Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 I 80



Urteilskopf

136 I 80

8. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Axel
Springer Schweiz AG und Mitb. gegen Nef und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_444/2009 / 1C_445/2009 / 1C_482/2009 vom 14. Januar 2010

Regeste

Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II; Art. 17
KV/ZH; Art. 86 Abs. 2, Art. 90 und 92 BGG; Strafuntersuchung, Anspruch auf
Einsicht in eine rechtskräftige Einstellungsverfügung, letztinstanzliche
kantonale Zuständigkeit.
Die Beschwerde gegen die Verweigerung der Einsicht in die rechtskräftige
Einstellungsverfügung unterliegt der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten (E. 1.1 und 2.1). Anfechtbarkeit des kantonal
letztinstanzlichen Entscheids über die Zuständigkeit (E. 1.2).
Rechtliche Grundlagen des Informationsanspruchs (E. 2.2). Letzte
Rechtsmittelinstanz im Kanton Zürich ist das Verwaltungsgericht (E. 2.3).
Nichteintreten auf die Beschwerde gegen den Entscheid der
Oberstaatsanwaltschaft, da diese Behörde kein oberes kantonales Gericht ist (E.
3).

Sachverhalt ab Seite 81

BGE 136 I 80 S. 81
Die Staatsanwaltschaft 1 des Kantons Zürich stellte mit rechtskräftig
gewordener Verfügung vom 23. Oktober 2007 eine Strafuntersuchung gegen Roland
Nef betreffend Nötigung etc. ein. Im Juli und August 2008 ersuchte unter
anderem die Axel Springer Schweiz AG um Einsicht in die Einstellungsverfügung
vom 23. Oktober 2007. Dem Gesuch entsprach die Staatsanwaltschaft 1 unter
Wahrung der Anonymität der Geschädigten mit Verfügung vom 15. Dezember 2008
teilweise. Sie entschied, die Einstellungsverfügung vom 23. Oktober 2007 sei
ohne E. 7 der Begründung und Ziff. 3 des Dispositivs (Herausgabe
sichergestellter Gegenstände) den Gesuchstellern auszuhändigen. Im Übrigen wies
sie Gesuche um Einsicht in die Verfahrensakten ab. Einen Rekurs von Roland Nef
gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft 1 hiess die Oberstaatsanwaltschaft
mit Entscheid vom 28. April 2009 gut.
BGE 136 I 80 S. 82
Gegen den Rekursentscheid der Oberstaatsanwaltschaft gelangten die Axel
Springer Schweiz AG und Mitbeteiligte am 29. Mai 2009 mit Beschwerde in
Strafsachen an das Bundesgericht (Verfahren 1C_444/2009). Dieses Verfahren
wurde auf Antrag der Beschwerdeführer sistiert, weil sie gleichzeitig
Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich eingereicht hatten. Sie
verlangten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unter anderem die Aufhebung
des Entscheids der Oberstaatsanwaltschaft vom 28. April 2009 sowie Einsicht in
die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft 1.
Das Verwaltungsgericht verneinte mit Beschluss vom 29. Juli 2009 seine
sachliche Zuständigkeit und leitete die Sache an das Obergericht des Kantons
Zürich weiter. Gegen diesen Beschluss gelangten die unterlegenen
Beschwerdeführer mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom
2. September 2009 an das Bundesgericht (Verfahren 1C_445/2009). Auf Antrag der
Beschwerdeführer wurde auch dieses Verfahren während der Hängigkeit der
Angelegenheit beim Obergericht sistiert.
Die Verwaltungskommission des Obergerichts trat auf die vom Verwaltungsgericht
weitergeleitete Beschwerde mit Beschluss vom 24. September 2009 nicht ein, da
nicht eine Strafsache, sondern eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit im
Streit liege.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 27. Oktober 2009
(Verfahren 1C_482/2009) beantragen die Axel Springer Schweiz AG und
Mitbeteiligte unter anderem, der Beschluss des Obergerichts vom 24. September
2009 sei aufzuheben. Im Falle der Gutheissung der Beschwerde gegen den
Beschluss des Verwaltungsgerichts sei die Beschwerde gegen den Entscheid der
Oberstaatsanwaltschaft als gegenstandslos abzuschreiben.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde 1C_445/2009 gut und hebt den Beschluss
des Verwaltungsgerichts auf.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Dem angefochtenen Entscheid des Verwaltungsgerichts liegt ein
Rekursentscheid der Oberstaatsanwaltschaft zu Grunde, mit welchem ein Gesuch
der am Strafverfahren nicht beteiligten Beschwerdeführer um Einsicht in die
Einstellungsverfügung vom 23. Oktober 2007 abgewiesen wurde. Dieser Entscheid
der letzen kantonalen
BGE 136 I 80 S. 83
Instanz unterliegt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Beschwerde
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Urteil des Bundesgerichts 1C_302/
2007 vom 2. April 2008 E. 1, nicht publ. in: BGE 134 I 286; Urteile 1C_252/2008
vom 4. September 2008 E. 1; 1C_258/2008 vom 20. November 2008 E. 1).

