Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 V 346



Urteilskopf

136 V 346

40. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Stadt X.
gegen M. und Gemeinde Y. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_79/2010 vom 24. September 2010

Regeste

Art. 89 Abs. 1 BGG; Art. 4, 5 und 9 ZUG; Art. 5 und 6 Unterstützungsgesetz des
Kantons Graubünden; innerkantonaler Unterstützungswohnsitz.
Eine Gemeinde ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
legitimiert gegen einen Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts, der in
Anwendung des kantonalen Unterstützungsgesetzes ihre Zuständigkeit zur
Unterstützung eines Bedürftigen bejaht (E. 3.3).

Sachverhalt ab Seite 346

BGE 136 V 346 S. 346

A. Der 1978 geborene M. meldete sich im Januar 2002 in der Gemeinde Y. (GR) an,
nachdem er seinen Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik abgebrochen und sich
in der Stadt A. abgemeldet hatte. Seit dem 3. Februar 2002 hielt er sich mit
Unterbrüchen in verschiedenen Stationen der Psychiatrischen Dienste auf. Die
Amtsvormundschaft, welche mit Beschluss vom 14. Juni 2004 für M. eine
BGE 136 V 346 S. 347
kombinierte Beiratschaft errichtet hatte, meldete diesen am 12. Oktober 2004 in
der Gemeinde X. an. Diese stellte am 9. November 2004 den
Schriftenempfangsschein aus und bescheinigte am 19. April 2007 den gesetzlichen
Wohnsitz in X. seit dem Zuzug von Y. am 11. Oktober 2004. Seit Juni 2008 lebt
M. im Rahmen eines begleiteten Wohnens in einem Wohnheim der Stadt Z. Mit
Schreiben vom 6. Februar 2009 ersuchte sein Beirat die Stadt X. um Übernahme
von ausstehenden Rechnungen in Höhe von insgesamt rund Fr. 17'000.-. Diese trat
am 26. Februar 2009 auf das Gesuch mit der Begründung nicht ein, M. verzeichne
in der Gemeinde X. keinen Wohnsitz.

B. Dagegen erhob M. Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden.
Dieses hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 17. November 2009 gut und wies
die Stadt X. an, das Unterstützungsgesuch materiell zu behandeln.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Stadt X.
beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei zu erkennen, dass M.
nie in der Stadt X. Wohnsitz hatte.
Das Verwaltungsgericht und M. schliessen auf Abweisung der Beschwerde, soweit
darauf einzutreten ist. Denselben Antrag stellen auch die Stadt Z. und die
Gemeinde Y. als Beigeladene.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Unter der Herrschaft des bis Ende 2006 in Kraft gestandenen OG (BS 3 531)
war die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig, wenn sich der angefochtene
Entscheid nicht auf öffentliches Recht des Bundes, sondern auf kantonales Recht
stützte. Soweit es um Fragen der nach kantonalem Recht zu erbringenden
Unterstützungsleistungen ging, stand den Gemeinden als Rechtsmittel daher
einzig die staatsrechtliche Beschwerde zur Verfügung und zwar auch dann, wenn
der Unterstützungswohnsitz innerkantonal gestützt auf die analoge Anwendung des
Zuständigkeitsgesetzes begründet wurde (ZBl 98/1997 S. 414, 2P.240/1995 E. 1d;
Urteile 1P.481/1998 vom 11. März 1999 E. 1d; 2A.452/1996 vom 17. Juni 1997 E. 2
und 3). Soweit die Gemeinde durch den angefochtenen Entscheid als Schuldnerin
von Fürsorgeleistungen und somit als Trägerin hoheitlicher Gewalt betroffen
war, konnte sie sich auf ihre Autonomie berufen. Zur reinen Willkürbeschwerde
war sie indessen nicht legitimiert (ZBl 98/1997
BGE 136 V 346 S. 348
S. 414, 2P.240.1995 E. 1e; Urteile 1P.247/2002 vom 12. August 2002 E. 2; 1P.481
/1998 vom 11. März 1999 E. 3a; 2A.452/1996 vom 17. Juni 1997 E. 3b; 2P.424/1995
vom 23. Mai 1996 E. 3b).
Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG berechtigt Gemeinden und öffentlich-rechtliche
Körperschaften zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, wenn
sie die Verletzung von Garantien rügen, die ihnen die Kantons- oder
Bundesverfassung gewährt. Für das Eintreten ist allein entscheidend, dass die
Beschwerde führende Gemeinde durch einen Akt in ihrer Eigenschaft als Trägerin
hoheitlicher Gewalt berührt ist und eine Verletzung der Autonomie geltend macht
(Urteil 8C_650/2009 vom 21. Januar 2010 E. 1.2.1 und 6 zur Gemeindeautonomie im
Fürsorgebereich). Die Stadt X. rügt keine Verletzung ihrer Autonomie und legt
insbesondere nicht dar, inwiefern ihr das kantonale Recht im betroffenen
Sachbereich eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräume und weshalb
der angefochtene Entscheid ihren geschützten Autonomiebereich verletze. Eine
Beschwerdelegitimation unter diesem Titel besteht daher nicht.

