Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 V 156



Urteilskopf

136 V 156

20. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. N. gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_699/2009 vom 22. April 2010

Regeste

Art. 43 f. ATSG; Art. 25a VwVG; Anordnung einer Begutachtung.
Der Versicherungsträger hat eine Begutachtung auch dann nicht in Form einer
anfechtbaren Verfügung anzuordnen, wenn die versicherte Person geltend macht,
die Expertise sei - als "second opinion" - nicht notwendig (Bestätigung der
Rechtsprechung unter Berücksichtigung des zwischenzeitlich in Kraft getretenen
Art. 25a VwVG; E. 4).

Sachverhalt ab Seite 156

BGE 136 V 156 S. 156

A. Die 1960 geborene N. meldete sich am 18. September 2006 bei der IV-Stelle
des Kantons Thurgau (nachfolgend: IV-Stelle) unter Hinweis auf einen am 9.
November 2003 erlittenen Unfall mit Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) zum
Leistungsbezug an und beantragte eine Rente. Im Zuge der medizinischen
Abklärungen holte die IV-Stelle unter anderem ein Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X. ein (Gutachten vom 14. Februar 2008). Am 3. Februar
2009 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, es sei eine weitere
Begutachtung durch die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) X. notwendig.
Daraufhin antwortete die Versicherte, sie stehe für eine weitere Begutachtung
nicht zur Verfügung, da eine solche auf die Einholung einer unzulässigen
"second opinion"
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hinauslaufe. Mit als "Zwischenverfügung" bezeichnetem und mit einer
Rechtsmittelbelehrung versehenem Entscheid vom 11. März 2009 hielt die
IV-Stelle an der Begutachtung fest, da kein formeller Ausstands- oder
Ablehnungsgrund vorliege.

B. Die von N. hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau mit Entscheid vom 17. Juni 2009 ab, soweit es auf sie eintrat.

C. Mit Beschwerde beantragt N., es sei unter Aufhebung der Zwischenverfügung
und des kantonalen Gerichtsentscheides festzustellen, dass die
Beschwerdegegnerin nicht berechtigt sei, ein neuerliches interdisziplinäres
Gutachten erstellen zu lassen, eventualiter, es sei festzustellen, dass die
Beschwerdegegnerin allfällige weitere Erhebungen ohne die nochmalige
Durchführung von neurologischen und psychiatrischen Abklärungen zu tätigen
habe, subeventualiter seien die Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens selbst
bei Unterliegen in der Sache der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Da eine Gutheissung der Beschwerde nicht sofort zu einem Endentscheid in
der Sache (mithin über den Rentenanspruch der Versicherten) führen würde (vgl.
Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG), wäre auf die Beschwerde nur einzutreten, wenn
dieser Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken
könnte (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG).

3.2 In seinem Urteil vom 8. Februar 2006 hat das Eidg. Versicherungsgericht
erwogen, die Anordnung einer Begutachtung stelle keine anfechtbare
Zwischenverfügung dar (BGE 132 V 93 E. 5 S. 100 ff.). Selbständig anfechtbar
sind nach dieser Rechtsprechung jedoch Zwischenverfügungen über formelle
Ausstandsgründe (BGE 132 V 93 E. 6.3 S. 107). Zwischenverfügungen über andere
Fragen der Begutachtung sind hingegen bereits vor dem kantonalen Gericht nur
dann anfechtbar, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken
können (BGE 132 V 93 E. 6.1 S. 106). In der Regel keinen solchen Nachteil
bewirken können Zwischenverfügungen über Einwände, welche Fragen der
Beweiswürdigung betreffen und daher beim Endentscheid in der Sache noch
berücksichtigt werden können.
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Dazu gehören rechtsprechungsgemäss die Fragen, aus welcher medizinischen
Fachrichtung ein Gutachten einzuholen ist, ob ein behandelnder Arzt als
Gutachter eingesetzt werden kann, ob die vorgesehene Gutachtensperson die
notwendigen Fachkenntnisse besitzt oder ob der Sachverhalt bereits hinreichend
abgeklärt ist (BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 108 f.).