1.2 Nach Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen. Mit seinem Beschluss vom 29. Juli 2009 hat das
Verwaltungsgericht seine sachliche Zuständigkeit verneint und die Sache an das
Obergericht weitergeleitet. Es stellt sich die Frage, ob dieser Entscheid einen
Endentscheid darstellt, da er zwar das verwaltungsgerichtliche Verfahren, nicht
aber das kantonale Verfahren insgesamt abschliesst. Die Frage kann
offenbleiben, da der selbstständig eröffnete Entscheid die Zuständigkeit des
Verwaltungsgerichts betrifft und somit auch gestützt auf Art. 92 BGG direkt
beim Bundesgericht angefochten werden kann.

1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind in Bezug auf das Verfahren
1C_445/2009 erfüllt, weshalb auf diese Beschwerde einzutreten ist.

2. Zu prüfen ist die Zuständigkeit zur kantonal letztinstanzlichen
gerichtlichen Beurteilung der Beschwerde gegen den Rekursentscheid der
Oberstaatsanwaltschaft. Die Beschwerdeführer berufen sich auf die
Rechtsweggarantie (Art. 29a BV), das Öffentlichkeitsprinzip und die
Kontrollfunktion der Medien (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK) sowie auf
den im kantonalen Recht verankerten Anspruch auf Zugang zu amtlichen Dokumenten
(Art. 17 KV/ZH [SR 131.211]; kantonales Gesetz über die Information und den
Datenschutz vom 12. Februar 2007 [IDG/ZH; LS 170.4]).

2.1 Die Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts betrifft nicht
die Akteneinsicht im Rahmen eines hängigen Strafverfahrens. Die
Beschwerdeführer verlangen vielmehr Einsicht in eine rechtskräftige
Einstellungsverfügung eines abgeschlossenen Strafverfahrens. Die
Beschwerdeführer hatten im Rahmen des Strafverfahrens gegen Roland Nef
unbestrittenermassen keine Parteistellung. Das Einsichtsgesuch erfolgt
offensichtlich auch nicht zur Wahrnehmung von Parteirechten in einem noch
hängigen Strafverfahren. Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, es handle sich
vorliegend um eine Strafsache im weitesten Sinne, kann somit nicht gefolgt
werden. Wie es sich verhielte, wenn das Einsichtsgesuch bereits im Rahmen des
strafrechtlichen Verfahrens gestellt worden wäre, ist vorliegend nicht zu
prüfen.
BGE 136 I 80 S. 84

2.2 Nach dem in Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1
UNO-Pakt II (SR 0.103.2) verankerten Öffentlichkeitsprinzip besteht namentlich
bei einer Verfahrenserledigung ohne Straffolgen mittels Einstellungsverfügung
durch eine nichtgerichtliche Behörde ein Einsichtsrecht von Interessierten in
den strafprozessualen Entscheid. Die Einsichtnahme setzt voraus, dass der
Gesuchsteller ein schutzwürdiges Informationsinteresse nachweist und der
beantragten Einsicht keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen
entgegenstehen (BGE 134 I 286 E. 5 und 6 S. 288 ff.; Urteil des Bundesgerichts
1C_258/2008 vom 20. November 2008 E. 4.2 mit Hinweisen).
Auch Art. 17 KV/ZH gewährleistet jeder Person das Recht auf Zugang zu amtlichen
Dokumenten, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen
entgegenstehen. Zur Umsetzung dieses Grundrechts besteht im Kanton Zürich das
Gesetz über die Information und den Datenschutz (IDG/ZH), welches am 1. Oktober
2008 in Kraft trat. Das Öffentlichkeitsprinzip für die kantonale Verwaltung
bedeutet, dass jede Person Zugang zu amtlichen Dokumenten und das Recht auf
Einsichtnahme in Behördenakten hat, sofern nicht eine rechtliche Bestimmung
oder ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegensteht (§§
20 ff. i.V.m. § 23 IDG/ZH). Das IDG/ZH gilt für die öffentlichen Organe, wozu
die Behörden und Verwaltungen des Kantons gehören (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1
lit. b IDG/ZH). Für Gerichte gilt das IDG/ZH nur, soweit sie
Verwaltungsaufgaben erfüllen (§ 2 Abs. 1 Satz 2 IDG/ZH). Die Staatsanwaltschaft
ist eine kantonale Behörde, aber kein Gericht. Es ist mit dem Obergericht davon
auszugehen, dass das IDG/ZH auf die vorliegende Angelegenheit anwendbar ist.

