Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 V 376



Urteilskopf

136 V 376

44. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. T. gegen
IV-Stelle Luzern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_400/2010 vom 9. September 2010

Regeste

Art. 29 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 43 Abs. 1 und
Art. 61 lit. c ATSG; Art. 59 Abs. 3 IVG; Art. 72bis IVV; zur Beweistauglichkeit
von Administrativgutachten der Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) unter
den Aspekten der Unabhängigkeit sowie der Verfahrensfairness und
Waffengleichheit.
Aus der formellen Parteieigenschaft der Durchführungsstelle der
Invalidenversicherung im gerichtlichen Prozess bzw. aus deren Legitimation zur
Erhebung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten darf nicht
gefolgert werden, die Beweiserhebungen der Verwaltung im vorausgehenden
nichtstreitigen Verfahren seien Parteihandlungen (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 376

BGE 136 V 376 S. 376

A. T. (geb. 1978) arbeitete, ohne zuvor eine Berufslehre absolviert zu haben,
in der Verpackungsindustrie und zuletzt als hauswirtschaftliche Kraft im
Zentrum X. in S. Schon seit längerer Zeit wegen Rückenbeschwerden in ärztlicher
Behandlung, erlitt sie am 25. Juni 2005 als Beifahrerin einen Autounfall, bei
welchem sie sich eine Wirbelkörperberstungsfraktur im thorakolumbalen
Übergangsbereich zuzog. Auf Anmeldung zum Leistungsbezug vom
BGE 136 V 376 S. 377
19. Oktober 2006 hin klärte die IV-Stelle des Kantons Luzern (nachfolgend:
IV-Stelle Luzern) die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse sowie die
beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten ab; namentlich liess sie die
Versicherte im Institut Y. untersuchen. Gestützt auf die Expertise des
Instituts Y. vom 7. April 2008 lehnte die genannte IV-Stelle, nach Durchführung
des Vorbescheidverfahrens, den Rentenanspruch bei einem Invaliditätsgrad von 25
Prozent ab (Verfügung vom 19. Januar 2009).

B. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern nach Durchführung eines einfachen Schriftenwechsels und einer
öffentlichen Gerichtsverhandlung ab (Entscheid vom 18. März 2010).

C. Die Versicherte lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen mit dem Rechtsbegehren, die Sache sei, unter Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides, an die IV-Stelle Luzern zur weiteren Abklärung im Sinne
der Erwägungen zurückzuweisen (...).
Während kantonales Gericht und IV-Stelle Luzern auf Abweisung der Beschwerde
schliessen, hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) von einer
Vernehmlassung abgesehen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

4.

4.1

4.1.1 Nach Art. 43 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) prüft der Versicherungsträger die
Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die
erforderlichen Auskünfte ein (Satz 1). Das Gesetz weist somit dem
Durchführungsorgan die Aufgabe zu, den rechtserheblichen Sachverhalt nach dem
Untersuchungsgrundsatz abzuklären, und zwar richtig und vollständig, so dass
gestützt darauf die Verfügung über die jeweils in Frage stehende Leistung
ergehen kann (Art. 49 ATSG). Auf dem Gebiet der Invalidenversicherung obliegen
diese Pflichten der (örtlich zuständigen) Invalidenversicherungsstelle
(nachfolgend: IV-Stelle; Art. 54-56 in Verbindung mit Art. 57 Abs. 1 lit. c-g
IVG). Was den für die Invaliditätsbemessung (Art. 16 ATSG und Art. 28 ff. IVG)
erforderlichen medizinischen Sachverstand angeht, kann die IV-Stelle sich
hierfür - nebst dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; Art. 59 Abs. 2 und 2^bis
IVG),
BGE 136 V 376 S. 378
den Berichten der behandelnden Ärztinnen und Ärzte (Art. 28 Abs. 3 ATSG) und
den externen medizinischen Sachverständigen (Art. 59 Abs. 3 IVG) - auf die
medizinischen Abklärungsstellen (nachfolgend: MEDAS) stützen (Art. 59 Abs. 3
IVG). Laut Art. 72^bis IVV (SR 831.201) trifft das BSV mit Spitälern oder
anderen geeigneten Stellen Vereinbarungen über die Errichtung von medizinischen
Abklärungsstellen, welche die zur Beurteilung von Leistungsansprüchen
erforderlichen ärztlichen Untersuchungen vornehmen (Satz 1); es regelt
Organisation und Aufgaben dieser Stellen und die Kostenvergütung (Satz 2).

