Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 II 233



Urteilskopf

137 II 233

18. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen Sicherheitsdirektion und Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft
(Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_903/2010 vom 6. Juni 2011

Regeste

Art. 10 und 11 ANAG, Art. 70 VZAE, Art. 5 Anhang I FZA, aArt. 43 StGB sowie
Art. 56 ff. StGB; Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Überstellung
verurteilter Personen; Ausweisung eines Unionsbürgers.
Es verstösst nicht gegen Landes- sowie gegen Staatsvertragsrecht, möglichst
früh bzw. vor dem Ende des Straf- oder Massnahmenvollzugs über eine Ausweisung
zu entscheiden (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 233

BGE 137 II 233 S. 233

A. Der deutsche Staatsangehörige X., geboren 7. Oktober 1962, reiste 1986 in
die Schweiz ein, wo er eine Niederlassungsbewilligung erhielt. Mit Urteil vom
14. August 1996 sprach ihn das Strafgericht Basel-Stadt der mehrfachen
sexuellen Handlung mit Kindern
BGE 137 II 233 S. 234
schuldig, verurteilte ihn zu 14 Monaten Gefängnis bedingt und wies ihn an, sich
auf eigene Kosten einer ambulanten psychiatrischen Behandlung zu unterziehen.
Am 27. Januar 2006 wurde er vom Strafgericht Basel-Landschaft der mehrfachen
sexuellen Handlung mit Kindern, der mehrfachen sexuellen Nötigung sowie der
einfachen Körperverletzung für schuldig gesprochen und zu drei Jahren und neun
Monaten Zuchthaus verurteilt unter Anrechnung einer Untersuchungshaft von 980
Tagen. Der Strafvollzug wurde aufgeschoben und X. gemäss aArt. 43 Ziff. 1 Abs.
1 StGB in eine Heil- oder Pflegeanstalt eingewiesen. Seit 10. Februar 2004
befindet er sich im vorzeitig angetretenen Massnahmenvollzug.

B. Mit Verfügung vom 13. Dezember 2006 wies die Justiz-, Polizei- und
Militärdirektion des Kantons Basel-Landschaft (JPMD; heute:
Sicherheitsdirektion; nachfolgend: Direktion) X. gestützt auf Art. 10 Abs. 1
lit. a ANAG für 5 Jahre aus der Schweiz aus. Eine dagegen erhobene Beschwerde
wies der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft am 27. Oktober 2009 ab.
Dagegen erhob X. Beschwerde an das Kantonsgericht, welches diese mit Urteil vom
25. August 2010 ebenfalls abwies.

C. X. erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim
Bundesgericht mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichts (...) aufzuheben.
(...)

D. Die Sicherheitsdirektion (sinngemäss) und das Bundesamt für Migration
schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Kantonsgericht hat auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

E. Mit Verfügung vom 26. November 2010 erteilte der Präsident der II.
öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Der Beschwerdeführer bestreitet im Grundsatz nicht ernsthaft, dass er
aktuell eine Gefährdung darstellt und dass die Voraussetzungen für eine
Ausweisung gemäss Art. 10 und 11 ANAG [BS 1 121] bzw. Art. 5 Anhang I FZA [SR
0.142.112.681] zur Zeit erfüllt sind. Er macht aber geltend, die
Voraussetzungen einer gegenwärtigen Gefährdung müssten in dem Zeitpunkt erfüllt
sein, in dem die Ausweisung vollzogen werde. Die stationäre Massnahme, in der
er sich
BGE 137 II 233 S. 235
befinde, könne noch Jahre dauern, so dass die im Zeitpunkt des Vollzugs der
Ausweisung entscheidrelevanten Umstände heute noch gar nicht bekannt seien. Die
Ausweisung sei daher erst nach Beendigung der gerichtlich angeordneten
Sanktionen und gestützt auf die in jenem Zeitpunkt vorliegenden tatsächlichen
Verhältnisse zu prüfen. Im Verlauf der Therapie könne sich die Legalprognose
ändern. Gemäss Art. 62 StGB dürfe die Entlassung aus dem Strafvollzug erst
angeordnet werden, wenn dem Betroffenen eine günstige Prognose gestellt werden
könne. Solange dies nicht zutreffe, dürfe er nicht entlassen werden, so dass
eine ausländerrechtliche Ausweisung obsolet sei. Werde er aber dereinst
entlassen, so nur deshalb, weil ihm eine günstige Prognose gestellt werden
könne, was eine Ausweisung ausschliesse. Die heute bereits ausgesprochene
Ausweisung sei daher überflüssig und damit rechtswidrig. Dieses Vorbringen ist
im Folgenden zu prüfen, und zwar zunächst unter dem Gesichtspunkt des
Landesrechts (E. 5.2), dann unter demjenigen des Staatsvertragsrechts (E. 5.3).

