Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 V 362



Urteilskopf

136 V 362

42. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle
des Kantons Zürich gegen B. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_55/2010 vom 8. Oktober 2010

Regeste

Art. 99 Abs. 1 und 2 BGG; Art. 21 ATSG; Eintreten auf den vor Bundesgericht neu
gestellten Antrag der Rentenkürzung.
Der erstmals in der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
gestellte Antrag der Durchführungsstelle auf Kürzung der Invalidenrente
gestützt auf Art. 21 Abs. 1 ATSG (wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand) ist
zulässig, auch wenn die Kürzung weder Gegenstand der Verwaltungsverfügung noch
des vorinstanzlichen Entscheides war. Streitgegenstand ist die Rente, deren
betragliche Kürzung ein Teilaspekt. Als solcher bildet die Kürzung ein neues
rechtliches Argument im Rahmen des Streitgegenstandes (E. 3.4.4), welches
jedenfalls dann zulässig ist, wenn sich der Antrag auf Rentenkürzung auf
aktenkundige Tatsachen stützt (E. 4.1).

Sachverhalt ab Seite 363

BGE 136 V 362 S. 363

A. Die 1951 geborene B. erlitt am 1. August 2003 einen Verkehrsunfall. Am 25.
Juni 2004 meldete sie sich wegen der Unfallfolgen ("Rückenprobleme, Brustkorb
und Halswirbel") bei der IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle)
zum Rentenbezug an. Gestützt auf einen Bericht des Universitätsspitals X. vom
7. August 2004 verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 5. Januar 2005 den
Anspruch auf eine Invalidenrente (Invaliditätsgrad 20 %). B. erhob dagegen
Einsprache, worin sie geltend machte, nicht nur an physischen, sondern auch an
psychischen Unfallfolgen zu leiden. Im Rahmen des Einspracheverfahrens liess
die Invalidenversicherung die Versicherte durch das Institut Y. polydisziplinär
begutachten. Gestützt auf das Gutachten vom 20. März 2006 hiess die IV-Stelle
mit Einspracheentscheid und Verfügungen vom 25. Oktober 2007 die Einsprache
teilweise gut und sprach der Versicherten eine ganze Invalidenrente von August
2004 bis September 2005, eine
BGE 136 V 362 S. 364
Dreiviertelsrente von Oktober 2005 bis Mai 2006 und eine halbe Rente ab Juni
2006 zu.

B. B. erhob dagegen Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich. Dieses hiess mit Urteil vom 23. November 2009 die Beschwerde gut und
sprach der Versicherten auch nach dem 30. September 2005 eine ganze Rente zu.

C. Die IV-Stelle erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag, das Urteil des Sozialversicherungsgerichts sei aufzuheben und
die auszurichtenden Rentenleistungen seien um 30 % zu kürzen. B. beantragt
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat
keine Vernehmlassung eingereicht.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Zu beurteilen bleibt der Antrag der Beschwerdeführerin, die Rente sei um 30
% zu kürzen. Sie begründet dieses Begehren damit, dass die Beschwerdegegnerin
den Unfall, der zur Invalidität führte, selber in alkoholisiertem Zustand
verursacht hatte und deshalb wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand bestraft
worden sei. Dies rechtfertige gemäss Art. 21 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) eine
Kürzung der Rente. Die Beschwerdegegnerin bringt vor, dieser Antrag beruhe auf
unzulässigen neuen Tatsachen und stelle ein unzulässiges neues Begehren dar.

3.2 Im Verfahren vor Bundesgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur
soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Neue Begehren sind unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG).

3.3

3.3.1 Neue Tatsachen und Beweismittel im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG sind
Tatsachen, die weder im vorangegangenen Verfahren vorgebracht noch von der
Vorinstanz festgestellt worden sind (BERNARD CORBOZ, in: Commentaire de la LTF,
2009, N. 13 zu Art. 99 BGG). Eine Tatsache, die sich aus den vorinstanzlichen
Akten ergibt, ist nicht neu (ULRICH MEYER, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 20 zu Art. 99 BGG). Das gilt auch dann, wenn die
Vorinstanz diese Tatsache in ihrem Entscheid nicht
BGE 136 V 362 S. 365
ausdrücklich festgestellt hat, wäre doch sonst von vornherein die Rüge
unzulässig, die Vorinstanz habe den Sachverhalt unter Missachtung vorhandener
Akten festgestellt (siehe auch e contrario BGE 135 V 194 E. 3.1 S. 196, wo ein
Vorbringen als unzulässiges Novum betrachtet wurde, weil es sich auf einen
Bericht stützte, der sich nicht in den Akten befand).

