Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 II 17



Urteilskopf

137 II 17

3. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Eidgenössische Steuerverwaltung (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
2C_334/2010 vom 22. November 2010

Regeste

Art. 40 Abs. 1 MWSTV; Art. 149a Abs. 1 SchKG; Mehrwertsteuer; Verjährung der im
Verlustschein verurkundeten Forderung (MWST 1995/96).
Anwendbares Recht (E. 1).
In Bezug auf Mehrwertsteuerforderungen, für welche ein Verlustschein
ausgestellt wurde, gilt die zwanzigjährige Verjährungsfrist von Art. 149a Abs.
1 SchKG und nicht die fünfjährige von Art. 40 Abs. 1 MWSTV (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 18

BGE 137 II 17 S. 18

A. Mit Ergänzungsabrechnung vom 12. Juni 1996 schätzte die Eidgenössische
Steuerverwaltung X. nach pflichtgemässem Ermessen ein und forderte für die
Abrechnungsperiode vom 1. Juli 1995 bis 31. Dezember 1995 Mehrwertsteuern im
Betrag von Fr. 20'000.- nebst Verzugszinsen nach. Für die Abrechnungsperiode
vom 1. Januar 1996 bis zum 18. November 1996 deklarierte der Steuerpflichtige
mit eigener Abrechnung Mehrwertsteuern von Fr. 19'398.55.
Am 18. November 1996 wurde über X. der Konkurs eröffnet. Nach durchgeführtem
Konkurs erhielt die Eidgenössische Steuerverwaltung einen Verlustschein vom 26.
Mai 1999 über Fr. 56'489.70 (umfassend u.a. die beiden
Mehrwertsteuerforderungen nebst Zins bis Konkurseröffnung). Gestützt auf diesen
leitete die Eidgenössische Steuerverwaltung mit Zahlungsbefehl vom 28. November
2005 die Betreibung gegen den Steuerpflichtigen ein. Dieser erhob (...) dagegen
Rechtsvorschlag mit der Einrede des mangelnden neuen Vermögens. Mit Urteil vom
22. Februar 2006 bewilligte das Gerichtspräsidium Zofingen den Rechtsvorschlag
nicht, worauf die Eidgenössische Steuerverwaltung (...) den Rechtsvorschlag
gegen den Zahlungsbefehl im Umfang von insgesamt Fr. 40'328.- (Mehrwertsteuer
1. Juli 1995 bis 18. November 1996 nebst Zinsen) aufhob. Mit
Einspracheentscheid vom 7. Dezember 2006 bestätigte sie die ihr von X.
geschuldete Mehrwertsteuer.
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit
Urteil vom 25. Februar 2010 ab.

B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X. dem
Bundesgericht u.a., das (...) Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben
und festzustellen, dass die Mehrwertsteuerforderungen verjährt seien. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Am 1. Januar 2010 trat das Mehrwertsteuergesetz vom 12. Juni 2009 (MWSTG;
SR 641.20) in Kraft. Der vorliegende Sachverhalt ereignete sich noch unter der
Geltung der Verordnung vom 22. Juni 1994 über die Mehrwertsteuer (MWSTV; AS
1994 1464), die somit
BGE 137 II 17 S. 19
noch anwendbar ist (Art. 93 und 94 aMWSTG; AS 2000 1300). Dies gilt auch für
die hier streitige materiell-rechtliche Frage der Verjährung (Art. 112 Abs. 1
MWSTG i.V.m. Art. 93 aMWSTG; vgl. dazu BGE 126 II 1 E. 2a mit Hinweisen).