5.2

5.2.1 Auf Vollzug und Beendigung der nach aArt. 43 StGB angeordneten Massnahmen
sind heute die Art. 56-65 StGB anwendbar (Ziff. 2 Abs. 1 der
Schlussbestimmungen der Änderung des StGB vom 13. Dezember 2002). Gemäss Art.
59 Abs. 4 StGB beträgt der mit der stationären Behandlung verbundene
Freiheitsentzug in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die Voraussetzungen für
die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu
erwarten, durch die Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr weiterer
mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und
Vergehen begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die
Verlängerung der Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre anordnen. Die
Verlängerung über die fünf Jahre hinaus setzt somit einerseits voraus, dass
eine Gefährdung weiterhin besteht, mithin die Voraussetzungen für eine bedingte
Entlassung nach Art. 62 StGB noch nicht erfüllt sind (BGE 135 IV 139 E. 2.2.1).
Andererseits wird vorausgesetzt, dass dieser Gefahr durch die Massnahme
begegnet werden kann, mithin dass der Täter überhaupt behandlungsfähig ist (BGE
134 IV 315 E. 3.4.1; BGE 109 IV 73 E. 3; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar,
Strafrecht, Niggli/Wiprächtiger [Hrsg.], Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 63 zu Art. 59
StGB); gemeint ist damit eine therapeutische dynamische Einflussnahme, die zu
einer Verbesserung der Legalprognose führt
BGE 137 II 233 S. 236
(BGE 134 IV 315 E. 3.6). Eine Verlängerung über die fünf Jahre hinaus kann
deshalb nur in Betracht gezogen werden, wenn sich davon eine therapeutische
Wirkung in diesem Sinne erwarten lässt (BBl 1999 2078 f.; BGE 135 IV 139 E.
2.3.2). Zudem hat die Verlängerung der Massnahme im Grunde Ausnahmecharakter
und rechtfertigt sich deshalb nur bei Gefahr relativ schwerwiegender Delikte (
BGE 135 IV 139 E. 2.1 S. 141 und E. 2.4 S. 144). Sodann wird die stationäre
Massnahme nach Art. 62c Abs. 1 lit. a StGB aufgehoben, wenn ihre Durch- oder
Fortführung als aussichtslos erscheint, also namentlich wenn eine
therapeutische Behandlung erfolglos ist (ANDREA BAECHTOLD, Strafvollzug, 2.
Aufl. 2009, S. 281; HEER, a.a.O., N. 17 ff. zu Art. 62c StGB).
Es ist also nicht so, dass die stationäre Massnahme in jedem Fall erst beendet
wird, wenn dem Täter eine günstige Prognose gestellt werden kann. Sie kann
gerade auch dann und deshalb beendet werden, weil eine therapeutische Besserung
nicht mehr zu erwarten ist. Zwar könnte in diesem Fall gemäss Art. 62c Abs. 3
StGB eine andere Massnahme angeordnet werden, wenn zu erwarten ist, dadurch
lasse sich der Gefahr weiterer mit dem Zustand des Täters in Zusammenhang
stehender Verbrechen und Vergehen begegnen. Da in solchen Fällen auch eine
ambulante therapeutische Behandlung nicht zielführend wäre, käme nur die
Verwahrung in Frage (Art. 64 Abs. 1 StGB; vgl. BBl 1999 2079; BGE 134 IV 121 E.
3.4.2 S. 130, BGE 134 IV 315 E. 3.2 S. 320 und E. 3.7 S. 324), die indessen
strengeren Voraussetzungen unterliegt und als ultima ratio nur bei
qualifizierter Wahrscheinlichkeit einer erneuten schweren Delinquenz in Frage
kommt (BGE 137 IV 59 E. 6.3 S. 70; BGE 134 IV 121 E. 3.4.4 S. 132). Dabei ist
zu beachten, dass eine Verwahrung ein bedeutend schwererer Eingriff in die
Rechtsstellung des Betroffenen ist als eine ausländerrechtliche Ausweisung und
deshalb im Lichte des Verhältnismässigkeitsprinzips zurückhaltender angeordnet
werden darf. Eine Gefährdung, die ausreicht, um eine Ausweisung zu
rechtfertigen, genügt deshalb nicht unbedingt für eine Verwahrung. Es ist also
denkbar, dass zwar eine stationäre therapeutische Massnahme mangels
Therapierbarkeit des Beschwerdeführers nicht mehr weitergeführt und eine
Verwahrung mangels qualifizierter Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung nicht
angeordnet wird, aber weiterhin eine Gefährdung besteht.

