Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 I 364



Urteilskopf

136 I 364

37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Müller
gegen Stadtrat Aarau sowie Departement Volkswirt- schaft und Inneres des
Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_253/2010 vom 8. November 2010

Regeste

Wahl eines Einwohnerrates, Verhältniswahlrecht, Sitzzuteilungsverfahren; Art.
34 BV.
Ausgestaltung von Wahlverfahren und Anforderungen an Proporzverfahren im
Allgemeinen (E. 2.1 und 2.2).
Sitzzuteilungsverfahren nach der Methode Doppelter Pukelsheim (E. 3.2) und nach
kantonalem Recht (E. 3.3).
Die Durchführung der einzelnen Operationen zur Bestimmung der Mandate pro Liste
hält vor den Anforderungen von Art. 34 Abs. 2 BV stand (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 364

BGE 136 I 364 S. 364
Die Stadt Aarau und die Gemeinde Rohr fusionierten auf den 1. Januar 2010. Im
Hinblick auf diese Fusion wählten die
BGE 136 I 364 S. 365
Stimmberech tigten am 29. November 2009 den Einwohnerrat Aarau für die
Amtsperiode 2010/13. Entsprechend dem Fusionsvertrag wurde für diese Wahl ein
spezieller Wahlkreis Rohr mit 9 Mandaten gebildet; 41 Sitze waren der
bisherigen Stadt Aarau zugeteilt. Für die Mandatsverteilung kam die Verordnung
des Regierungsrates des Kantons Aargau über die Wahl des Einwohnerrates vom 5.
Dezember 1988 zur Anwendung. Die Wahl ergab folgende Ergebnisse:

Nr.   Partei    Anzahl Sitze
1     FDP       10
2     SP        11
3     SVP       12
4     CVP       3
5     ProAarau  3
6     Grüne     6
7     EVP/EW    2
8     JETZT!    1
9     GLP       2
10    Parteilos 0
Total           50

Mit Beschwerde an das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aarau
verlangte Stephan Müller, dass der Gruppe JETZT! neu 2 Sitze zugeteilt würden
und den Grünen 1 Sitz abgezogen werde. Er bemängelte die Anwendung des
Auszählverfahrens nach der genannten Verordnung.
Das Departement wies die Beschwerde ab. Stephan Müller gelangte erfolglos an
das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau. Dieses wies dessen Beschwerde am 26.
März 2010 ab. Es führte im Wesentlichen aus, dass die angewandte Methode zu
keinen Verletzungen der Zählwertgleichheit, der Stimmkraftgleichheit und der
Erfolgswertgleichheit führe.
Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts hat Stephan Müller beim
Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Er
verlangt die Ermittlung der Stadtratswahl in einer Weise, die dem Wählerwillen
im Gesamtergebnis vollständig und umfassend entspricht, und beansprucht die
Zuteilung von 2 Sitzen an die Gruppe JETZT! zulasten der Grünen. Er macht eine
Verletzung der politischen Rechte durch eine unkorrekte Resultatsermittlung
geltend.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)
BGE 136 I 364 S. 366