1.2 Am 1. Januar 1997 trat das revidierte Bundesgesetz vom 11. April 1889 über
Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG; SR 281.1; AS 1995 1307) in Kraft. Der
Konkurs über den Beschwerdeführer wurde zwar noch unter der Geltung des alten
Rechts eröffnet. Massgebend ist im vorliegenden Fall indessen die Ausstellung
des Verlustscheines, welche nach Inkrafttreten des neuen Rechts erfolgte,
sodass sich kein übergangsrechtliches Problem stellt (Art. 2 Abs. 2 der
Schlussbestimmungen der Änderungen vom 16. Dezember 1994 SchKG). Im
Zusammenhang mit dem am 26. Mai 1999 ausgestellten Verlustschein ist daher Art.
149a Abs. 1 SchKG anwendbar.

2.

2.1 Streitig ist im vorliegenden Fall einzig, ob bezüglich der in Frage
stehenden Mehrwertsteuerforderung, für die ein Verlustschein ausgestellt worden
ist, die (relative) fünfjährige Verjährungsfrist für Mehrwertsteuerforderungen
gemäss Art. 40 Abs. 1 MWSTV (ebenso Art. 49 Abs. 1 aMWSTG) zur Anwendung
gelangt oder die zwanzigjährige Verjährungsfrist gemäss Art. 149a Abs. 1 SchKG.
Gemäss Art. 40 Abs. 1 MWSTV verjährt die Steuerforderung fünf Jahre nach Ablauf
des Kalenderjahres, in dem sie entstanden ist. Die Verjährung wird durch jede
Einforderungshandlung und durch jede Berichtigung durch die zuständige Behörde
unterbrochen (Abs. 2).
Nach Art. 149a Abs. 1 SchKG verjährt die durch den Verlustschein verurkundete
Forderung 20 Jahre nach der Ausstellung des Verlustscheines.

2.2 Nach unbestrittener Darstellung der Vorinstanz hat die Eidgenössische
Steuerverwaltung erst mehr als fünf Jahre nach der Ausstellung des
Verlustscheins vom 26. Mai 1999 gestützt auf diesen die Betreibung der
Mehrwertsteuerforderung eingeleitet. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie auch keine
Handlungen vorgenommen, welche geeignet gewesen wären, eine allfällige
Verjährung zu unterbrechen.

2.3 Art. 40 MWSTV enthielt - wie damals im übrigen Bundessteuerrecht üblich -
lediglich eine relative Verjährungsfrist; auf die Aufnahme einer absoluten
Frist wurde - wie schon zuvor im
BGE 137 II 17 S. 20
Warenumsatzsteuerrecht (Art. 28 WUStB; DIETER METZGER, Handbuch der
Warenumsatzsteuer, 1983, N. 877; WILHELM WELLAUER, Die Eidgenössische
Warenumsatzsteuer, 1959, N. 868) - bewusst verzichtet; es gab daher keine
absolute Verjährung der Steuerforderung (Kommentar des Eidgenössischen
Finanzdepartements zur Verordnung über die Mehrwertsteuer vom 22. Juni 1994, S.
39). Wurde die Selbstveranlagung durch den Steuerpflichtigen nicht seitens der
Steuerverwaltung berichtigt oder die mit Ergänzungsabrechnung vorgenommene
Steuernachforderung vom Steuerpflichtigen nicht bestritten, war die Veranlagung
nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist somit unanfechtbar (vgl. DIETER
METZGER, a.a.O., N. 891). Diese Verjährungsregelung ist von Art. 128 WStB bzw.
Art. 128 BdBSt übernommen worden (HANS HEROLD, Praxis des Umsatzsteuerrechts,
1983, N. 1 zu Art. 28 WUStB), wobei es sich unbestrittenermassen um eine
Veranlagungs- oder Festsetzungsverjährung - d.h. um eine Frist, innert welcher
eine Veranlagung vorzunehmen bzw. der Steueranspruch festzustellen ist - und
nicht um eine Bezugs- oder Vollstreckungsverjährung handelt (vgl. BGE 126 II 1;
Urteil 2A.293/2001 vom 21. Mai 2002 E. 4b, mit Hinweisen auf die Lehre). Es ist
somit davon auszugehen, dass diese Frist zwar für die Festsetzung der Steuer,
hingegen nicht für den Steuerbezug gilt.
Eine absolute Verjährungsfrist - von 15 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres,
in welchem die Steuerforderung entstanden ist - wurde erst mit dem Bundesgesetz
über die Mehrwertsteuer vom 2. September 1999 (aMWSTG), welches am 1. Januar
2001 in Kraft getreten ist, eingeführt (Art. 49 Abs. 4).