3.3 Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, eine weitere
Begutachtung laufe auf die unzulässige Einholung einer "second opinion" hinaus.
Abgesehen davon, dass die Einholung eines entbehrlichen Zweitgutachtens eine
unzulässige Verfahrensverzögerung darstellen kann (vgl. Urteil 8C_622/2009 vom
3. Dezember 2009 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 671/00 vom 21.
August 2001 E. 5a), erkannte das Bundesgericht in seinem Urteil U 571/06 vom
29. Mai 2007, dass die versicherte Person nicht verpflichtet ist, sich einer
weiteren Begutachtung zu unterziehen, wenn der Sachverhalt bereits hinreichend
geklärt ist; die Weigerung, sich der Zweitbegutachtung zu unterziehen,
gereichte der versicherten Person nicht zum Nachteil, da das Gericht die
Entbehrlichkeit der weiteren Begutachtung feststellte (SVR 2007 UV Nr. 33 S.
111, U 571/06 E. 4). Die Verfahrensgrundsätze des ATSG (SR 830.1) verleihen dem
Versicherungsträger gemäss dieser Rechtsprechung nicht das Recht, eine "second
opinion" zum bereits in einem Gutachten festgestellten Sachverhalt einzuholen,
wenn ihm dieser nicht gefällt. Es war indessen nicht die Absicht des
Bundesgerichts, durch das in einem Beschwerdeverfahren gegen einen Endentscheid
ergangene Urteil vom 29. Mai 2007 die in BGE 132 V 93 aufgezeigte
Verfahrensordnung zu ändern. In diesem neueren Entscheid wurde lediglich
festgehalten, dass sich eine versicherte Person einer weiteren Begutachtung
nicht zu unterziehen braucht, wenn der Sachverhalt bereits hinreichend
abgeklärt ist und die Einholung einer weiteren Expertise auf eine unzulässige
"second opinion"-Begutachtung hinauslaufen würde. Aus diesem Urteil folgt
indessen noch nicht, dass dann, wenn die versicherte Person behauptet, eine
weitere Expertise sei unnötig, der Versicherungsträger über die Notwendigkeit
der neuerlichen Begutachtung mittels anfechtbarer Zwischenverfügung entscheiden
müsste. Durch die zusätzliche Begutachtung erleidet die versicherte Person
keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil: Zusätzliche Abklärungen durch eine
kompetente und unparteiische Fachperson - was eine Voraussetzung einer
Gutachtensanordnung nach Art. 44 ATSG ist - können zwar der Klärung des
massgeblichen Sachverhaltes dienen, nicht jedoch zu einer Verdunkelung
desselben führen.
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Vorliegend nicht zu entscheiden ist die Frage, ob dann, wenn der
Versicherungsträger unzulässigerweise ein weiteres Gutachten eingeholt hat und
in der Folge zwei gleichermassen beweiskräftige Gutachten, welche indessen zu
unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, vorliegen, auf das erste Gutachten
abzustellen ist oder ob das Gericht in einem solchen Fall - im
Beschwerdeverfahren gegen den Endentscheid - ein gerichtliches Obergutachten
anzuordnen hat.

3.4 Hat der Versicherungsträger sein Festhalten an der Begutachtung nicht in
Form einer anfechtbaren Verfügung zu erlassen, weil die versicherte Person
durch eine solche Anordnung keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil
erleidet, ist mangels eines solchen Nachteils auch nicht auf die Beschwerde
gegen einen diesbezüglichen Entscheid des kantonalen Gerichts einzutreten.

4. Das kantonale Gericht hat in seinem Entscheid offengelassen, ob die
"Zwischenverfügung" der IV-Stelle allenfalls als Entscheid im Sinne von Art.
25a VwVG (SR 172.021) anzusehen wäre, da die Beschwerde diesfalls abzuweisen
wäre.

4.1 Gemäss dem am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Art. 25a VwVG kann, wer
ein schutzwürdiges Interesse hat, von der Behörde, die für Handlungen zuständig
ist, welche sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen und Rechte oder
Pflichten berühren, verlangen, dass sie: widerrechtliche Handlungen unterlässt,
einstellt oder widerruft (Abs. 1 lit. a); die Folgen widerrechtlicher
Handlungen beseitigt (Abs. 1 lit. b); oder die Widerrechtlichkeit von
Handlungen feststellt (Abs. 1 lit. c). Die Behörde entscheidet in Anwendung von
Abs. 2 durch Verfügung.