4.1.2 Nach ständiger Rechtsprechung handelt die IV-Stelle nicht als Partei,
sondern als zur Neutralität und Objektivität verpflichtetes Organ des
Gesetzesvollzuges, solange in der Sache kein Beschwerdeverfahren angehoben ist
(BGE 114 V 228 E. 5a S. 234; BGE 104 V 209 E. 1c S. 211; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 551/86 vom 25. Mai 1987 E. 1b, nicht publ. in: BGE 113
V 159; so zuletzt bestätigt im Urteil 8C_845/2008 vom 4. März 2009 E. 3.1).
Nach Eintritt der Rechtshängigkeit wird die Verwaltung zwar im prozessualen
Sinne zur Partei; sie ist lite pendente indessen weiterhin der Objektivität
verpflichtet und hat daher nicht auch im materiellen Sinn Parteieigenschaft.
Auf dieser Rechtslage beruht auch die Judikatur über die Beweiskraft
versicherungsmedizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351; BGE 122 V 157
). Bei formell einwandfreien und materiell schlüssigen (das heisst
beweistauglichen und beweiskräftigen) medizinischen Entscheidungsgrundlagen des
Versicherungsträgers (Administrativgutachten) besteht daher nach der - kürzlich
bestätigten - Rechtsprechung kein Anspruch auf eine gerichtliche Expertise (BGE
135 V 465 E. 4 S. 467).

4.2 Unter Bezugnahme auf das von Prof. Dr. iur. JÖRG PAUL MÜLLER und Dr. iur.
JOHANNES REICH verfasste "Rechtsgutachten zur Vereinbarkeit der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur medizinischen Begutachtung durch
Medizinische Abklärungsstellen betreffend Ansprüche auf Leistungen der
Invalidenversicherung mit Art. 6 der Konvention vom 4. November 1950 zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" vom 11. Februar 2010 (im
Folgenden: Rechtsgutachten) erhebt die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 6
Ziff. 1 EMRK verschiedene (nicht spezifisch auf ihren Fall bezogene) Rügen
formellrechtlicher Art (fehlende Unabhängigkeit der MEDAS von der
Invalidenversicherung, Verletzung des Fairnessgrundsatzes, Verstoss gegen das
rechtliche Gehör).
BGE 136 V 376 S. 379

4.2.1 Nach der Rechtsauffassung, wie sie in der gesetzlichen Ordnung über die
Amtsermittlungspflicht des Sozialversicherungsträgers zum Ausdruck kommt, wird
Beweis über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche schwergewichtig auf der
Stufe des Administrativverfahrens geführt, nicht im gerichtlichen Prozess.
Hierin liegt eine Grundentscheidung des Gesetzgebers, deren Abänderung im
formellen Gesetz vollzogen werden müsste (vgl. Art. 164 Abs. 1 lit. e-g BV). An
der Ordnung schweizerischen Zuschnitts des sozialversicherungsrechtlichen
Abklärungsverfahrens hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
bislang nicht Anstoss genommen (vgl. den Nichtzulassungsentscheid Bicer gegen
Schweiz vom 22. Juni 1999, in: VPB 2000 Nr. 138 S. 1341, betreffend BGE 122 V
157), ebenso wenig an der Rechtsprechung, die ein abschliessendes Abstellen auf
MEDAS-Gutachten erlaubt (Nichtzulassungsentscheid der Europäischen
Menschenrechtskommission [EKMR, bis 1998] Baumgartner gegen Schweiz vom 20.
April 1998, in: VPB 1998 Nr. 95 S. 917, betreffend BGE 123 V 175; vgl. auch AHI
1997 S. 120, I 41/95).