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems und des
Wahlverfahrens weitgehend frei. Art. 39 Abs. 1 BV hält fest, dass die Kantone -
entsprechend ihrer Organisationsautonomie - die Ausübung der politischen Rechte
in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten regeln. Diese Zuständigkeit wird
ausgeübt im Rahmen der bundesverfassungsrechtlichen Garantie von Art. 34 BV
sowie nach den Mindestanforderungen gemäss Art. 51 Abs. 1 BV (vgl. zum Ganzen
BGE 136 I 352 E. 2 mit Hinweisen).
Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet die politischen Rechte (auf Bundes- sowie
Kantons- und Gemeindeebene) in abstrakter Weise und ordnet die wesentlichen
Grundzüge der demokratischen Partizipation im Allgemeinen. Der Gewährleistung
kommt Grundsatzcharakter zu. Sie weist Bezüge auf zur Rechtsgleichheit sowie
zur Rechtsweggarantie. Der konkrete Gehalt der politischen Rechte mit ihren
mannigfachen Teilgehalten ergibt sich nicht aus der Bundesverfassung, sondern
in erster Linie aus dem spezifischen Organisationsrecht des Bundes bzw. der
Kantone.
Die in Art. 34 Abs. 2 BV verankerte Wahl- und Abstimmungsfreiheit gibt den
Stimmberechtigten Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt
wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und
unverfälscht zum Ausdruck bringt. Es soll garantiert werden, dass jeder
Stimmberechtigte seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und
umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und entsprechend mit seiner
Stimme zum Ausdruck bringen kann. Die Wahl- und Abstimmungsfreiheit
gewährleistet die für den demokratischen Prozess und die Legitimität
direktdemokratischer Entscheidungen erforderliche Offenheit der
Auseinandersetzung. Sie erfordert zudem, dass Wahl- und Abstimmungsergebnisse
sorgfältig und ordnungsgemäss ermittelt werden (vgl. BGE 131 I 442 mit
Hinweisen).

2.2 In Bezug auf das Wahlsystem in den Kantonen genügen nach der Rechtsprechung
im Grundsatz sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlrecht den
genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen (BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87 mit
Hinweisen). Soweit sich ein Kanton zum Proporzwahlverfahren bekennt, erlangt
die Gewährleistung von Art. 34 Abs. 2 BV, wonach kein Wahlergebnis
BGE 136 I 364 S. 367
anerkannt werden soll, das nicht den freien Willen der Wählenden zuverlässig
und unverfälscht zum Ausdruck bringt, besondere Bedeutung. Ein Proporzverfahren
zeichnet sich dadurch aus, dass es den verschiedenen Gruppierungen eine
Vertretung ermöglicht, die weitgehend ihrem Wähleranteil entspricht. Soweit in
einer Mehrzahl von Wahlkreisen gewählt wird, hängt die Realisierung des
Verhältniswahlrechts u.a. von der Grösse der Wahlkreise und damit
zusammenhängend vom natürlichen Quorum ab. Unterschiedlich grosse Wahlkreise
bewirken zudem, dass im Vergleich unter den Wahlkreisen nicht jeder
Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Genügt die Ausgestaltung
eines Wahlsystems diesen Anforderungen nicht, so ist es - vorbehältlich von
Gründen überkommener Gebietsorganisation - mit den verfassungsrechtlichen
Vorgaben von Art. 34 Abs. 2 BV nicht vereinbar (zum Ganzen BGE 136 I 352 E. 3
mit Hinweisen).

2.3 Der Einwohnerrat der aargauischen Gemeinden wird nach dem
Verhältniswahlrecht gewählt:
Die Mitglieder des Einwohnerrates werden an der Urne gewählt (§ 56 Abs. 2 lit.
a des Gesetzes vom 19. Dezember 1978 über die Einwohnergemeinden
[Gemeindegesetz, GG/AG; SAR 171.100]). Die Wahl erfolgt nach den Grundsätzen
der Wahl des Grossen Rates (§ 61 Abs. 2 der Aargauer Kantonsverfassung [KV/AG;
SR 131. 227]; § 65 Abs. 4 GG/AG). Das Volk bestellt den Grossen Rat nach dem
Verhältniswahlrecht (§ 77 KV/AG; vgl. BGE 131 I 74). Das Proporzverfahren gilt
daher auch für die Wahl des Einwohnerrates. Im Übrigen ordnet eine Verordnung
des Regierungsrates die Wahl des Einwohnerrates (§ 65 Abs. 4 Satz 2 GG/AG).
Die Einwohnerratswahl richtet sich nach der Verordnung des Regierungsrates vom
5. Dezember 1988 über die Wahl des Einwohnerrates (SAR 131.731; im Folgenden:
VO/ER). Diese Verordnung ist auf die umstrittene Wahl angewendet worden. Es
stellt sich die Frage, ob das Wahl- und Auszählungsverfahren im vorliegenden
Verfahren den bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Der
Beschwerdeführer ersucht ausdrücklich um eine vorfrageweise Überprüfung der
kantonalen Ordnung. Hierfür ist vorerst das Wahl- und Auszählverfahren
darzustellen.

