Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 V 2



Urteilskopf

136 V 2

1. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S. gegen AXA
Versicherungen AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_444/2009 vom 11. Januar 2010

Regeste

Art. 32 ATSG; Verwaltungshilfe unter Sozialversicherungen.
Ein Versicherungsträger hat auch während des Beschwerdeverfahrens Anspruch auf
Einsicht in die im Einzelfall erforderlichen, bei einem anderen
Versicherungsträger liegenden Akten (E. 2).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 3

BGE 136 V 2 S. 3
Aus den Erwägungen:

2. Die Beschwerdeführerin macht zunächst in prozessualer Hinsicht geltend, die
Vorinstanz habe die von der Beschwerdegegnerin im vorinstanzlichen Verfahren
unzulässigerweise in eigener Regie eingeholten und dem kantonalen Gericht
eingereichten Akten der Invalidenversicherung (nachfolgend: IV-Akten) zu
Unrecht nicht aus dem Recht gewiesen.

2.1 Aus den Akten des kantonalen Verfahrens ergibt sich folgender
Verfahrensablauf: Nachdem die Versicherte am 22. August 2007 Beschwerde vor
kantonalem Gericht erhoben hatte, beantragte der Versicherungsträger in seiner
Beschwerdeantwort vom 1. November 2007 unter anderem den Beizug der IV-Akten.
Mit Verfügung vom 9. April 2008 schloss das kantonale Gericht den
Schriftenwechsel, ohne diesen Antrag zu behandeln. Mit Gesuch vom 23. April
2008 beantragte die Beschwerdeführerin die Durchführung eines zweiten
Schriftenwechsels. Diesem Gesuch entsprach die Vorinstanz mit Verfügung vom 5.
Mai 2008 sinngemäss. Am 15. Mai 2008 beantragte die Unfallversicherung
daraufhin bei der IV-Stelle des Kantons Zürich die Zustellung der massgeblichen
Akten. Die IV-Stelle entsprach dem Gesuch am 19. Mai 2008. Die
Beschwerdegegnerin reichte die IV-Akten am 9. Juni 2008 beim kantonalen Gericht
ein; dieses gab der Versicherten unverzüglich Kenntnis von den eingereichten
Akten. Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin, die Akten aus dem Recht zu
weisen. Diesem Antrag kam die Vorinstanz nicht nach, sondern entschied mit
Endentscheid vom 25. März 2009 in der Sache unter Berücksichtigung der
IV-Akten. Dabei erwog die Vorinstanz, sie wäre ohnehin aus eigenem Recht befugt
gewesen, die Akten beizuziehen (vgl. Art. 47 Abs. 1 lit. c ATSG [SR 830.1]),
weshalb die Frage, ob der Aktenbeizug durch die Unfallversicherung rechtmässig
war, nicht näher geprüft zu werden brauche.

2.2 Die Verwaltungs- und Rechtspflegebehörden des Bundes, der Kantone, Bezirke,
Kreise und Gemeinden geben gemäss Art. 32
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Abs. 1 ATSG den Organen der einzelnen Sozialversicherungen auf schriftliche und
begründete Anfrage im Einzelfall kostenlos diejenigen Daten bekannt, die
erforderlich sind für: die Festsetzung, Änderung oder Rückforderung von
Leistungen (lit. a); die Verhinderung ungerechtfertigter Bezüge (lit. b); die
Festsetzung und den Bezug der Beiträge (lit. c) und den Rückgriff auf
haftpflichtige Dritte (lit. d). Nach Art. 32 Abs. 2 ATSG leisten unter den
gleichen Bedingungen die Organe der einzelnen Sozialversicherungen einander
Verwaltungshilfe. Die Regeln über die Amts- und Verwaltungshilfe stehen im
ersten Abschnitt des vierten Kapitels des Gesetzes. Dieser erste Abschnitt ist
grundsätzlich sowohl für das im zweiten Abschnitt geregelte erstinstanzliche
Sozialversicherungsverfahren, als auch für das im dritten Abschnitt normierte
Rechtspflegeverfahren anwendbar.