2.3 § 27 Abs. 1 IDG/ZH bestimmt, dass das öffentliche Organ eine Verfügung
erlässt, wenn es den Zugang zur gewünschten Information verweigern,
einschränken oder aufschieben will. Der Rechtsschutz gegen diese Verfügung wird
im IDG/ZH selbst nicht geregelt. Aus den Materialien zum IDG/ZH ergibt sich,
dass Entscheide des öffentlichen Organs, mit denen es den Informationszugang
verweigert oder diesen nur teilweise zulässt, als Anordnungen im Sinne des
kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 24. Mai 1959 (VRG/ZH; LS 175.2)
gelten, welche der Beschwerde an das Verwaltungsgericht unterliegen (vgl.
Vorlage an den Kantonsrat 4290/2005, S. 37 zu § 25 Entwurf IDG/ZH und Amtsblatt
vom 13. Juni 2008 S. 949).
BGE 136 I 80 S. 85
In Anwendung von § 41 Abs. 1 VRG/ZH beurteilt das Verwaltungsgericht
Beschwerden gegen letztinstanzliche Anordnungen von Verwaltungsbehörden, soweit
das Verwaltungsrechtspflegegesetz oder ein anderes Gesetz keine abweichende
Zuständigkeit vorsieht oder eine Anordnung als endgültig bezeichnet. Zudem sind
in § 42 f. VRG/ZH Ausnahmen von der Beschwerde an das Verwaltungsgericht
vorgesehen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerde aus einem der in Art.
41 f. VRG/ZH genannten Gründe ausgeschlossen wäre. Das Verwaltungsgericht hat
auf eine Stellungnahme zu den Ausführungen im Beschluss des Obergerichts
verzichtet und zeigt keine Gründe auf, die gegen die vom Obergericht bejahte
Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts sprechen würden.

2.4 Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ist somit
gutzuheissen, der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die
Angelegenheit an diese Vorinstanz zur materiellen Behandlung der Beschwerde
gegen den Entscheid der Oberstaatsanwaltschaft zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2
BGG). Das Verwaltungsgericht wird nun nach den erheblichen Verzögerungen, die
durch den innerkantonalen Streit über die Zuständigkeitsfrage eingetreten sind,
beförderlich zu entscheiden haben.

2.5 Die Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts (Verfahren 1C_482/2009)
wird mit dem vorliegenden Urteil gegenstandslos.

3. Die Beschwerde im Verfahren 1C_444/2009 richtet sich direkt gegen den
Rekursentscheid der Oberstaatsanwaltschaft. Der kantonal letztinstanzliche
Entscheid über das Einsichtsgesuch unterliegt, wie in E. 1.1 dargelegt, der
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.
Nach Art. 86 Abs. 2 BGG setzen die Kantone als unmittelbare Vorinstanzen des
Bundesgerichts obere Gerichte ein, soweit nicht nach einem anderen Bundesgesetz
Entscheide anderer richterlicher Behörden der Beschwerde an das Bundesgericht
unterliegen. Für Entscheide mit vorwiegend politischem Charakter können die
Kantone anstelle eines Gerichts eine andere Behörde als unmittelbare Vorinstanz
des Bundesgerichts einsetzen (Art. 86 Abs. 3 BGG). Da die Übergangsfrist nach
Art. 130 Abs. 3 BGG seit 1. Januar 2009 abgelaufen ist und der Entscheid der
Oberstaatsanwaltschaft nach diesem Datum erging (vgl. Art. 132 BGG), ist Art.
86 BGG im vorliegenden Verfahren anwendbar.
BGE 136 I 80 S. 86
Die Oberstaatsanwaltschaft ist keine richterliche Behörde und somit kein oberes
kantonales Gericht (vgl. BGE 135 II 94; Urteile des Bundesgerichts 1C_346/2009
vom 6. November 2009; 2C_360/2009 vom 23. Juni 2009). Es liegt keine der nach
Art. 86 Abs. 2 und 3 BGG zulässigen Ausnahmen vor. Auf die Beschwerde gegen den
Entscheid der Oberstaatsanwaltschaft (Verfahren 1C_444/2009) kann das
Bundesgericht somit mangels Letztinstanzlichkeit nicht eintreten.