5.2.2 Aber selbst wenn der Beschwerdeführer dereinst wegen verbesserter
Legalprognose aus dem Massnahmenvollzug entlassen werden sollte, schliesst dies
eine Ausweisung nicht aus. Strafrecht und
BGE 137 II 233 S. 237
Ausländerrecht verfolgen unterschiedliche Ziele und sind unabhängig voneinander
anzuwenden. Der Straf- und Massnahmenvollzug hat nebst der Sicherheitsfunktion
eine resozialisierende bzw. therapeutische Zielsetzung; für die
Fremdenpolizeibehörden steht demgegenüber das Interesse der öffentliche Ordnung
und Sicherheit im Vordergrund, woraus sich ein im Vergleich mit den Straf- und
Strafvollzugsbehörden strengerer Beurteilungsmassstab ergibt (BGE 120 Ib 129 E.
5b S. 132; Urteil 2A.103/2005 vom 4. August 2005 E. 4.2.2; NÄGELI/SCHOCH,
Ausländische Personen als Straftäterinnen und Straftäter, in: Ausländerrecht,
Uebersax und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2009, S. 1163). So kann aus dem Umstand,
dass ein Straftäter bedingt aus dem Strafvollzug entlassen wurde, nicht bereits
geschlossen werden, es gehe keine Gefahr (im fremdenpolizeilichen Sinne) mehr
von ihm aus (BGE 130 II 176 E. 4.3.3 S. 188). Auch eine aus der Sicht des
Massnahmenvollzugs positive Entwicklung oder ein klagloses Verhalten im
Strafvollzug schliessen eine Rückfallgefahr und eine fremdenpolizeiliche
Ausweisung nicht aus (BGE 125 II 521 E. 4a/bb S. 528; Urteile 2A.688/2005 vom
4. April 2006 E. 3.1.3 und 2C_832/2009 vom 29. Juni 2010 E. 4.3). Die
Argumentation des Beschwerdeführers, wonach er nach seiner allfälligen
Entlassung aus dem Massnahmenvollzug keine Gefahr im ausländerrechtlichen Sinne
mehr darstellen werde, geht deshalb fehl.

