Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 V 113



Urteilskopf

136 V 113

14. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. R. gegen
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_408/2009 vom 25. Mai 2010

Regeste

Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 und 44 ATSG; Ergänzungsfragen nach Erstattung des
Gutachtens.
Der Versicherungsträger, welcher einer Gutachtensperson Erläuterungs- oder
Ergänzungsfragen zu stellen gedenkt, hat auch in Verfahren, welche mittels
durch Einsprache anfechtbare Verfügung abgeschlossen werden, die versicherte
Person vorgängig darüber zu informieren und ihr Gelegenheit zu geben, auch
ihrerseits solche Fragen zu stellen (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 5.4).

Sachverhalt ab Seite 114

BGE 136 V 113 S. 114

A.

A.a Die 1978 geborene R. war als Innendekorateurin bei der Firma X. angestellt
und in dieser Eigenschaft bei den Elvia Versicherungen (heute: Allianz Suisse
Versicherungs-Gesellschaft; nachfolgend: Allianz) gegen die Folgen von Unfällen
versichert. Am 22. April 2000 erlitt sie als Mitfahrerin auf dem Motorrad ihres
Lebenspartners eine Kollision mit einem Auto (...). Mit Verfügung vom 22.
Dezember 2003 und Einspracheentscheid vom 19. Juli 2004 lehnte die Allianz es
ab, über den 10. September 2002 hinaus weitergehende Leistungen zu erbringen.
Auf Beschwerde der Versicherten hin hob das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 6. Januar 2005 den Einspracheentscheid der
Allianz vom 19. Juli 2004 auf und wies die Sache zu weiteren medizinischen
Abklärungen an die Allianz zurück. Die von der Allianz hiegegen erhobene
Beschwerde wies das Eidg. Versicherungsgericht mit Urteil U 72/05 vom 11.
Oktober 2005 ab.

A.b In Nachachtung dieser Gerichtsentscheide beauftragte die Allianz Dr. med.
A., Fachärztin FMH für Neurologie, mit der Erstellung eines Gutachtens. Diese
zog PD Dr. phil. C., Abteilungsleiter der neuropsychologischen Abteilung des
Spitals B., als neuropsychologischen Teilgutachter bei und erstattete ihr
Gutachten am 21. November 2006. Die Allianz stellte daraufhin der Gutachterin
mit Schreiben vom 3. Januar 2007 Erläuterungsfragen, ohne die Versicherte über
dieses Vorgehen zu informieren. Dr. med. A. nahm zu diesen Fragen mit Schreiben
vom 15. Januar 2007 Stellung. Am 19. Januar 2007 bat die Allianz Dr. med. D.,
Spezialärztin FMH für Neurologie, um eine Aktenbeurteilung, welche diese am 13.
Februar 2007 erstattete. Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs verneinte die
Allianz mit Verfügung vom 20. März 2007 und Einspracheentscheid vom 25.
September 2007 einen Leistungsanspruch der Versicherten.

B. Die von R. hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich mit Entscheid vom 19. März 2009 ab.

C. Mit Beschwerde beantragt R., ihr seien unter Aufhebung des Einsprache- und
des kantonalen Gerichtsentscheides eine Rente und eine Integritätsentschädigung
zuzusprechen.
Während die Allianz auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

BGE 136 V 113 S. 115
Aus den Erwägungen:

5.

5.1 In Nachachtung des Urteils des Eidg. Versicherungsgerichts U 72/ 05 vom 11.
Oktober 2005 veranlasste die Beschwerdegegnerin eine Begutachtung der
Versicherten bei Dr. med. A. Nachdem diese ihr Gutachten am 21. November 2006
erstattet hatte, ersuchte die Versicherung - ohne die Versicherte über diesen
Schritt zu informieren - die Gutachterin mit Schreiben vom 3. Januar 2007 um
die Beantwortung von Erläuterungsfragen. Es ist daher zu prüfen, ob diese
Vorgehensweise zulässig war und in welchem Zeitpunkt es Versicherungsträger und
versicherter Person möglich ist, dem Gutachter Ergänzungsfragen zu stellen.