3. Beschwerdegegenstand bildet die Wahl des Einwohnerrates der fusionierten
Gemeinden Aarau und Rohr mit insgesamt 50 Mitgliedern. Für diese erstmalige
Wahl wurden zwei Wahlkreise gebildet:
BGE 136 I 364 S. 368
9 Mandate fallen auf den Wahlkreis Rohr, 41 Mandate auf den Wahlkreis Aarau.
Wie dargelegt, gilt für die Wahl das Proporzverfahren.

3.1 Das für die Wahl des Einwohnerrates zur Anwendung gelangende
Proporzverfahren ist in der Verordnung über die Wahl des Einwohnerrates näher
ausgeführt. Es richtet sich nicht nach der weit verbreiteten Methode
Hagenbach-Bischoff durch Auszählung in den einzelnen Wahlkreisen (vgl. BGE 129
I 185 E. 7.1.1 S. 197), sondern nach dem Zuteilungsverfahren Doppelter
Pukelsheim (auch bi- oder doppeltproportionales Zuteilungsverfahren oder neues
Zürcher Zuteilungsverfahren genannt).

3.2 Im Anschluss an das Urteil BGE 129 I 185 entwickelte der Mathematiker
Friedrich Pukelsheim für den Kanton Zürich ein neues Zuteilungsverfahren.
Dieses soll unter Beibehaltung der traditionellen, unterschiedlich grossen
Wahlkreise eine parteiproportionale Sitzzuteilung ermöglichen und damit sowohl
die Verhältnismässigkeit zwischen den Parteien als auch die
Verhältnismässigkeit zwischen den Wahlkreisen wahren. Die Parteien mit ihren
Listen wie auch die Wahlkreise werden proportional vertreten (vgl. zum Ganzen:
PUKELSHEIM/SCHUHMACHER, Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für
Parlamentswahlen, AJP 2004 S. 505, insb. S. 511 ff.; Wikipedia, Doppelter
Pukelsheim, < http://www.wikipedia.org> [besucht am 25. Oktober 2010];
Wikipedia, Sitzzuteilungsverfahren, < http://www.wikipedia.org> [besucht am 25.
Oktober 2010]).
Im Einzelnen wird die Zuteilung von Mandaten zu Listen und Wahlkreisen vorerst
durch eine Oberzuteilung, hernach durch eine Unterzuteilung vorgenommen. Ziel
der Oberzuteilung ist es, vorerst wahlkreisübergreifend auf Kantonsebene die
Mandate den Listen und Parteien zuzuordnen. Die Oberzuteilung zerfällt wiederum
in zwei Schritte. In Anbetracht der unterschiedlichen Grösse der Wahlkreise und
der unterschiedlich vielen Stimmen in den Wahlkreisen müssen die Stimmen, die
auf eine Liste fallen, vor ihrer kantonalen Addition unter Berücksichtigung der
Sitze in den einzelnen Wahlkreisen gewichtet werden. Hierfür werden die auf die
einzelnen Listen entfallenden Stimmen durch die Anzahl der Mandate im Wahlkreis
dividiert. Diese Operation, die für jeden Wahlkreis einzeln durchgeführt wird,
führt zur Wählerzahl der Liste pro Wahlkreis oder Wahlkreis-Wählerzahl der
Liste. Sie repräsentiert die gewichtete Anzahl der Stimmen, die eine Liste in
einem Wahlkreis erhalten hat. Die errechnete Zahl wird zur nächsten ganzen Zahl
BGE 136 I 364 S. 369
standard mässig auf- oder abgerundet. Eine grössere Zahl als 0,5 wird auf 1
aufgerundet, eine kleinere als 0,5 auf 0 abgerundet. Diese Wählerzahlen werden
daraufhin kantonal pro Liste zusammengezählt. Das ergibt auf Kantonsebene die
Gesamt-Wählerzahlen der Listen. Diese zeigen die Anzahl der Stimmen auf, die
einer Liste im ganzen Wahlgebiet zukommen.
Diese Gesamt-Wählerzahlen werden hernach in einem zweiten Schritt auf die
Mandate der einzelnen Listen umgebrochen. Dies führt auf Kantonsebene zur
Anzahl der Sitze, die einer Liste zukommt. Hierfür kommt ein Divisorverfahren
mit Standardrundung zur Anwendung. Es ist in Abhängigkeit der Gesamtzahl der
Wählerzahlen und der zu vergebenden Sitze ein (nicht im Voraus bestimmter)
Divisor zu bestimmen und auszuweisen, der es gesamthaft erlaubt, sämtliche
Sitze den Listen zuzuordnen, keiner zu viel und keiner zu wenig. Dieser Divisor
wird auch Wahlschlüssel genannt. Die Gesamt-Wählerzahlen pro Liste werden durch
diesen Divisor geteilt. Die sich ergebenden Zahlen werden wiederum
standardmässig auf- oder abgerundet. Damit ist die Oberzuteilung abgeschlossen.
Bei der Unterzuteilung geht es darum, die Resultate aus der Oberzuteilung auf
die Wahlkreise und die Wahlkreis-Listen zu verteilen. Hierfür gelangt erneut
ein Divisorverfahren mit Standardrundung zur Anwendung. Zum einen wird für
jeden Wahlkreis ein Wahlkreis-Divisor bestimmt, der es erlaubt, alle Mandate
pro Wahlkreis zu verteilen. Zum andern wird ein Listen-Divisor bestimmt, der
die Mandate pro Liste im Wahlkreis festlegt. Das Resultat dieser
doppeltproportionalen Operation zeigt auf, wie viele Mandate einer Liste in
einem Wahlkreis zufallen.