5.2.3 Die Frage kann höchstens sein, ob eine Koordination zwischen den
Strafvollzugsbehörden und den Fremdenpolizeibehörden stattzufinden habe in dem
Sinne, dass diese eine Ausweisung bzw. einen Bewilligungswiderruf erst dann
anordnen, wenn sich jene zur Fortführung einer stationären Massnahme bzw. zur
Anordnung einer Verwahrung geäussert haben.
Gemäss Art. 70 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung,
Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) bleibt im Falle eines Straf-
oder Massnahmenvollzugs die bisherige ausländerrechtliche Bewilligung bis zur
Entlassung aus dem Straf- oder Massnahmenvollzug gültig. Gemäss Abs. 2 dieser
Bestimmung ist das Anwesenheitsverhältnis spätestens auf den Zeitpunkt der
bedingten oder unbedingten Entlassung neu zu regeln. Besteht die Möglichkeit,
die betroffene Person zum Vollzug eines Strafurteils in den Heimatstaat zu
überstellen, ist sofort über das Anwesenheitsverhältnis zu entscheiden. Diese
Bestimmung entspricht ungefähr der früheren Regelung von Art. 14 Abs. 8 ANAV
(AS 1949 228).
BGE 137 II 233 S. 238
Dazu hatte das Bundesgericht erkannt, dass Art. 14 Abs. 8 ANAV den Zeitpunkt
der Verfügung nicht näher regle, dass aber jedenfalls vor der Entlassung
verfügt werden soll, damit der Ausländer sein Leben in Freiheit vorbereiten
könne. Es sollte auf eine vernünftige zeitliche Distanz zwischen der Verfügung
und der Entlassung geachtet werden, wobei die Zeitspanne zwischen der Regelung
des künftigen Aufenthalts und der Entlassung aus dem Vollzug die
voraussichtliche Dauer eines Rechtsmittelverfahrens nicht übertreffen sollte (
BGE 131 II 329 E. 2.3 und 2.4). Als zulässig erachtet wurde auch eine
Ausweisung, die rund sechs Jahre vor der frühestmöglichen bedingten Entlassung
aus dem Strafvollzug angeordnet worden war, da keine erkennbaren Anzeichen
dafür vorhanden waren, dass sich die für die Anordnung der Ausweisung
massgebenden Verhältnisse bis zu deren Vollzug entscheidend verändern würden
(Urteil 2C_201/2007 vom 3. September 2007 E. 5). Auch brauchte eine während des
Strafvollzugs durchgeführte psychotherapeutische Behandlung nicht abgewartet zu
werden, um die Ausweisung zu verfügen. Einerseits erschienen nämlich die
Erfolgsaussichten der Behandlung als ungewiss und könne ein Rückfallrisiko
selbst nach einer psychiatrischen Behandlung nicht ausgeschlossen werden und
andererseits habe der frühzeitige, noch vor der Haftentlassung getroffene
Entscheid über die Ausweisung auch Vorteile, indem Klarheit darüber geschaffen
werde, wo der Straftäter nach der Entlassung aus dem Vollzug leben würde. Das
ermögliche den Strafvollzugsbehörden und auch dem Betroffenen selber, sich im
Hinblick auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft rechtzeitig darauf
einzurichten. Im Geltungsbereich des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die
Überstellung verurteilter Personen (SR 0.343) kommt hinzu, dass der Verurteilte
bei geklärter fremdenpolizeilicher Ausgangslage daran interessiert sein könnte,
für den weiteren Vollzug der Sanktion in seinen Heimatstaat überstellt zu
werden (Urteil 2A.153/1999 vom 3. September 1999 E. 4b).

5.2.4 Diese Rechtsprechung ist auch unter der Geltung von Art. 70 VZAE
massgebend, denn nach dieser Rechtslage kann eine Ausweisung selbst dann
erfolgen, wenn sich der Verurteilte gegebenenfalls im Straf- oder
Massnahmenvollzug gebessert hat, so dass ein Zuwarten mit der Verfügung bis zum
Ende des Vollzugs keinen Sinn macht.
Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass Pädosexualität kaum heilbar, sondern
lediglich kontrollierbar ist. Es erscheint in solchen
BGE 137 II 233 S. 239
Fällen daher fraglich, ob eine Therapierung so weit zu gedeihen vermag, dass
eine ausländerrechtlich relevante Gefahr entfällt. Jedenfalls gibt es hier
keine Anhaltspunkte dafür, dass sich vorliegend eine andere Schlussfolgerung
aufdrängen würde.

5.3

5.3.1 Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass nach dem
Freizügigkeitsabkommen die Ausweisung erst nach Beendigung der strafrechtlichen
Sanktion und gestützt auf die dannzumal vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse
zu prüfen sei. Er stützt sich dabei auf das Urteil des EuGH vom 29. April 2004
C-482/01 und C-493/01 Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2004 I-5257 Randnrn.
77-79. In diesem Urteil hat der EuGH erkannt, dass Artikel 3 der Richtlinie 64/
221/EWG (ABl. L 56 vom 4. April 1964 S. 850) einer innerstaatlichen Praxis
entgegensteht, wonach die nationalen Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der
Prüfung der Rechtmässigkeit einer Ausweisung einen Sachvortrag zu
berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der
den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen
Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betroffenen für die
öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn
ein längerer Zeitraum zwischen der Entscheidung über die Ausweisung und der
Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

5.3.2 Dieses Urteil bejaht somit nur die novenrechtliche Frage, ob ein
Verwaltungsgericht verpflichtet ist, neue Sachverhalte zu berücksichtigen, die
seit dem Verwaltungsentscheid ergangen sind. Das hat aber die Vorinstanz
bereits so getan. Zwar stammt die ursprüngliche Verfügung der Direktion vom 13.
Dezember 2006. Indessen hat der Regierungsrat in seinem Beschwerdeentscheid vom
27. Oktober 2009 die Entwicklung des Beschwerdeführers während des
Massnahmenvollzugs (Bericht der Sicherheitsdirektion vom 28. Juli 2009)
berücksichtigt. Das Kantonsgericht seinerseits stützte sich zusätzlich auf die
seither erfolgte Entwicklung, nämlich den Verlaufsbericht vom 12. Juli 2010 und
die Parteiverhandlung vom 25. August 2010, an welcher der Beschwerdeführer und
der für ihn zuständige Oberarzt der Massnahmenvollzugsanstalt befragt wurden.
Das Kantonsgericht hat also die aktuelle Entwicklung bis zum Urteilstag
berücksichtigt.

