Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 137 III 534



Urteilskopf

137 III 534

79. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_534/2011 vom 13. Oktober 2011

Regeste

Art. 649b Abs. 1 ZGB; Ausschluss aus der Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer;
Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Stockwerkeigentümergemeinschaft.
Ein Mitglied der Stockwerkeigentümergemeinschaft, das selbst in grober Weise
rechtliche und moralische Regeln des Gemeinschaftsverhältnisses missachtet,
kann nicht geltend machen, die Fortsetzung der Gemeinschaft mit einem anderen,
sich gemeinschaftswidrig verhaltenden Mitglied sei ihm nicht zuzumuten (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 534

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X. und Y. bilden zusammen eine Stockwerkeigentümergemeinschaft, wobei X. die
Mehrheit der Anteile innehat. Die Parteien und der damals noch lebende Ehegatte
von Y. standen bereits seit 1989 miteinander in rechtlicher Beziehung. Als
Folge von Provokationen, Körperverletzungen, Tätlichkeiten unter den
Beteiligten und aufgrund von Beschlüssen der Stockwerkeigentümergemeinschaft
kam es zu unzähligen Prozessverfahren zwischen den
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Verfahrensbeteiligten, die das Verhältnis untereinander vergifteten. Die
Parteien sind nunmehr verfeindet.
Mit Urteil vom 29. März 2010 ordnete das Amtsgericht Luzern-Land in Gutheissung
der Klage von X. den Ausschluss von Y. aus der Stockwerkeigentümergemeinschaft
und die Veräusserung deren Stockwerkeigentumsanteils sowie die
Zwangsversteigerung für den Fall der Weigerung des freiwilligen Verkaufs des
Anteils an. Mit Urteil vom 26. Januar 2011 wies das Obergericht des Kantons
Luzern die Klage ab.
Das Bundesgericht weist die am 16. August 2011 gegen das obergerichtliche
Urteil eingereichte Beschwerde des X. ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Nach Art. 649b Abs. 1 ZGB kann ein Miteigentümer durch richterliches Urteil
aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn durch sein Verhalten oder das
Verhalten von Personen, denen er den Gebrauch der Sache überlassen oder für die
er einzustehen hat, Verpflichtungen gegenüber allen oder einzelnen
Mitberechtigten so schwer verletzt werden, dass diesen die Fortsetzung der
Gemeinschaft nicht zugemutet werden kann. Diese Bestimmung gilt auch für das
Stockwerkeigentum im Sinn der Art. 712a ff. ZGB (BGE 113 II 15 E. 2 S. 17).
Besteht die Gemeinschaft - wie hier - aus nur zwei Mitgliedern, steht jedem das
Klagerecht zu (BRUNNER/WICHTERMANN, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd.
II, 3. Aufl. 2007, N. 22 zu Art. 649b ZGB).

2.2

2.2.1 Das Amtsgericht stellte fest, dass beide Parteien eine schwere
Mitverantwortung am hoffnungslos vergifteten Verhältnis treffe und jede Partei
rücksichtsloses und jeglichen Anstand vermissendes Verhalten gegenüber der
anderen an den Tag gelegt habe. Mangels Antrages der Beschwerdegegnerin
entsprach es dem Klageantrag des Beschwerdeführers und ordnete den Ausschluss
der Beschwerdegegnerin aus der Stockwerkeigentümergemeinschaft und die
Veräusserung deren Stockwerkeigentumsanteils sowie die Zwangsversteigerung für
den Fall der Weigerung des freiwilligen Verkaufs des Anteils an. Im Gegensatz
zur ersten Instanz hat das Obergericht die Klage des Beschwerdeführers
abgewiesen. In einer ersten
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Begründung hat es in grundsätzlicher Hinsicht erwogen, die
Ausschlussmöglichkeit stehe nur einem loyalen Miteigentümer zu. Wer sich grob
pflichtwidrig verhalte, könne sich nicht auf Art. 649b ZGB berufen. Trügen -
wie im konkreten Fall - beide Parteien eine schwere Mitverantwortung an der
bestehenden Situation, fehle es an der Unzumutbarkeit der Fortführung der
Gemeinschaft durch den Beschwerdeführer.

2.2.2 Dem hält der Beschwerdeführer im Wesentlichen entgegen, nicht nur der
"loyale" Miteigentümer könne sich auf Art. 649b ZGB berufen. Bei Art. 649b ZGB
gehe es vielmehr nur darum, dass der sich korrekt verhaltende Miteigentümer
nicht wegen des renitenten Miteigentümers auf seine Anteile verzichten müsse.
Selbst wenn sich beide Parteien unkorrekt verhielten, könne die Fortführung der
Gemeinschaft bei einer verwahrlosten und funktionsunfähigen Gemeinschaft
unzumutbar sein.