2.4 Bei der Mehrwertsteuer als Selbstveranlagungssteuer entsteht die
Steuerforderung bei Lieferungen und Dienstleistungen von Gesetzes wegen - d.h.
unabhängig davon, ob die steuerpflichtige Person rechtzeitig und richtig
abrechnet - im Normalfall bereits mit der Rechnungstellung, ausnahmsweise mit
der Vereinnahmung des Entgelts (Art. 34 lit. a MWSTV [SR 641.201]). Eine
eigentliche Veranlagung, wie sie bei den direkten Steuern zwingend erforderlich
ist, findet nicht statt. Die Steuerverwaltung kann die unaufgefordert
einzureichende Steuerabrechnung des Steuerpflichtigen entweder akzeptieren oder
- wenn dieser die zu entrichtende Steuer nicht richtig berechnet - seine
fehlerhafte Abrechnung korrigieren und die so ermittelte Steuernachforderung in
Form einer Ergänzungsabrechnung geltend machen. In den Fällen ohne Anfechtung
erwächst die Mehrwertsteuer zwar nicht in formelle Rechtskraft, sie kann
BGE 137 II 17 S. 21
jedoch nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist weder durch die
Steuerverwaltung noch durch den Steuerpflichtigen korrigiert werden (Urteil
2A.121/2004 vom 16. März 2005 E. 5.3); sie wird damit inhaltlich unabänderlich
und in diesem Sinn materiell rechtskräftig (IVO P. BAUMGARTNER UND ANDERE, Vom
alten zum neuen Mehrwertsteuergesetz, 2010, § 8 N. 40).
Der Beschwerdeführer bestreitet die von ihm gemäss Selbstdeklaration bzw.
Ergänzungsabrechnung geschuldeten Mehrwertsteuern nicht. Da keine Anhaltspunkte
dafür bestehen, dass der Beschwerdeführer die Ergänzungsabrechnung bestritten
hat, ist davon auszugehen, dass beide Veranlagungen in Bezug auf die
geschuldeten Steuerbeträge unangefochten geblieben sind. Das
Steuerfestsetzungsverfahren war somit mit der Selbstdeklaration bzw. der
Ergänzungsabrechnung abgeschlossen und die geschuldeten Mehrwertsteuern
betragsmässig festgelegt.

2.5 Die Ausstellung eines Verlustscheins lässt die ursprüngliche Forderung zwar
grundsätzlich bestehen. Neben den betreibungsrechtlichen Folgen bewirkt der
Verlustschein aber, dass die Forderung nunmehr nach den betreibungsrechtlichen
Bestimmungen verjährt. Bis zum 1. Januar 1997 waren Verlustscheinforderungen
gemäss Art. 149 Abs. 5 SchKG unverjährbar (BGE 102 Ia 363 E. 2a mit Hinweis),
während sie nunmehr der zwanzigjährigen Verjährungsfrist gemäss Art. 149a Abs.
1 SchKG unterliegen (Urteile 5P.434/2005 vom 21. März 2006 E. 2.3 und 4P.126/
2003 vom 25. August 2003 E. 2.3; AMONN/WALTHER, Grundriss des
Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 8. Aufl. 2008, § 31 N. 18 und 24 f.).