4.2.2 Die Rechtsgutachter gelangen zum Ergebnis, die gegenwärtige Ausgestaltung
des Verfahrens zur Beurteilung von IV-Leistungsansprüchen genüge im Hinblick
auf das grosse Gewicht der von den MEDAS erstellten Gutachten - jedenfalls ohne
genügende kompensatorische Behelfe - dem in Art. 6 EMRK verankerten Recht auf
ein faires Verfahren nicht. Nach ihrer Auffassung werden die IV-Stellen
aufgrund von deren Beschwerdelegitimation im bundesgerichtlichen Verfahren
(Art. 62 Abs. 1^bis ATSG und Art. 89 IVV in Verbindung mit Art. 201 Abs. 1 Satz
1 AHVV [SR 831.101]) zurPartei; die beigezogenen MEDAS-Administrativgutachten
seien folglich als Beweismittel einer Partei zu betrachten. Damit hafte dem
gesamten Abklärungsverfahren der Anschein der Einseitigkeit an, was die
konventionsrechtlich geforderte Fairness und Waffengleichheit in Frage stelle.
Zu bedenken ist indessen, dass die Verwaltung aufgrund von Art. 89 Abs. 2 lit.
a BGG immer dann zur Beschwerde berechtigt ist, wenn der angefochtene Akt die
Bundesgesetzgebung in ihrem Aufgabenbereich verletzen kann. Daraus ist
offenkundig nicht abzuleiten, jede - meist vorgängige - Sachverhaltsabklärung
im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren durch die betreffende
Verwaltungseinheit sei Parteihandeln und das gerichtliche Abstellen darauf
EMRK-widrig. Der rechtsgutachterlichen Schlussfolgerung liegt nicht die
dargelegte
BGE 136 V 376 S. 380
rechtliche Konzeption zugrunde, wonach das Durchführungsorgan der
Sozialversicherung als Behörde auch nach dem Übergang zum
Anfechtungsstreitverfahren - trotz seiner formellen Parteistellung - an die
rechtsstaatlichen Grundsätze (Art. 5 BV) gebundenes Verwaltungsorgan bleibt,
welches zur Neutralität und Objektivität verpflichtet ist (vgl. nebst den in E.
4.1.2 zitierten Urteilen BGE 105 V 186 E. 1 S. 188; ISABELLE HÄNER, Die
Beteiligten im Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 2000, S. 157 Rz.
281 ff., S. 200 Rz. 388 ff. und S. 201 Rz. 391 ff.; STÉPHANE BLANC, La
procédure administrative en assurance-invalidité, 1999, S. 11 ff. und 121 f.;
FRANZ SCHLAURI, Grundstrukturen des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens in
der Sozialversicherung, in: Verfahrensfragen in der Sozialversicherung,
Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], 1996, S. 26 f.; MARANTELLI-SONANINI/HUBER,
Praxiskommentar zum VwVG, 2009, N. 53 zu Art. 6 VwVG; MERKLI/AESCHLIMANN/
HERZOG, Kommentar zum Gesetz vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege
des Kantons Bern [VRPG], N. 5 und 26 zu Art. 12 VRPG; ANDRÉ GRISEL, Traité de
droit administratif, Bd. II, 1984, S. 838 f.). Im Hinblick auf diese
verfassungsrechtliche Lage darf aus der formellen Parteieigenschaft der
Durchführungsstelle im gerichtlichen Prozess bzw. der Legitimation zur Erhebung
von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht gefolgert
werden, auch die Beweiserhebungen der IV-Stelle im (vorausgehenden)
nichtstreitigen Verfahren bis zum Verfügungserlass seien Handlungen einer
(formellen) Partei. Denn das Verfügungsverfahren zählt nicht zur
Verwaltungsrechtspflege im Sinne des Anfechtungsstreitverfahrens, das heisst
des Beschwerdeverfahrens (FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl.
1983, S. 14, 16 und 169; RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und
Justizverfassungsrecht des Bundes, 1996, S. 7 Rz. 25, S. 8 Rz. 31 und S. 144
Rz. 748). Was vor der IV-Stelle stattfindet, ist ein Einparteienverfahren mit
dem/der Leistungsgesuchssteller/in als Partei und der IV-Stelle als Behörde,
welche nach den Grundsätzen des Amtsbetriebes die Herrschaft über das Verfahren
innehat (SVR 2007 IV Nr. 22 S. 77, I 478/04 E. 2.2.4.3; PETER SALADIN, Das
Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, 1979, S. 87 Ziff. 11.22, S. 113 ff. und
119 ff.; HÄNER, a.a.O., S. 147 Rz. 263; BENOÎT BOVAY, Procédure administrative,
2000, S. 87; BLAISE KNAPP, Précis de droit administratif, 4. Aufl. 1991, S. 217
Ziff. 953; PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. II, 1991, S. 126 f.; zur Frage
der Rechtsanwendung von Amtes wegen und des Amtsbetriebs statt
BGE 136 V 376 S. 381
vieler: KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des
Bundes, 2. Aufl. 1998, S. 39 Rz. 112 ff. und S. 41 Rz. 117 f.;URS MÜLLER, Das
Verwaltungsverfahren in der Invalidenversicherung, 2010, S. 163 Rz. 911 ff. und
S. 58 Rz. 292 ff.). Im Übrigen trifft die Verwaltung in vielen anderen Zweigen
der öffentlichen Verwaltung ebenfalls eingehende Sachverhaltsabklärungen (vgl.
beispielsweise Art. 26 ff. des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1995 überKartelle
und andere Wettbewerbsbeschränkungen [Kartellgesetz, KG; SR 251], Art. 5 des
Bundesgesetzes vom 1. Juli 1966 über den Natur- und Heimatschutz [NHG; SR 451],
Art. 22 des Kernenergiehaftpflichtgesetzes vom 18. März 1983 [KHG; SR 732.44],
Art. 10a des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz
[Umweltschutzgesetz, USG; SR 814.01], Art. 8 des Preisüberwachungsgesetzes vom
20. Dezember 1985 [PüG; SR 942.20] oder Art. 24 ff. des Bundesgesetzes vom 22.
Juni 2007 über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht
[Finanzmarktaufsichtsgesetz, FINMAG; SR 956.1]).

4.2.3 Hinsichtlich der Fragen, wie es sich mit der im Rechtsgutachten
konstatierten wirtschaftlichen Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen
verhält und ob, wie ebenda gefordert, verfahrensmässige Korrektive angezeigt
sind, gibt der vorliegende Fall zu keinen Weiterungen Anlass. Immerhin ist
darauf hinzuweisen, dass den kantonalen Gerichten die Kompetenz zur vollen
Tatsachenprüfung zufällt (Art. 61 lit. c ATSG), die sie nötigenfalls durch
Einholung gerichtlicher Expertisen auszuschöpfen haben.