2.3 Die Beschwerdeführerin macht geltend, Art. 32 ATSG sei mit Blick auf den
auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz des devolutiven Effektes
der Beschwerde eng auszulegen. Mit der Beschwerdeerhebung sei die Herrschaft
über den Streitgegenstand an das kantonale Gericht übergegangen; die
Beschwerdegegnerin sei ab diesem Zeitpunkt nicht länger befugt, weitere
Abklärungen zu tätigen. Keine der vier Bedingungen gemäss Art. 32 Abs. 1 lit.
a-d ATSG sei gegeben gewesen, insbesondere sei die Beschwerdegegnerin nicht
länger funktionell zuständig für die Festsetzung oder Änderung von Leistungen
gewesen. Somit sei der Tatbestand von Art. 32 ATSG nicht mehr erfüllt, woraus
wiederum folge, dass die Aktenherausgabe durch die IV-Stelle unzulässig gewesen
sei.

2.4 Im Rahmen von Art. 32 Abs. 2 ATSG sind den Organen anderer
Sozialversicherungsträger nur jene Daten bekannt zu geben, welche im Einzelfall
für einen der in Art. 32 Abs. 1 lit. a-d ATSG aufgezählten Zwecke erforderlich
sind. Materiell war vor Vorinstanz streitig und zu beurteilen, ob eine
Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin für die Folgen des geltend gemachten
Gesundheitsschadens besteht. Während dabei hauptsächlich umstritten war, ob das
Ereignis vom 26. März 2005 den Unfallbegriff erfüllt, machte die
Beschwerdeführerin auch geltend, eine unfallähnliche Körperschädigung erlitten
zu haben. Zudem wurde der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 5. Mai 2008 eine
Frist eingeräumt, damit sie sich unter anderem auch zur Kausalität des
geklagten Gesundheitsschadens äussern konnte. Aus damaliger Sicht erschien es
nicht abwegig, dass sich in den IV-Akten weitere relevante Dokumente
BGE 136 V 2 S. 5
insbesondere zur Frage, ob jemals eine medizinische Fachperson bei der
Versicherten eine Verletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV (SR 832.202)
diagnostizierte (sowie allenfalls auch zur Frage der Kausalität der
Beschwerden), befinden könnten. Somit ist die Erforderlichkeit der
Datenbekanntgabe im Sinne von Art. 32 ATSG bei gebotener prognostischer Sicht
zu bejahen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass bei Vorliegen der
IV-Akten aus diesen keine neuen Erkenntnisse gewonnen werden konnten.

2.5 Als ordentlichem Rechtsmittel kommt der Beschwerde nach Art. 56 ff. ATSG
Devolutiveffekt zu. Eingeschränkt wird dieser Effekt indessen durch Art. 53
Abs. 3 ATSG, welcher bestimmt, der Versicherungsträger könne eine Verfügung
oder einen Einspracheentscheid, gegen den Beschwerde erhoben wurde, so lange
wiedererwägen, bis er gegenüber der Beschwerdebehörde Stellung nimmt. Die
formgültige Beschwerdeerhebung begründet (zusammen mit der Beschwerdeantwort
des Versicherungsträgers) die alleinige Zuständigkeit des kantonalen Gerichts,
über das in der angefochtenen Verfügung (bzw. im angefochtenen
Einspracheentscheid) geregelte Rechtsverhältnis zu entscheiden. Somit verliert
der Versicherungsträger die Herrschaft über den Streitgegenstand, und zwar
insbesondere auch in Bezug auf die tatsächlichen Verfügungs- und
Entscheidungsgrundlagen. Die Beschwerdeinstanz hat den rechtserheblichen
Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln (Art. 61 lit. c ATSG) und ist nicht an
die Begehren der Parteien gebunden (Art. 61 lit. d ATSG). Folgerichtig ist es
der Verwaltung grundsätzlich verwehrt, nach Einreichung des Rechtsmittels
weitere oder zusätzliche Abklärungen vorzunehmen, soweit sie den
Streitgegenstand betreffen und auf eine allfällige Änderung der angefochtenen
Verfügung durch Erlass einer neuen abzielen (vgl. BGE 127 V 228 E. 2 b/aa S.
231 f.).