3.3 Dieses Sitzzuteilungsverfahren kommt im Kanton Aargau auch bei der Wahl des
Einwohnerrates zur Anwendung, wenn, wie im vorliegenden Fall, das Wahlgebiet
mehr als einen Wahlkreis aufweist. Ausgangspunkt bildet die Zuteilung der
Mandate an die Wahlkreise (vgl. § 3a VO/ER). Bei der umstrittenen Wahl kommen
dem Wahlkreis Rohr 9 Mandate, dem Wahlkreis Aarau 41 Mandate für den
Einwohnerrat mit insgesamt 50 Mitgliedern zu.
Geordnet ist das Sitzzuteilungsverfahren in der erwähnten Verordnung über die
Wahl des Einwohnerrates. Die Bestimmungen zur Sitzverteilung haben folgenden
Wortlaut:
BGE 136 I 364 S. 370
§ 27
Oberzuteilung auf die Listen bzw. Listengruppen
^1
Bei Wahlen in Gemeinden mit einem Wahlkreis wird die Parteistimmenzahl einer
Liste durch den Gemeinde-Wahlschlüssel geteilt und zur nächstgelegenen ganzen
Zahl gerundet. Das Ergebnis bezeichnet die Zahl der Sitze der betreffenden
Liste. Eine Unterzuteilung gemäss § 27a findet nicht statt.
^2
Bei Wahlen in Gemeinden mit mehreren Wahlkreisen bilden die Listen mit gleicher
Bezeichnung im Gemeindegebiet eine Listengruppe.
^3
Bei Wahlen in Gemeinden mit mehreren Wahlkreisen wird die Parteistimmenzahl
einer Liste durch die Zahl der im betreffenden Wahlkreis zu vergebenden Mandate
geteilt und zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis heisst
Wählerzahl der Liste. In jeder Listengruppe werden die Wählerzahlen der Listen
zusammengezählt. Die Summe wird durch den Gemeinde-Wahlschlüssel geteilt und
zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis bezeichnet die Zahl der
Sitze der betreffenden Listengruppe.
^4
Das Wahlbüro berechnet den Gemeinde-Wahlschlüssel so, dass sich beim Vorgehen
nach Absatz 1 oder 3 genau die Zahl der in der Gemeinde zu vergebenden Sitze
ergibt.
^5
Kommt es zu gleichwertigen Rundungsmöglichkeiten, entscheidet das Los.
§ 27a
Unterzuteilung auf die Listen
^1
Bei Wahlen in Gemeinden mit mehreren Wahlkreisen wird die Parteistimmenzahl
einer Liste durch den Wahlkreis-Divisor und den Listengruppen-Divisor geteilt
und zur nächstgelegenen ganzen Zahl gerundet. Das Ergebnis bezeichnet die Zahl
der Sitze dieser Liste.
^2
Das Wahlbüro legt für jeden Wahlkreis einen Wahlkreis-Divisor und für jede
Listengruppe einen Listengruppen-Divisor so fest, dass bei einem Vorgehen
gemäss Absatz 1
a) jeder Wahlkreis die ihm vom Gemeinderat zugewiesene Zahl von Mandaten
erhält,
b) jede Listengruppe die ihr gemäss Oberzuteilung zustehende Zahl von Sitzen
erhält.
^3
Kommt es zu gleichwertigen Rundungsmöglichkeiten, entscheidet das Los.