3.2 Nach Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG sind Personen, Organisationen und Behörden
zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten befugt, wenn ihnen ein
Bundesgesetz dieses Recht einräumt. Gemäss dem unter dem Randtitel
"Streitigkeiten" stehenden Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Graubünden
vom 3. Dezember 1978 über die Unterstützung Bedürftiger (Kantonales
Unterstützungsgesetz; BR 546.250; nachfolgend: UG) entscheidet das
Verwaltungsgericht über Streitigkeiten, die sich aus der Anwendung des UG
ergeben. Nach Abs. 3 derselben Bestimmung gelten die Grundsätze des
Bundesgesetzes vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung
Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1) sinngemäss, soweit das UG
nicht selbst Vorschriften enthält. Seit der Aufhebung von Art. 34 Abs. 3 ZUG
durch Ziff. 119 Anhang Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG; SR 173.32) mit
Wirkung auf 1. Januar 2007 ist bundesrechtlich keine Beschwerdemöglichkeit ans
Bundesgericht mehr ausdrücklich vorgesehen. Es fehlt somit an einer
Beschwerdelegitimation gestützt auf Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG.

3.3

3.3.1 Die Stadt X. beruft sich auf die allgemeine Legitimationsklausel von Art.
89 Abs. 1 BGG, wonach zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
berechtigt ist, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine
Möglichkeit zur Teilnahme
BGE 136 V 346 S. 349
erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist
(lit. b) und überdies ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder
Änderung hat (lit. c).

3.3.2 Die allgemeine Beschwerdebefugnis ist auf Privatpersonen zugeschnitten;
sie bezweckt in erster Linie den Schutz des Bürgers und der Bürgerin gegen
fehlerhafte Verwaltungsakte und nicht den Schutz des Gemeinwesens. Das
Gemeinwesen kann sich dann darauf stützen, wenn es durch den angefochtenen
Entscheid gleich oder ähnlich wie eine Privatperson betroffen ist (BGE 136 II
274 E. 4.1 S. 278 mit Hinweisen).
In bestimmten Fällen kann das Gemeinwesen auch in hoheitlichen Interessen
derart berührt sein, dass die Rechtsprechung von einem schutzwürdigen Interesse
im Sinne von Art. 89 Abs. 1 BGG ausgeht (BGE 134 II 45 E. 2.2.1 S. 46 f.; zur
Heranziehung der früheren Praxis bei der Auslegung BGE 133 II 400 E. 2.4.1 S.
405 f.). Bei Eingriffen in spezifische eigene Sachanliegen wird die
Beschwerdebefugnis des Gemeinwesens etwa dann bejaht, wenn ein Hoheitsakt
wesentliche öffentliche Interessen in einem Politikbereich betrifft, der ihm
zur Regelung zugewiesen ist (BGE 135 II 12 E. 1.2 S. 15 f.). Bejaht wurde das
schutzwürdige Interesse sodann bei wichtigen vermögensrechtlichen Interessen
wie dem interkommunalen Finanzausgleich, der für den Handlungsspielraum einer
Gemeinde von zentraler Bedeutung ist (BGE 135 I 43 E. 1.3 S. 46 f.), bei
namhaften Subventionsbeträgen (BGE 122 II 382 E. 2b S. 383 f.), wenn das
Gemeinwesen in seiner Funktion als lohnzahlungspflichtiger öffentlicher
Arbeitgeber berührt ist (BGE 124 II 409 E. 1e S. 417 f.) oder wenn das
kantonale Recht der Gemeinde den gesamten Ertrag einer Spezialsteuer überlässt
und ihr besondere Kompetenzen bei deren Erhebung zuweist, wie es in einigen
Kantonen bei der Grundstückgewinnsteuer vorgesehen ist (Urteil 2P.204/2006 vom
21. Mai 2007 E. 6; vgl. im Übrigen die Beispielkataloge bei SEILER UND ANDERE,
Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 35 f. zu Art. 89 BGG; BERNHARD WALDMANN, in:
Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 43 f. zu Art. 89 BGG; ALAIN
WURZBURGER, in: Commentaire de la LTF, 2009, N. 40 ff. zu Art. 89 BGG).
Generell gilt jedoch, dass Gemeinwesen, wenn sie die Durchsetzung hoheitlicher
Anliegen anstreben, nur restriktiv gestützt auf die allgemeine
Legitimationsklausel von Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerdeführung zugelassen
werden dürfen (BGE 135 I 43 E. 1.3 S. 46 f.). Das allgemeine Interesse an der
richtigen Rechtsanwendung oder der Einbezug in das
BGE 136 V 346 S. 350
Verfahren als Mitbetroffener oder -adressat reicht hierfür nicht aus (BGE 136
II 274 E. 4.2 S. 279 mit Hinweisen).