5.3.3 Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass die Gefährdung der öffentlichen
Ordnung "gegenwärtig" sein muss (Urteil des EuGH vom
BGE 137 II 233 S. 240
19. Januar 1999 C-348/96 Calfa, Randnr. 24; BGE 131 II 329 E. 3.2). Weder das
Freizügigkeitsabkommen noch die Rechtsprechung äussern sich dazu, in welchem
Zeitpunkt die Gefahr gegenwärtig sein muss. Die Interpretation des
Beschwerdeführers, wonach die Gefährdung im Zeitpunkt der Entlassung aus dem
Straf- oder Massnahmenvollzug vorliegen müsse, ist zwar vertretbar, aber andere
Interpretationen sind ebenfalls denkbar. Ein Zuwarten bis zum Ende des Vollzugs
würde nur Sinn machen, wenn die seitherige Entwicklung für den Entscheid
massgeblich sein kann. Dem kann das Interesse an einem sofortigen oder
frühzeitigen Entscheid über die Entfernungsmassnahme entgegenstehen (E. 5.2).

5.3.4 In diesem Sinne steht die Interpretation des Beschwerdeführers in einem
gewissen Widerspruch zum Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997 zum
Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (SR 0.343.1), das für
die Schweiz am 1. Oktober 2004 und für Deutschland am 1. August 2007 in Kraft
getreten ist und damit im Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten als
jüngerer Vertrag dem Freizügigkeitsabkommen vorgeht, welches nicht nur mit der
EG, sondern auch mit den einzelnen Mitgliedstaaten abgeschlossen wurde (Art. 30
Abs. 3 und Abs. 4 lit. a des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das
Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]). Gemäss Art. 3 Abs. 1 dieses
Zusatzprotokolls kann eine verurteilte Person auch ohne ihre Zustimmung zum
Vollzug in ihren Heimatstaat überstellt werden. Darin liegt der Unterschied zum
ursprünglichen Übereinkommen vom 21. März 1983 über die Überstellung
verurteilter Personen (SR 0.343; vgl. Art. 101 Abs. 2 IRSG [SR 351.1] in der
Fassung vom 19. Dezember 2003; Botschaft vom 1. Mai 2002 zu diesem
Zusatzübereinkommen, BBl 2002 4341, 4348 f. zu Art. 3; BAECHTOLD, a.a.O., S. 96
f.). Voraussetzung für die Überstellung ist, dass die verhängte Sanktion oder
eine infolge dieser Sanktion getroffene Verwaltungsentscheidung eine
Ausweisungsanordnung enthält, auf Grund deren es der betroffenen Person nicht
gestattet sein wird, nach der Entlassung aus der Haft im Hoheitsgebiet des
Urteilsstaats zu bleiben. Diese völkerrechtliche Regelung lässt somit
ausdrücklich zu bzw. setzt sogar voraus, dass eine allfällige
Ausweisungsverfügung möglichst frühzeitig ergeht (BAECHTOLD, a.a.O., S. 97;
vgl. auch NAEGELI/SCHOCH, a.a.O., S. 1155 f.), wenn möglich gleich zu Beginn
des Vollzugs. Dies wird denn auch in Art. 70 Abs. 2 Satz 2 VZAE umgesetzt,
wonach sofort über das Anwesenheitsverhältnis zu entscheiden ist, wenn die
Möglichkeit
BGE 137 II 233 S. 241
besteht, die verurteilte Person zum Vollzug in den Heimatstaat zu überstellen.

5.4 Insgesamt entspricht es jedenfalls vorliegend sowohl dem Landesrecht als
auch dem Staatsvertragsrecht, dass möglichst früh und jedenfalls vor dem Ende
des Straf- oder Massnahmenvollzugs über die Ausweisung entschieden wird. Der
angefochtene Entscheid ist auch in dieser Hinsicht nicht zu beanstanden.