4. Im vorliegenden Fall ist nicht die Unterzuteilung auf die Listen und
Wahlkreise streitig. Der Beschwerdeführer macht vielmehr geltend, die
Oberzuteilung benachteilige durch die Art ihrer Durchführung die Gruppe JETZT!,
bevorteile die Grünen, stehe damit mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts
in Widerspruch und halte vor Art. 34 BV nicht stand.
BGE 136 I 364 S. 371

4.1 Im Einzelnen beanstandet der Beschwerdeführer, dass die
Wahlkreis-Wählerzahlen der Listen entsprechend § 27 Abs. 3 VO/ER gerundet
werden, bevor sie zur Gesamt-Wählerzahl für das ganze Gemeindegebiet
zusammengezählt werden. Er belegt mit einer selbst errechneten Liste, dass die
Gruppe JETZT! durch die Rundung der Wählerzahlen auf eine ganze Zahl
benachteiligt werde und dass sie einen zusätzlichen Sitz erhalten würde, wenn
die Wählerzahlen der Listen ungerundet zur Gesamt-Wählerzahl zusammengezählt
würden und erst diese Gesamt-Wählerzahl zur nächstgelegenen ganzen Zahl
gerundet würde.
[displayimage]
Das vom Beschwerdeführer erstellte Berechnungsblatt präsentiert sich wie folgt.
Die Liste weist in Kolonne 2 die Parteistimmen in den beiden Wahlkreisen aus.
In Kolonne 3 und 4 werden die Wählerzahlen der Listen in den beiden Wahlkreisen
aufgeführt. Hierfür wird angegeben "exakt" bzw. "ger." (gerundet). Dabei
bedeutet "gerundet", dass die aus der mathematischen Operation sich ergebende
Zahl gemäss Verordnung auf eine ganze Zahl gerundet ist. "Exakt" bedeutet im
vorliegenden Fall, dass mit einer Rundung auf zwei Stellen nach dem Komma eine
exaktere und ungebrochene Zahl gebildet wird.