2.6 Die Bestimmungen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs sind
entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers grundsätzlich auch auf
öffentlich-rechtliche Geldforderungen wie namentlich Steuern und Abgaben
anwendbar (BGE 115 III 1 E. 3).
Für die direkten Steuern ist denn auch anerkannt, dass mit der Ausstellung
eines Verlustscheines für die darin verurkundete Steuerforderung eine neue
Verjährungsfrist gemäss Art. 149a Abs. 1 SchKG von 20 Jahren zu laufen beginnt
(ZWEIFEL/CASANOVA, Schweizerisches Steuerverfahrensrecht, direkte Steuern,
2008, § 29 N. 54; PETER AGNER UND ANDERE, Kommentar zum Gesetz über die direkte
Bundessteuer, Ergänzungsband, 2000, N. 2a zu Art. 121 DBG, sowie dieselben,
Kommentar zum Gesetz über die direkte Bundessteuer, 1995, N. 2 zu Art. 121
DBG).
BGE 137 II 17 S. 22
Auch der Bundesrat weist in seiner Botschaft vom 25. Juni 2008 zur
Vereinfachung der Mehrwertsteuer denn darauf hin, dass sich - obwohl der
Entwurf neu ausdrücklich eine absolute Bezugsverjährungsfrist von zehn Jahren
vorsehe - für Steuerforderungen, für die ein Verlustschein bestehe, die
Verjährung - "wie bei allen anderen Forderungen auch" - nach Art. 149a SchKG
richte (BBl 2008 7012). Die entsprechende Bestimmung des Entwurfes ist nunmehr
als Art. 91 Abs. 5 und 6 MWSTG am 1. Januar 2010 in Kraft getreten.

2.7 Das Mehrwertsteuerrecht selbst regelt die Vollstreckung von Forderungen
ebenso wenig wie das Zivilrecht. Hierfür kommt grundsätzlich das
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht zur Anwendung (Art. 38 SchKG). Wenn aber
die Forderungen gemäss diesem Erlass zwangsvollstreckt werden, müssen auch
dessen Vorschriften - einschliesslich der Verjährungsnorm von Art. 149a Abs. 1
SchKG - zur Anwendung gelangen. Die Vorinstanz verweist denn auch zu Recht
darauf, dass bei zivilrechtlichen Forderungen die allgemeinen Verjährungsregeln
des Obligationenrechts gegenüber jenen des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts
zurücktreten müssen, weil es sich bei Forderungen, für welche ein Verlustschein
ausgestellt wurde, um eine besondere Art von Forderungen handle. Der
Gesetzgeber habe für solche eine längere als die zivilrechtlich nach
Obligationenrecht geltende Verjährungsfrist gewähren wollen (vgl. BBl 1991 III
104).
Dem entspricht, dass das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters-
und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831. 10) ausdrücklich festlegt, dass
für die Vollstreckung von Beitragsforderungen aArt. 149 Abs. 5 SchKG nicht
anwendbar sei (Art. 16 Abs. 2 AHVG), was ebenfalls für den neuen Art. 149a Abs.
1 SchKG gilt (vgl. dazu CARL JAEGER, Das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und
Konkurs, 2006, N. 7 zu Art. 149a SchKG). Die Vorinstanz schliesst denn auch aus
dieser Bestimmung zutreffend, dass Mehrwertsteuerforderungen gerade nicht von
Art. 149a Abs. 1 SchKG ausgenommen sind, da dies im Mehrwertsteuerrecht
nirgends vorgesehen ist.

2.8 Die Folgerung der Vorinstanz, in Bezug auf Mehrwertsteuerforderungen, für
welche ein Verlustschein ausgestellt wurde, gelte die Verjährungsfrist von Art.
149a Abs. 1 SchKG und nicht jene von Art. 40 Abs. 1 MWSTV - weshalb die
Mehrwertsteuerforderung der
BGE 137 II 17 S. 23
Eidgenössischen Steuerverwaltung gegen den Beschwerdeführer nicht verjährt sei,
weil die zwanzigjährige Verjährungsfrist gemäss Art. 149a Abs. 1 SchKG erst mit
Ausstellung des Verlustscheins zu laufen begonnen habe - verletzt demnach kein
Bundesrecht.