3.3.2 In diesem Sinne ist die sachverhaltliche Grundlage für den Antrag der
Beschwerdeführerin nicht ein unzulässiges Novum: Die Polizei- und Strafakten
über den Unfall befinden sich in den IV-Akten und die Beschwerdeführerin hat
bereits in ihrem Feststellungsblatt vom 4. Januar 2005 festgehalten, dass die
Beschwerdegegnerin den Unfall selber in angetrunkenem Zustand verursacht hatte.

3.4 Fraglich ist demgegenüber, ob ein unzulässiges neues Begehren im Sinne von
Art. 99 Abs. 2 BGG vorliegt.

3.4.1 Weder in ihrer Verfügung noch in ihrem Einspracheentscheid hat die
Beschwerdeführerin eine auf Art. 21 Abs. 1 ATSG gestützte Rentenkürzung
angeordnet. Auch im Verfahren vor der Vorinstanz hat sie keine solche Kürzung
geltend gemacht. Erst in ihrer Beschwerde vor Bundesgericht beantragt sie die
Kürzung, unter Hinweis auf die von der heutigen Beschwerdegegnerin am Schluss
des vorinstanzlichen Verfahrens eingereichte Verfügung des Unfallversicherers,
der eine analoge Kürzung vorgenommen hatte.

3.4.2 Die Neuheit eines Begehrens bezieht sich auf den Streitgegenstand: Dieser
kann vor Bundesgericht nur noch eingeschränkt (minus), aber nicht ausgeweitet
(plus) oder geändert (aliud) werden (MEYER, a.a.O., N. 60-62 zu Art. 99 BGG;
CORBOZ, a.a.O., N. 32 f. zu Art. 99 BGG; YVES DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal
fédéral, 2008, N. 4069 zu Art. 99 BGG).

3.4.3 Der vorinstanzlich beurteilte Streitgegenstand bestimmt sich durch das
Dispositiv des angefochtenen Entscheids (MEYER, a.a.O., N. 58 zu Art. 99 BGG).
Einzelne Teilaspekte stellen nur die Begründung dar (MEYER/VON ZWEHL, L'objet
du litige en procédure de droit administratif fédéral, in: Mélanges Pierre
Moor, 2005, S. 435 ff., 441 f.).

3.4.4 Bei Zusprache einer Rente ist Streitgegenstand die Versicherungsleistung
als solche, d.h. der monatliche Rentenbetrag (MEYER/VON ZWEHL, a.a.O., S. 442),
nicht aber sind es die einzelnen Teilaspekte, welche die Leistung bestimmen (
BGE 125 V 413 E. 2b
BGE 136 V 362 S. 366
S. 416). Solche Teilaspekte können daher auch vor Bundesgericht noch neu
vorgebracht werden (Urteil 9C_115/2008 vom 23. Juli 2008 E. 6.2). Auch wenn die
Rente gekürzt wird, ist Streitgegenstand die gekürzte Rente, nicht die Kürzung
für sich allein (BGE 125 V 413 E. 2b S. 416 in Präzisierung von BGE 122 V 351
E. 4b S. 356). Deshalb kann vor Bundesgericht noch die Kürzung in Frage
gestellt werden, selbst wenn sie im vorangegangenen Verfahren nie beanstandet
wurde (BGE 122 V 351 E. 4b S. 356; vgl. auch Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 301/85 vom 20. Juni 1986 E. 1, nicht publ. in: BGE 112
V 174). Demzufolge muss umgekehrt auch die Kürzung neu ins Spiel gebracht
werden können, selbst wenn sie bisher nicht thematisiert worden ist. Sie ändert
nicht den Streitgegenstand, sondern ist ein rechtliches Argument im Rahmen
desselben.

4.