4.2 Zu der vom Beschwerdeführer beanstandeten Rundung bei der Berechnung der
Wahlkreis-Wählerzahlen pro Liste führen PUKELSHEIM/SCHUHMACHER aus, diese mache
die Wählerzahl zu einer ganzen Zahl und erlaube die Interpretation, dass eine
bestimmte Zahl von
BGE 136 I 364 S. 372
Wählern hinter der Liste stehen. Sie räumen ein, dass auch mit gebrochenen
Wählerzahlen weitergerechnet werden könnte. Doch sei es unschön, zu sagen, dass
in einem Wahlkreis so und so viel Wählerbruchteile hinter einer Liste stehen.
Zudem seien die durch die Rundung auftretenden Abweichungen äusserst gering und
selten (PUKELSHEIM/SCHUHMACHER, a.a.O., S. 514 und Fn. 50).
Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Entscheid darauf hingewiesen, dass
die Standardrundung ein mathematischer Vorgang sei. Es falle ein zufälliges
Resultat der für die Berechnung der Wählerzahl erforderlichen Division an.
Damit treffe die Rundung alle Stimmberechtigten gleich. Jedes
Zuteilungsverfahren sei systemimmanent auf Rundungen angewiesen. Die
Argumentation, dass die Wählerzahl - als Anzahl von Personen, die im Wahlkreis
hinter einer Liste stehe - eine ganze Zahl sein solle, leuchte ein. Die
marginale Verschiebung in äusserst seltenen Einzelfällen könne hingenommen
werden. Die Erfolgswertgleichheit werde durch das angewendete Vorgehen nicht
verletzt. Die Rundung gemäss § 27 Abs. 3 VO/ER führe insoweit nicht zu einem
verfassungswidrigen Ergebnis.

4.3 Der Beschwerdeführer geht zur Begründung seiner Beschwerde vorerst davon
aus, es gehöre zur Wahl- und Abstimmungsfreiheit gemäss Art. 34 Abs. 2 BV, dass
Wahl- und Abstimmungsergebnisse sorgfältig und ordnungsgemäss ermittelt werden
(vgl. BGE 131 I 442 E. 3.1 S. 447). Damit aber sei die beanstandete Rundung bei
der Bestimmung der Wählerzahl nicht vereinbar. Damit lässt er ausser Acht, was
Resultatsermittlung ist und was zur Resultatsauswertung gehört. Die eigentliche
Ermittlung der Wahlresultate ist nicht umstritten. Es wird von keiner Seite in
Frage gestellt, dass - wie die Aufstellung des Beschwerdeführers zeigt - die
Grünen in Aarau 21'464 und in Rohr 716 Stimmen, die Gruppe JETZT! in den beiden
Wahlkreisen 6'403 und 76 Stimmen erhalten haben. Die Bestimmung der
Wählerzahlen, bei denen eine Rundung vorgenommen worden ist, gehört bereits zur
Resultatsauswertung. Sie stellt, wie dargelegt, den ersten von mehreren
Schritten dar, um zu einer Zuordnung von Mandaten zu Listen und Wahlkreisen zu
gelangen. Es kann daher nicht gesagt werden, die angefochtenen Wahlresultate
beruhten auf einer unsorgfältigen und ordnungswidrigen Ermittlung der
Wählerstimmen. Vor diesem Hintergrund erweist sich auch der vom
Beschwerdeführer gezogene Vergleich mit eidgenössischen Abstimmungen als
unbehelflich.
BGE 136 I 364 S. 373