3.4 Das Bundesgericht hat die Beschwerdelegitimation einer Gemeinde bejaht,
welche die Drittauszahlung von Nachzahlungen der Invalidenversicherung geltend
machte. Durch die Verweigerung der von der bevorschussenden Sozialhilfebehörde
verlangten Drittauszahlung von Sozialversicherungsleistungen ist die Gemeinde
direkt in ihren vermögensrechtlichen Interessen berührt und zur Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten berechtigt (BGE 135 V 2 E. 1.1 S. 4 mit
Hinweisen). Bereits mit Urteil 8C_105/2007 vom 24. Juli 2008 war es auf die
Beschwerde einer Gemeinde eingetreten, welche eine leistungsablehnende
Verfügung getroffen hatte und sich vor Bundesgericht gegen den kantonalen
Entscheid zur Wehr setzte, welcher sie dazu verpflichtet hatte, für Ausstände
von Krankheitskosten der während der massgebenden Zeit bei ihr Wohnsitz
verzeichnenden Person aufzukommen. Hingegen hat das Bundesgericht im Urteil
8C_650/2009 vom 21. Januar 2010 offengelassen, ob sich die Gemeinde bezüglich
der Erbringung von kantonalen Sozialhilfeleistungen auf die allgemeine
Beschwerdelegitimation von Art. 89 Abs. 1 BGG berufen kann.

3.5 Die Beschwerdeführerin wird durch den angefochtenen Entscheid verpflichtet,
finanzielle Leistungen zu erbringen. Aufgrund der Inanspruchnahme für
Sozialhilfe hat die vorinstanzliche Anordnung direkte Auswirkungen auf ihr
Finanz- oder Verwaltungsvermögen. Als Erbringerin von Fürsorgeleistungen ist
sie in ihren schutzwürdigen eigenen hoheitlichen Interessen in qualifizierter
Weise betroffen (vgl. ZBl 98/1997 S. 414, 2P.240/1995 E. 1c sowie Urteil 2A.300
/1999 vom 17. Januar 2000 E. 1b zu Art. 103 lit. a OG, an welche Regelung Art.
89 Abs. 1 BGG im Wesentlichen anknüpft [BGE 134 V 53 E. 2.3.3.1 S. 58]). Da
eine Gemeinde am Recht steht, geht es hier nicht um einen innerorganischen
Konflikt (sog. Organstreitigkeit) zwischen der obersten Exekutive und der
obersten Justizbehörde eines Kantons (vgl. Urteil 8C_1025/2009 vom 19. August
2010 E. 3.3.2 und 3.3.4.1 f. betreffend die Auslegung des kantonalen Rechts),
welcher nicht vor das Bundesgericht getragen werden könnte (vgl. BGE 134 V 53
E. 2.3 S. 57).

3.6 Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerdelegitimation gestützt auf Art. 89
Abs. 1 BGG zu bejahen und auf die Beschwerde einzutreten.