4.1 Neue rechtliche Begründungen sind vor Bundesgericht im Rahmen des
Streitgegenstands zulässig (Art. 95 lit. a und Art. 106 Abs. 1 BGG; CORBOZ,
a.a.O., N. 43 zu Art. 99 BGG; MEYER, a.a.O., N. 23 und 27 zu Art. 99 BGG, N. 2
f. sowie 11 f. zu Art. 106 BGG; SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH,
Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 4 und 6 zu Art. 106 BGG; Urteil 8C_1080/2009 vom
19. März 2010 E. 3). Da das Bundesgericht seinem Urteil den von der Vorinstanz
festgestellten Sachverhalt zugrunde legt (Art. 105 Abs. 1 BGG), wird die
Zulässigkeit neuer rechtlicher Argumentation grundsätzlich an die Voraussetzung
geknüpft, dass sie sich auf einen im angefochtenen Urteil festgestellten
Sachverhalt stützt (vgl. Urteil 4A_28/2007 vom 30. Mai 2007 E. 1.3, nicht publ.
in: BGE 133 III 421; BGE 130 III 28 E. 4.4 S. 34; BGE 129 III 135 E. 2.3.1 S.
144; CORBOZ, a.a.O., N. 42 zu Art. 99 BGG). Das Bundesgericht kann aber als
Ausnahme von der Bindung an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt auch
selber eine Sachverhaltsfeststellung ergänzen (Art. 105 Abs. 2 BGG), dies
namentlich dann, wenn die Vorinstanz einen Sachverhalt mangels Relevanz gar
nicht zu beurteilen hatte, dieser aber infolge einer anderen rechtlichen
Betrachtung des Bundesgerichts rechtserheblich wird (vgl. Urteile 8C_1080/2009
vom 19. März 2010 E. 3; 9C_330/2009 vom 19. Juni 2009 E. 4; 9C_145/2008 vom 24.
Juni 2008 E. 3.2; MEYER, a.a.O., N. 14 zu Art. 106 BGG). Unzulässig ist dies
nur, wenn dazu neue Tatsachen im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG festgestellt
werden müssten (so der von MEYER, a.a.O., N. 27 zu Art. 99 BGG zitierte BGE 114
Ib 27 E. 8b S. 32). Hingegen kann
BGE 136 V 362 S. 367
eine neue rechtliche Begründung jedenfalls dann erfolgen, wenn sie sich auf
aktenkundige Tatsachen stützt.

4.2 Die Neuheit eines Begehrens bemisst sich im Verhältnis zu den
vorinstanzlich gestellten Begehren (Urteil 9C_476/2009 vom 7. Dezember 2009 E.
1.2, in: SVR 2010 IV Nr. 33 S. 105; CORBOZ, a.a.O., N. 30-32 zu Art. 99 BGG;
MEYER, a.a.O., N. 59 zu Art. 99 BGG). Die Beschwerdeführerin hatte vor der
Vorinstanz beantragt, die Beschwerde abzuweisen, d.h. den Einspracheentscheid
vom 25. Oktober 2007 zu bestätigen. Darin bzw. in den angehefteten neuen
Rentenverfügungen, welche integrierenden Bestandteil des Einspracheentscheids
bildeten, wurden die monatlichen Rentenbeträge von Fr. 1'985.- (ab 1. August
2004), Fr. 2'032.- (ab 1. Januar 2005), Fr. 1'518.- (ab 1. Oktober 2005 bis 31.
Mai 2006), Fr. 1'012.- (ab 1. Juni 2006 bis 31. Dezember 2006) und Fr. 1'040.-
(ab 1. Januar 2007) festgelegt. Die Bestätigung dieser Rentenbeträge bildete
das von der Beschwerdeführerin vor der Vorinstanz gestellte Rechtsbegehren.
Wenn sie vor Bundesgericht eine auf Art. 21 Abs. 1 ATSG gestützte Rentenkürzung
beantragt, so liegt darin keine Veränderung des Streitgegenstands und kein
unzulässiges neues Begehren, sondern eine andere rechtliche Begründung für das
vorinstanzlich gestellte Begehren (BGE 136 V 268 E. 4.5 S. 277). Da die
Beschwerdeführerin aber nicht vor Bundesgericht weniger beantragen kann als
das, was sie selber zugesprochen hat (erwähntes Urteil 9C_476/2009 E. 1.2),
dürfen die Rentenbeträge nicht tiefer ausfallen als die mit dem
Einspracheentscheid festgesetzten. In diesem Rahmen ist der auf aktenkundige
Tatsachen gestützte Antrag der Beschwerdeführerin, die Rente sei zu kürzen,
zulässig.

4.3 Zieht das Bundesgericht ein vom vorinstanzlichen Streitgegenstand
erfasstes, jedoch im kantonalen Verfahren nicht beurteiltes Teilelement des
streitigen Rechtsverhältnisses aufgrund der Rechtsmittelbegehren in die
materielle Beurteilung mit ein, so hat es das Anhörungsrecht der von einer
möglichen Schlechterstellung bedrohten Partei zu beachten (BGE 125 V 413 E. 2c
S. 417; Urteil 9C_115/2008 vom 23. Juli 2008 E. 6.3, in: SZS 2008 S. 575).
Diese muss sich zu der neu aufgeworfenen Streitfrage äussern können (MEYER,
a.a.O., N. 13 zu Art. 106 BGG). Vorliegend hatte die Beschwerdegegnerin in
ihrer Beschwerdevernehmlassung Gelegenheit, sich zur neuen rechtlichen
Begründung zu äussern.