4.4 Für die Beurteilung der vorgetragenen Beanstandung gilt es vorerst, den
hierfür massgeblichen Massstab zu bestimmen. Es kann nicht darum gehen, die
Rundungsbestimmung von § 27 Abs. 3 VO/ ER rein mathematisch auf eine optimale
Ausgestaltung hin zu prüfen. Hingegen kann sie einerseits am übergeordneten
Gesetzesrecht, andererseits am Verfassungsrecht gemessen werden.
Wie dargelegt (E. 2.3), schreibt das Gemeindegesetz für die Wahl des
Einwohnerrates das Proporzverfahren vor. Insoweit könnte aufgrund von Art. 95
lit. d BGG gerügt werden, § 27 Abs. 3 VO/ER sei falsch angewendet worden oder
sei mit dem Gemeindegesetz nicht vereinbar und dies führe insoweit im konkreten
Verfahren zu einer Verletzung der politischen Rechte. Solche Rügen werden in
der Beschwerdeschrift nicht erhoben. Es kann denn auch nicht gesagt werden, die
Verordnung sei fehlerhaft angewendet worden oder die Umsetzung des
Zuteilungsverfahrens nach dem System Doppelter Pukelsheim durch die genannte
Verordnung sei unsachgemäss.

4.5 Es ist daher zu prüfen, ob die Anwendung von § 27 Abs. 3 VO/ER im
vorliegenden Fall vor den verfassungsrechtlichen Garantien standhält, wie sie
sich mit Blick auf das Proporzverfahren aus Art. 34 BV in Verbindung mit Art. 8
Abs. 1 BV ergeben.
Unter dem Gesichtswinkel der Gleichheit zeigt die obenstehende Liste, dass alle
Parteien von Rundungen betroffen sind. Bei der Gruppe JETZT! ist die Wählerzahl
bei Werten von 156.17 und 8.44 abgerundet worden. Entsprechende Abrundungen
haben auch andere Parteien in Kauf nehmen müssen. Bei einem parteilosen
Kandidaten ist gar von 47.49 abgerundet worden. Umgekehrt profitierten von den
Aufrundungen nicht nur die Grünen mit Werten von 523.51 und 79.56, sondern auch
andere Parteien wie die ProAarau und die EVP/EW mit Werten von 286.66 und 78.67
sowie 222.68 und 45.56. Diese Liste mit Rundungen nach oben und nach unten
widerspiegelt den Umstand, dass eine Sitzzuteilung ohne Rundungen nicht möglich
ist. Entsprechende Rundungen sind für jedes Auszählverfahren nach Proporz
erforderlich und daher, wie das Verwaltungsgericht ausführt, jeder Methode
systemimmanent. Sie können daher weder mit Blick auf die Rechtsgleichheit noch
unter dem Gesichtswinkel der Proportionalität in Frage gestellt werden. Es
zeigt sich denn auch, dass die Rundungen eine blosse Zufälligkeit eines
mathematischen Vorgangs darstellen, welche in keiner Weise voraussehbar oder
kalkulierbar ist. Damit ist auch ausgeschlossen, dass die
BGE 136 I 364 S. 374
Parteien mit diesem Phänomen rechnen und es ihrer Taktik zugrunde legen
könnten.
Im vorliegenden Fall zeigt sich allerdings, dass die Rundung der Wählerzahlen,
wie sie gestützt auf die erwähnte Verordnung und nach dem System des Doppelten
Pukelsheim vorgenommen worden ist, Einfluss auf die Sitzzuteilung hat. Dieser
Umstand bewirkt indes, für sich allein genommen, keine Verfassungsverletzung.
Vorerst gilt es zu berücksichtigen, dass die Standardrundung auf die nächste
ganze Zahl dem Sitzzuteilungsverfahren des Doppelten Pukelsheim in
verschiedener Hinsicht zugrunde liegt. Andere Systeme nehmen im Zuge der
verschiedenen mathematischen Operationen andere Rundungen vor, bewirken daher
andere Verschiebungen und vermögen, wie etwa das System Hagenbach-Bischoff
(vgl. BGE 129 I 185 E. 7.1.1 S. 197), nach der Rechtsprechung den
verfassungsrechtlichen Anforderungen im Grundsatz gleichwohl zu genügen. Bei
dieser Sachlage kommt der Begründung der Rundung, wonach die Wählerzahl als