2.3 Vorliegend stellt sich die grundsätzliche Frage, ob im Lichte von Art. 649b
ZGB einem Mitglied der Stockwerkeigentümergemeinschaft, das auf Ausschluss
eines anderen Mitgliedes klagt, die Fortsetzung der Gemeinschaft mit dem
eingeklagten Mitglied zumutbar ist, wenn es sich selbst grob
gemeinschaftswidrig verhält.

2.3.1 Die vor der Stockwerkeigentumsnovelle vom 19. Dezember 1963 geltende
Regelung des Miteigentums kannte den Ausschluss eines missliebigen Mitgliedes
der Gemeinschaft der Miteigentümer nicht. Diejenigen Miteigentümer, die sich
infolge eines unverträglichen Gemeinschaftsmitgliedes zum Verkauf ihres Anteils
gezwungen sahen, mussten unter Umständen mit Nachteilen rechnen, zumal sich das
ungebührliche Verhalten eines Mitgliedes nachteilig auf den zu erwartenden
Verkaufserlös auswirken oder den Verkauf sogar verunmöglichen konnte
(HANS-PETER FRIEDRICH, Die Wiedereinführung des Stockwerkeigentums in der
Schweiz, ZSR 75/1956 II S. 241a). Mit der Einfügung von Art. 649b ZGB in das
schweizerische Zivilgesetzbuch wurde nach dem Vorbild namentlich des deutschen
Wohneigentumsgesetzes (§ 18 ff. WEG/D) die bis anhin fehlende Möglichkeit
geschaffen, beim Gericht auf Ausschluss eines renitenten Mitgliedes der
Stockwerkeigentümergemeinschaft zu klagen (Botschaft des Bundesrates vom 7.
Dezember 1962 an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über
die Abänderung des vierten Teils des Zivilgesetzbuches [Miteigentum und
Stockwerkeigentum], BBl 1962 II 1510). Die mit dieser Bestimmung eingeführte
Ausschlussmöglichkeit schützt indes nur den
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Miteigentümer, der sich an die sich aus dem Gemeinschaftsverhältnis ergebenden
rechtlichen und moralischen Regeln hält (vgl. PETER LIVER, Das Miteigentum als
Grundlage des Stockwerkeigentums, in: Gedächtnisschrift Ludwig Marxer,
Sonderdruck, S. 39; BRUNNER/WICHTERMANN, a.a.O., N. 3 zu Art. 649b ZGB). Die
Bestimmung wird den Interessen der sich korrekt verhaltenden Mitgliedern der
Gemeinschaft gerecht, indem sie ihnen einen wirkungsvollen Schutz gegenüber dem
sich gemeinschaftswidrig benehmenden Mitglied bietet (RETO STRITTMATTER,
Ausschluss aus Rechtsgemeinschaften, 2002, S. 27). Der Ausschluss aus der
Stockwerkeigentümergemeinschaft, der von der Lehre etwa als eine Art
privatrechtliche Enteignung qualifiziert wird (z.B. HANS-PETER FRIEDRICH, Das
Stockwerkeigentum, Reglement für die Stockwerkeigentümer, 2. Aufl. 1972, § 51
S. 195 Rz. 1), stellt einen schweren Eingriff in die Rechte des betroffenen
Mitgliedes dar. Dieser wird damit gerechtfertigt, dass die Interessen der sich
korrekt verhaltenden Mitglieder höher einzustufen sind als jene der sich
gemeinschaftswidrig verhaltenden (zum Ganzen: STRITTMATTER, a.a.O., S. 27 und
28). Art. 649b ZGB enthält eine lex specialis i.S. des wichtigen Grundes (vgl.
BÄRMANN/PICK, Wohneigentumsgesetz, Kommentar, 18. Aufl. 2007, N. 3 zu § 18 WEG/
D). Er nimmt einen Gedanken auf, wie er sich auch in Dauerschuldverhältnissen -
wie zum Beispiel der Miete - wiederfindet (zum Verweis auf andere
Dauerschuldverhältnisse; WOLFGANG LÜKE, Wohneigentumsgesetz, Kommentar, 8.
Aufl. 1995, N. 2 zu § 18 WEG/D). So sieht etwa Art. 266g Abs. 1 OR vor, dass
die Parteien das Mietverhältnis aus wichtigen Gründen, welche die
Vertragserfüllung für sie unzumutbar machen, mit der gesetzlichen Frist auf
einen beliebigen Zeitpunkt kündigen können. Mit Bezug auf die Unzumutbarkeit
wird hier von einem wesentlichen Teil der Literatur die Auffassung vertreten,
dass solche Gründe nicht zur Auflösung des Mietverhältnisses führen können, die
der Kündigende massgeblich (mit-)verschuldet hat (ROGER WEBER, in: Basler
Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 5 zu Art. 266g OR S.
1464 mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen).
Im Lichte des mit Art. 649b ZGB verfolgten Zwecks, der Ausführungen in der
Literatur und des Vergleichs mit der Bestimmung des Mietrechts ist die
Auffassung des Obergerichts mit dem Bundesrecht vereinbar, die Fortführung der
Gemeinschaft mit einem sich renitent verhaltenden Mitglied sei für denjenigen
zumutbar, der sich selbst in grober Weise gemeinschaftswidrig verhält. Es wäre
- wie
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das Obergericht zu Recht feststellt - in der Tat unbillig, den Ausschluss eines
Mitgliedes anzuordnen, wenn sich auch das klagende Mitglied grob
gemeinschaftswidrig verhält und für die eingetretene Situation
mitverantwortlich ist. Anders entscheiden bedeutete im Ergebnis, die Interessen
eines sich grob gemeinschaftswidrig verhaltenden Mitgliedes höher einzuschätzen
und zu schützen, was dem Zweck der Bestimmung zuwiderliefe. Dem
Beschwerdeführer ist unter diesen Umständen zuzumuten, das
Gemeinschaftsverhältnis mit der Beschwerdegegnerin fortzusetzen oder aber
seinen Anteil zu veräussern.