5.2 Im sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahren obliegt die Leitung
des Verfahrens dem Versicherungsträger (Grundsatz des Amtsbetriebes); dieser
hat einen Sozialversicherungsfall hoheitlich zu bearbeiten (vgl. Art. 43 ATSG
[SR 830.1]) und mit dem Erlass einer materiellen Verfügung zu erledigen (vgl.
Art. 49 Abs. 1 ATSG). Partizipatorische, auf präventive Mitwirkung im Rahmen
der Gutachtensbestellung abzielende Verfahrensrechte stehen dabei in einem
Spannungsverhältnis zum Gebot des raschen und einfachen Verfahrens (vgl. Art.
61 lit. a ATSG). Anzustreben ist ein vernünftiges Verhältnis zwischen den
Mitwirkungsrechten im Verwaltungsverfahren und dem Ziel einer raschen und
korrekten Abklärung (vgl. BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 109). Aus diesen Grundsätzen
zog das Bundesgericht in BGE 133 V 446 E. 7.4 S. 449 den Schluss, Art. 44 ATSG
sei für das Sozialversicherungsverfahren mit Bezug auf die Parteirechte
hinsichtlich der Fragen an die Sachverständigen abschliessend, weshalb die
weitergehende Regelung von Art. 19 VwVG (SR 172.021) in Verbindung mit Art. 57
Abs. 2 BZP (SR 273) keine Anwendung findet. Die Rechte der versicherten Person
würden insofern gewahrt bleiben, als sie sich im Rahmen des rechtlichen Gehörs
zum Beweisergebnis wird äussern und erhebliche Beweisanträge wird vorbringen
können (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG).

5.3 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 42 ATSG haben die Parteien Anspruch auf
rechtliches Gehör. Sie brauchen indessen nach Art. 42 Satz 2 ATSG nicht
angehört zu werden vor Verfügungen, welche durch Einsprache anfechtbar sind.
Rechtsprechungsgemäss bezieht sich die im ATSG vorgesehene Einschränkung des
rechtlichen Gehörs lediglich darauf, dass die versicherte Person sich bei
Verfügungen, welche durch Einsprache anfechtbar sind, nicht vorgängig zum
BGE 136 V 113 S. 116
vorgesehenen Entscheid äussern kann; die übrigen Aspekte des
verfassungsmässigen Rechts sind von der Einschränkung nicht betroffen (BGE 132
V 368 E. 4 S. 371 ff.). In Verfahren, welche mittels durch Einsprache
anfechtbare Verfügung abgeschlossen werden, braucht der Versicherungsträger ein
eingeholtes Gutachten grundsätzlich nicht vor Verfügungserlass zunächst der
versicherten Person zuzustellen (BGE 132 V 368 E. 7 S. 375 f.).

5.4 Hält der Versicherungsträger bei Vorliegen eines externen Gutachtens
Erläuterungs- oder Ergänzungsfragen für notwendig, so ist er berechtigt, der
Gutachtensperson solche zu stellen (BGE 119 V 208 E. 4d S. 215). Aufgrund ihres
Rechtes, sich zum Beweisergebnis zu äussern und erhebliche Beweisanträge
vorzubringen, darf auch die versicherte Person solche Fragen an den Experten
richten. Zur Beschleunigung des Verfahrens und damit sich die begutachtende
Person nicht immer wieder von Neuem mit dem Dossier auseinandersetzen muss,
erscheint es angebracht, die zusätzlichen Fragen beider Parteien gleichzeitig
dem Gutachter zu unterbreiten. Dies schliesst eine einseitige Vorgehensweise
des Versicherungsträgers aus. BGE 132 V 368 E. 7 S. 375 f. ist demnach
dahingehend zu präzisieren, dass der Versicherungsträger dann, wenn er der
Gutachtensperson Erläuterungs- oder Ergänzungsfragen zu stellen gedenkt, er die
versicherte Person darüber zu informieren und ihr eine Kopie des Gutachtens
zuzustellen hat. Damit erhält die versicherte Person Gelegenheit, auch
ihrerseits solche Fragen zu stellen. Der Versicherungsträger wird anschliessend
die allfälligen ergänzenden - sachdienlichen - Fragen der versicherten Personen
zusammen mit seinen eigenen an die begutachtende Person zur Beantwortung
weiterleiten. Dies gilt auch in Verfahren, welche mittels durch Einsprache
anfechtbare Verfügung abgeschlossen werden.

5.5 Festzuhalten ist demnach, dass die einseitige Vorgehensweise der
Beschwerdegegnerin, der Gutachterin Erläuterungsfragen zu stellen, noch ehe sie
der Versicherten eine Kopie des Gutachtens zugestellt hatte, unzulässig war. Da
die Versicherte in der Folge auf eigene Erläuterungs- oder Ergänzungsfragen
verzichtet hat und bezüglich der ergänzenden Erläuterungen der Dr. med. A. vom
15. Januar 2007 keine weiteren Anträge stellt, kann dieser Verfahrensmangel
indessen als geheilt betrachtet werden (vgl. auch Urteil U 145/06 vom 31.
August 2007 E. 4 und 5).