007 in Art. 22 StGB
geregelt (vgl. BBl 1999 1979, 2010). Der Strafmilderungsgrund von Art. 22 Abs.
1 StGB kommt zum Tragen, wenn der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines
Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende
führt (unvollendeter Versuch) oder der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg
nicht eintritt oder nicht eintreten kann (vollendeter Versuch). Ein Versuch
liegt vor, wenn der Täter sämtliche subjektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt und
seine Tatentschlossenheit manifestiert hat, ohne dass alle objektiven
Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind (BGE 128 IV 18 E. 3b; BGE 122 IV 246 E.
3a; BGE 120 IV 199 E. 3e). Dies schliesst nicht aus, dass in objektiver
Hinsicht einzelne Tatbestandselemente erfüllt sind und bereits ein
Erfolgsunrecht eingetreten ist. Entgegen der in der Lehre teilweise vertretenen
Auffassung kann mit einer Versuchsstrafe auch eine bereits eingetretene
Rechtsgutverletzung abgegolten werden, wenn diese ein Durchgangsstadium zur
Tatvollendung ist. Eine gegenteilige engere Auslegung findet in Art. 22 StGB
keine Stütze. Der Versuch ist im Allgemeinen Teil des StGB als fakultativer
Strafmilderungsgrund ausgestaltet. Es wäre daher verfehlt, für die versuchte
Straftat von einer anderen Konkurrenzregelung auszugehen als für die vollendete
Tat. Dies entspricht auch der Auslegung des Versuchs bei der Verletzung anderer
Rechtsgüter als der hier diskutierten körperlichen Integrität. Nach der
Rechtsprechung wird beispielsweise auch die sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB)
durch die versuchte Vergewaltigung (Art. 190 StGB) konsumiert, wenn erstere nur
eine Begleiterscheinung des Vergewaltigungsversuchs ist und keine selbständige
Bedeutung hat (Urteile 6S.154/
BGE 137 IV 113 S. 116
2004 vom 30. November 2005 E. 8; 6S.824/1996 vom 15. September 1997 E. 1a).
Auch beim versuchten Raub werden etwa damit einhergehende Freiheitsberaubungen
(Art. 183 Ziff. 1 StGB), Tätlichkeiten (Art. 126 StGB), Drohungen (Art. 180
StGB) oder Nötigungen (Art. 181 StGB) durch die Verurteilung nach Art. 140
i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB abgegolten (vgl. Urteile 6B_491/2009 vom 26. Oktober
2009 E. 5 und 6; 6S.868/1998 vom 4. März 1999 E. 3). Würde der Auffassung der
Beschwerdeführerin gefolgt, hätte dies zur Konsequenz, dass ein Versuch in
Anwendung des Asperationsprinzips nach Art. 49 Abs. 1 StGB härter bestraft
werden könnte als die vollendete Tat. Dies erscheint nicht sachgerecht.
Unzutreffend ist schliesslich der Einwand, dem Unrecht könne mit einer blossen
Verurteilung wegen versuchter Tötung nicht ausreichend Rechnung getragen
werden. Wohl trifft zu, dass mit einer versuchten Tötung nicht zwingend auch
eine Körperverletzung einhergeht. Ein Versuch kann in einer früheren oder
fortgeschrittenen Phase enden. Ein Schuldspruch wegen versuchter Tötung sagt
daher noch nichts über das Stadium der Ausführung aus und auch nicht darüber,
weshalb es beim Versuch blieb. Im Übrigen ist der Umstand, dass eine
Rechtsgutverletzung eingetreten ist, auch nicht alleine ausschlaggebend für die
Beurteilung der Tatschwere. So kann ein gezielter Schuss auf den Kopf des
Opfers, welcher dieses dank glücklicher Umstände verfehlt, den gleichen
Unrechtsgehalt haben wie ein Tötungsversuch, der eine einfache Körperverletzung
ohne konkrete Gefährdung des Lebens zur Folge hat. Dem Umstand, dass mit dem
Tötungsversuch gleichzeitig eine Körperverletzung erfolgte, ist daher zusammen
mit den übrigen Tatumständen bei der Strafzumessung Rechnung zu tragen. Die
versuchte Tötung kann, angesichts des bloss fakultativen Strafmilderungsgrunds
von Art. 22 Abs. 1 StGB, gleich hart bestraft werden wie die vollendete Tat.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin führt die Annahme von unechter
Konkurrenz nicht zu einer milderen Strafe, da der obere Strafrahmen von 20
Jahren Freiheitsstrafe gemäss Art. 111 i.V.m. Art. 40 StGB, der auch dem im
Anwendungsbereich von Art. 49 Abs. 1 StGB geltenden gesetzlichen Höchstmass
entspricht (vgl. Urteil 6S.270/2006 vom 5. September 2006 E. 5.2 und 6.1),
ausgeschöpft werden kann. Bei der versuchten Tötung und einer damit
einhergehenden schweren Körperverletzung ist sodann der Mindeststrafrahmen von
Art. 122 StGB zu beachten (SCHUBARTH, a.a.O., N. 80 zu Art. 123 StGB; vgl. auch
INGEBORG PUPPE, in: Strafgesetzbuch,
BGE 137 IV 113 S. 117
Bd. I, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen [Hrsg.], 3. Aufl. 2010, N. 54 zu § 52 StGB/
D). Die Strafe darf nicht milder ausfallen, als wenn alleine die
Körperverletzung zu beurteilen wäre.
Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Vorinstanz berücksichtigt bei der
Strafzumessung straferhöhend, dass der Beschwerdegegner dem Opfer
lebensgefährliche Verletzungen zufügte und hierfür ein Messer verwendete. Den
Umstand, dass es beim Versuch blieb, stellt sie nur in geringem Umfang
strafmildernd in Rechnung, da sich der Beschwerdegegner des vollendeten
Versuchs strafbar gemacht habe und es bloss dem schnellen medizinischen
Eingriff zu verdanken sei, dass das Opfer nicht an den Folgen seiner
Verletzungen verblutete. Strafmindernd wirkt sich nach der Vorinstanz hingegen
die schwierige Kindheit des Beschwerdegegners und die ihm durch das
psychiatrische Gutachten vom 30. Juli 2008 attestierte verminderte
Schuldfähigkeit mittleren Grades aus.

1.5 An der mit BGE 77 IV 57 begründeten Rechtsprechung ist festzuhalten.
Zwischen der versuchten Tötung und der einfachen und schweren Körperverletzung
besteht grundsätzlich unechte Konkurrenz, wobei die Körperverletzung durch die
versuchte Tötung konsumiert wird. Dies muss gelten, wenn der Köperverletzung
wie vorliegend nebst der versuchten Tötung keine selbständige Bedeutung
zukommt.