2.3.2 Das Obergericht hat eine schwere Mitverantwortung des Beschwerdeführers
angenommen und zur Begründung namentlich auf dessen Verurteilung wegen
mehrfacher übler Nachrede zulasten der Beschwerdegegnerin (Strafbefehl vom 11.
September 2008) verwiesen. Erwähnt wird ferner ein Entscheid des
Amtsstatthalteramtes vom 19. Juli 2000 betreffend Verurteilung des
Beschwerdeführers wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung, weil er der
im Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern vom 9. August 1999 enthaltenen
Verpflichtung, das Stockwerkeigentümerreglement in einem bestimmten Umfang
abzuändern, nicht nachgekommen war. Hingewiesen wird sodann auf einen Entscheid
vom 11. Januar 1993, mit welchem das Amtsstatthalteramt Luzern ein vom
Beschwerdeführer gegen die Beschwerdegegnerin und deren Ehemann angehobenes
Strafverfahren eingestellt hat. Aufgeführt werden des Weiteren die vom
Beschwerdeführer im Jahr 1999 veranlasste Sperrung des Telefonanschlusses des
Ehemannes der Beschwerdegegnerin, das Urteil des Einzelrichters am
Kantonsgericht Nidwalden vom 15. September 2009, mit dem eine Genugtuungsklage
aus Ehrverletzung der Beschwerdegegnerin und deren Anwalts gegen den
Beschwerdeführer gutgeheissen wurde, schliesslich eine Verurteilung des
Beschwerdeführers vom 12. November 2010 wegen mehrfacher Verleumdung (Art. 174
Ziff. 1 StGB), namentlich begangen zum Nachteil der Beschwerdegegnerin. Der
Beschwerdeführer behauptet einfach, er habe sich nicht in grober Weise
gemeinschaftswidrig verhalten. Er setzt sich aber mit dem wiedergegebenen Teil
der Begründung nicht rechtsgenüglich auseinander und stellt insbesondere die
aufgeführten tatsächlichen Begebenheiten nicht rechtsgenüglich infrage, sodass
sich Weiterungen dazu erübrigen. Angesichts der auch in jüngster Vergangenheit
ausgetragenen Gerichtsverfahren, die alle zum Nachteil des Beschwerdeführers
ausgegangen sind,
BGE 137 III 534 S. 539
durfte das Obergericht ohne Verletzung seines Ermessenspielraums (ARTHUR
MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, 1966, N. 73 zu Art. 4 ZGB; BGE 132 III 49 E. 2.1
S. 51; BGE 130 III 571 E. 4.3 S. 576; je mit Hinweisen) annehmen, der
Beschwerdeführer habe sich entgegen seinen Behauptungen selbst grob
gemeinschaftswidrig verhalten und habe dadurch die Klageverfahren provoziert,
und es könne der Beschwerdegegnerin somit nicht vorgeworfen werden, sie habe
böswillig gegen die Stockwerkeigentümergemeinschaft geklagt.

2.4 Nach dem Gesagten hat das Obergericht mit der Abweisung der Klage wegen
grob gemeinschaftswidrigen Verhaltens des Beschwerdeführers kein Bundesrecht
verletzt.