2.6 Sinn und Zweck von Art. 32 Abs. 2 ATSG besteht darin, einen raschen
Austausch von Informationen unter den verschiedenen Versicherungsträgern ohne
ungerechtfertigte Barrieren sicherzustellen (vgl. BORIS RUBIN,
Assurance-chômage, 2. Aufl. 2006, S. 249 mit weiteren Hinweisen). Dabei ist der
Aktenaustausch nicht auf das Verfahren um Festsetzung, Änderung oder
Rückforderung von Leistungen beschränkt (vgl. Art. 32 Abs. 1 lit. a ATSG),
sondern kann auch der Verhinderung ungerechtfertigter Bezüge dienen (vgl. Art.
32 Abs. 1 lit. b ATSG). Ein schützenswertes Bedürfnis nach einem solchen
Informationsaustausch kann demnach nicht bloss im eigentlichen
Verwaltungsverfahren bestehen, sondern auch dann,
BGE 136 V 2 S. 6
wenn die Sache bereits bei der Beschwerdeinstanz hängig ist und der
Versicherungsträger zu den Vorbringen der Beschwerdeführerin Stellung nehmen
darf und soll. Demgegenüber ist ein schützenswertes Interesse der versicherten
Person, eine solche Aktenherausgabe zu verhindern, nicht ersichtlich, zumal die
Beschwerdegegnerin unbestrittenermassen im Verwaltungsverfahren das Recht auf
Verwaltungshilfe gehabt hätte, dem kantonalen Gericht ebenfalls ein
Akteneinsichtsrecht zukommt (Art. 47 Abs. 1 lit. c ATSG) und das Gericht
anschliessend beiden Parteien, mithin auch dem Unfallversicherungsträger,
Kenntnis von den beigezogenen Akten geben müsste.

2.7 Das Verfahren vor kantonalem Versicherungsgericht muss gemäss Art. 61 lit.
a ATSG einfach und rasch sein. Die anzustrebende Raschheit des Verfahrens
schliesst es aus, dass die Verwaltung während dem kantonalen Verfahren
umfangreiche und zeitraubende Zusatzabklärungen tätigt (BGE 127 V 228 E. 2b/bb
S. 232 ff.). Aufgrund der gebotenen Einfachheit des Prozesses kann der
Versicherungsträger im Weiteren keine Abklärungsmassnahmen treffen, welche der
Mitwirkung der versicherten Person bedürften (BGE 127 V 228 E. 2b/aa S. 231
f.). Erlaubt sind der Verwaltung demgegenüber in aller Regel punktuelle
Abklärungen (wie das Einholen von Bestätigungen, Bescheinigungen oder auch
Rückfragen bei medizinischen Fachpersonen oder anderen Auskunftspersonen);
wegleitende Gesichtspunkte für die Beantwortung der Frage, was im kantonalen
Verfahren noch zulässiges Verwaltungshandeln darstellt, bilden die inhaltliche
Bedeutung der Sachverhaltsvervollständigung und die zeitliche Intensität
allfälliger weiterer Abklärungsmassnahmen (BGE 127 V 228 E. 2b/bb S. 232 ff.).
Ein Beizug der IV-Akten durch die Unfallversicherung bedarf keiner Mitwirkung
der versicherten Person. Ein solcher ist auch nicht zeitintensiv; im
vorliegenden Fall konnte die IV-Stelle dem Gesuch der Beschwerdegegnerin
bereits am ersten Arbeitstag nach Gesuchseingang entsprechen.

2.8 Somit gebietet entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin weder der
Devolutiveffekt der Beschwerde noch der Grundsatz des raschen und einfachen
Verfahrens, dass Art. 32 ATSG eng auszulegen wäre. Art. 32 Abs. 2 ATSG ist
grundsätzlich auch in jenen Fällen anwendbar, in denen die Sache bereits vor
Beschwerdeinstanz hängig ist. Damit war der Beizug der IV-Akten durch die
Unfallversicherung und deren Herausgabe durch die IV-Stelle zulässig; zu Recht
hat demnach die Vorinstanz darauf verzichtet, die betreffenden Akten aus dem
Recht zu weisen.