4.2 In der Lehre wird teilweise die Ansicht vertreten, die versicherte Person
könne, wenn bei genügender Beweislage ein weiteres Gutachten eingeholt werden
soll, gestützt auf Art. 55 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 25a VwVG eine
anfechtbare Verfügung über die Rechtmässigkeit des Realaktes einholen (UELI
KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 13 zu Art. 49 ATSG; vgl. auch ULRICH
MEYER, Die Sozialrechtspflege unter dem Bundesgerichtsgesetz, in:
Strassenverkehrsrechts-Tagung, 2008, S. 149 ff.; anderer Ansicht: HANSJÖRG
SEILER, Rechtsfragen des Einspracheverfahrens in der Sozialversicherung [Art.
52 ATSG], in: Sozialversicherungsrechtstagung, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.],
2007, S. 65 ff., 79; URS MÜLLER, Das Verwaltungsverfahren in der
Invalidenversicherung, 2010, S. 440 Rz. 2266 ff.). Sinn und Zweck von Art. 25a
VwVG ist es, das Rechtsschutzdefizit, welches vor der Revision der
Bundesrechtspflege im
BGE 136 V 156 S. 160
Bereich des tatsächlichen Verwaltungshandelns bestand (vgl. MAR-KUS MÜLLER,
Rechtschutz gegen Verwaltungsakte, in: Neue Bundesrechtspflege, 2007, S. 313
ff., 314; MARIANNE TSCHOPP-CHRISTEN, Rechtsschutz gegenüber Realakten des
Bundes [Artikel 25a VwVG], 2009, S. 83; je mit weiteren Hinweisen), zu
verkleinern. Dieser neue Artikel räumt der betroffenen Person das Recht auf ein
eigenständiges, nachgeschaltetes Verwaltungsverfahren ein, das in eine
Verfügung über den beanstandeten Realakt und entsprechend in ein
Verwaltungsverhältnis mündet (TSCHOPP-CHRISTEN, A.A.O., S. 88; MARKUS MÜLLER,
A.A.O., S. 344).

4.3 Art. 25a VwVG sieht vor, dass eine Verfügung nur bei einem schutzwürdigen
Interesse der gesuchstellenden Person zu erlassen ist (vgl. auch Urteil 2C_175/
2009 vom 13. Juli 2009 E. 2.2). Ein solches ist indessen dann zu verneinen,
wenn der Person der Rechtsschutz gegenüber dem Realakt zu einem späteren
Zeitpunkt offensteht, es sei denn, dass ihr aufgrund der hinausgeschobenen
Eröffnung des Rechtsweges ein unzumutbarer Nachteil drohe (TSCHOPP-CHRISTEN,
a.a.O., S. 130 mit weiteren Hinweisen). Es ist somit nicht Sinn und Zweck von
Art. 25a VwVG, den Rechtsweg gegen Zwischenverfügungen in einem Verfahren,
welche mangels eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils nicht angefochten
werden können, zu öffnen (vgl. BEATRICE WEBER-DÜRLER, in: Kommentar zum
Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], 2008, N. 31 zu Art. 25a
VwVG). Es wäre inkonsequent, den nicht wieder gutzumachenden Nachteil zur
Anfechtung der Anordnung zu verneinen und gleichzeitig ein schutzwürdiges
Interesse am Erlass einer Verfügung im Sinne von Art. 25a VwVG zu bejahen.

4.4 Die Versicherte hat sich somit gegenüber der IV-Stelle zu Recht nicht auf
Art. 25a VwVG berufen; die IV-Stelle hat ihrerseits folgerichtig diesen Artikel
in ihrer "Zwischenverfügung" nicht erwähnt. Damit besteht entgegen den
vorinstanzlichen Erwägungen kein Grund, diese Zwischenverfügung als Entscheid
im Sinne von Art. 25a VwVG zu qualifizieren. Die Rechtslage bei
Gutachtensanordnungen im Sozialversicherungsrecht wurde durch das Inkrafttreten
von Art. 25a VwVG nicht geändert; auf die Beschwerde ist folglich auch unter
diesem Titel nicht einzutreten.