Zahl der Parteistimmen hinter einer Liste eine ganze Zahl darstellen soll,
durchaus Bedeutung zu. So sollen "Bruchteils-Wähler" in den Wahlkreisen
vermieden werden. Das lässt sich mit dem Verständnis von Wahlverfahren und von
Wahlergebnissen durch die Stimmberechtigten rechtfertigen.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass das Verfassungsrecht dem Gemeinwesen
bei der Auswahl und Bestimmung von Wahl- und Auszählsystemen einen Spielraum
belässt. Das gilt selbst unter dem Verhältniswahlrecht. Das Verfassungsrecht
stellt keine exakte Wissenschaft dar, welche mathematisch zum "einzig richtigen
System" führen würde. Selbst die Mathematik bemüht sich seit langer Zeit mit
verschiedenartigen Modellen um optimale Sitzverteilungsmethoden. Das
Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Proporzverfahren als Richtgrösse
gefordert, dass das natürliche Quorum in den unterschiedlichen Wahlkreisen (bei
der Auszählung nach Hagenbach-Bischoff) den Wert von 10 % nicht übersteigen und
die Grösse der Wahlkreise im Vergleich untereinander nicht zu stark voneinander
abweichen dürfe (zum Ganzen BGE 136 I 352 E. 3.5 mit Hinweisen; BGE 131 I 74 E.
5.4 S. 83). Auch unter diesen Prämissen führen die Wahl- und Auszählverfahren
nicht zu einer maximalen Proportionalität. Immerhin ermöglichen sie den
Gruppierungen Vertretungen, die weitgehend deren Wähleranteilen entsprechen
(vgl. BGE 136 I 352 E. 3.4). Trotz ihren Schwächen
BGE 136 I 364 S. 375
werden sie mit den sich aus Art. 34 BV in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 BV
ergebenden Anforderungen als vereinbar betrachtet.
Gleich verhält es sich mit der vorliegenden Konstellation. Das System Doppelter
Pukelsheim bezweckt eine optimale Verhältnismässigkeit unter den Parteien wie
auch unter den (unterschiedlich grossen) Wahlkreisen. Der Beschwerdeführer
räumt selber ein, dass diese Sitzzuteilungsmethode das Verhältniswahlrecht gut
umsetzt. Unter Berücksichtigung der von ihm aufgedeckten Konstellation könnte
möglicherweise die Proportionalität noch weiter optimiert werden, wenn auf die
Rundung auf eine ganze Zahl bei der Bestimmung der Wahlkreis-Wählerzahl
verzichtet und für die Addition zur Gesamt-Wählerzahl mit gebrochenen Zahlen
gerechnet würde. Es obliegt dem Gesetz- oder Verordnungsgeber, solche Modelle
zu prüfen, auf allfällige andere Konsequenzen hin zu klären und allenfalls
gesetzgeberisch umzusetzen. Es liegt indessen für sich genommen keine
Verfassungsverletzung vor, wenn auf diese weitere Differenzierung verzichtet
wird und die Verordnung zum Erhalt von ganzen Wählerzahlen Rundungen auf die
nächste ganze Zahl vorsieht. Es ist nicht geklärt, ob die vom Beschwerdeführer
bevorzugte Methode im Einzelfall und ein Verzicht auf eine Rundung bei der
Bestimmung der Wahlkreis-Wählerzahl im Allgemeinen andere Unstimmigkeiten
hervorrufen könnten. Auch unter diesem Gesichtswinkel kann dem
Verwaltungsgericht keine Verfassungsverletzung vorgehalten werden, wenn es von
einer Korrektur von § 27 Abs. 3 VO/ER abgesehen hat und im vorliegenden Fall
darauf verzichtet hat, der Verordnungsbestimmung die Anwendung zu versagen.
Bei dieser Sachlage verstossen die vom Beschwerdeführer beanstandeten
Wahlresultate und der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts nicht
gegen Art. 34 BV in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 BV. Die Beschwerde erweist
sich damit als unbegründet.