Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 I 352



Urteilskopf

136 I 352

36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Grüne
Nidwalden und Mitb. gegen Kanton Nidwalden (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_541/2009 vom 7. Juli 2010

Regeste

Verfahren für die Wahl des Landrates, Verhältniswahlrecht, Wahlkreiseinteilung;
Art. 34 BV.
Ausgestaltung der Wahlverfahren durch die Kantone vor dem Hintergrund der
Bundesverfassung (E. 2).
Proporzverfahren nach dem Recht des Kantons Nidwalden (E. 3.1-3.3).
Anforderungen an Proporzverfahren im Allgemeinen (E. 3.4).
Das kantonale Wahlverfahren ist mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts
unvereinbar (E. 3.5), lässt sich durch keine Gründe überkommener
Gebietsorganisation rechtfertigen (E. 4) und hält vor der Bundesverfassung
nicht stand (E. 5.1).
Appellentscheid im Hinblick auf die nächste Wahl des Landrates (E. 5.2).

Sachverhalt ab Seite 353

BGE 136 I 352 S. 353
Im Hinblick auf die Wahl des Landrates des Kantons Nidwalden von 2010 legte der
Regierungsrat des Kantons Nidwalden mit Beschluss vom 24. März 2009 die Zahl
der in jeder politischen Gemeinde zu wählenden Mitglieder des Landrates fest
(NG 132.12; Amtsblatt Nr. 14 vom 1. April 2009 S. 489 ff.). Er stützte sich
dabei auf Art. 65 der Kantonsverfassung und Art. 53 des Wahl- und
Abstimmungsgesetzes. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:
"1. Aufgrund der kantonalen Einwohnerstatistik vom 31. Dezember 2008 haben in
den Landrat des Kantons Nidwalden zu wählen:

Politische Gemeinde Einwohner Landratsmitglieder
Stans               7'775     11
Ennetmoos           2'035     3
Dallenwil           1'771     3
Stansstad           4'460     6
Oberdorf            3'133     5
Buochs              5'296     8
Ennetbürgen         4'259     6
Wolfenschiessen     2'018     3
Beckenried          3'229     5
Hergiswil           5'402     8
Emmetten            1'215     2

Diese Mandatsverteilung findet bei der Gesamterneuerungswahl des Landrates im
Jahre 2010 Anwendung. (...)"
BGE 136 I 352 S. 354
Diesen Regierungsratsbeschluss fochten die "Grünen Nidwalden" und zwei
Stimmbürger beim Verfassungsgericht des Kantons Nidwalden wegen Verletzung der
Bundes- und der Kantonsverfassung an. Dieses wies die Beschwerde am 27. Oktober
2009 ab. Es kam zum Schluss, dass die Wahlkreiseinteilung mit stark voneinander
abweichenden Mandatszahlen den Anforderungen von Art. 34 i.V.m. Art. 8 BV an
sich nicht genüge, indessen in Anbetracht der historischen Verhältnisse mit der
Verfassung im Einklang stehe.
Gegen diesen Entscheid haben die Abgewiesenen beim Bundesgericht in der Form
von Art. 82 lit. c BGG Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
erhoben. Sie beantragen die Aufhebung des angefochtenen Urteils und ersuchen um
entsprechende Feststellung und um Vorkehren für die Gesamterneuerungswahl des
Landrates von 2014. Sie machen geltend, das bestehende Wahlverfahren mit sehr
unterschiedlich grossen Wahlkreisen verletze die Verfassung und werde durch
keine historischen Verhältnisse gerechtfertigt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen teilweise gut
und stellt fest, dass das Proporzwahlverfahren des Kantons Nidwalden für die
Wahl des Landrates vor der Bundesverfassung nicht standhalte.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen Systems und des
Wahlverfahrens weitgehend frei. Art. 39 Abs. 1 BV hält fest, dass die Kantone -
entsprechend ihrer Organisationsautonomie - die Ausübung der politischen Rechte
in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten regeln. Diese Zuständigkeit wird
ausgeübt im Rahmen der bundesverfassungsrechtlichen Garantie von Art. 34 BV
sowie nach den Mindestanforderungen gemäss Art. 51 Abs. 1 BV (vgl. ANDREAS
KLEY, in: Die Schweizerische Bundesverfassung - Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 2
und 5 zu Art. 39 BV).
Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet die politischen Rechte (auf Bundes- sowie
Kantons- und Gemeindeebene) in abstrakter Weise und ordnet die wesentlichen
Grundzüge der demokratischen Partizipation im Allgemeinen. Der Gewährleistung
kommt Grundsatzcharakter zu. Sie weist Bezüge auf zur Rechtsgleichheit sowie
zur
BGE 136 I 352 S. 355
Rechtsweggarantie. Der konkrete Gehalt der politischen Rechte mit ihren
mannigfachen Teilgehalten ergibt sich nicht aus der Bundesverfassung, sondern
in erster Linie aus dem spezifischen Organisationsrecht des Bundes bzw. der
Kantone (vgl. zum Ganzen BGE 134 I 199 E. 1.2 S. 201; BGE 131 I 74 E. 3.1 S.
78, BGE 135 I 442 E. 3.1 S. 446; BGE 129 I 185 E. 3.1 S. 190 und E. 7.2 S. 199;
BGE 125 I 21 E. 3d/dd S.32; BGE 124 I 55 E. 5a S. 62; Urteil 1P.537/2001 vom
26. Februar 2002 E. 2, in: ZBl 103/2002 S. 537; je mit Hinweisen; GEROLD
STEINMANN, in: Die Schweizerische Bundesverfassung - Kommentar, 2. Aufl. 2008,
N. 4 ff. zu Art. 34 BV). Die in Art. 34 Abs. 2 BV verankerte Wahl- und
Abstimmungsfreiheit gibt den Stimmberechtigten Anspruch darauf, dass kein
Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der
Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Es soll
garantiert werden, dass jeder Stimmberechtigte seinen Entscheid gestützt auf
einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und
entsprechend mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen kann. Die Wahl- und
Abstimmungsfreiheit gewährleistet die für den demokratischen Prozess und die
Legitimität direktdemokratischer Entscheidungen erforderliche Offenheit der
Auseinandersetzung (BGE 135 I 292 E. 2 S. 293, BGE 135 I 19 E. 2.1 S. 21; je
mit Hinweisen).
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, welche politischen Rechte die Nidwaldner
Rechtsordnung gewährt und wie diese vor den Grundsätzen der Bundesverfassung zu
beurteilen sind.

3.

3.1 Die Verfassung und die Gesetzgebung des Kantons Nidwalden enthalten zur
Frage der Wahl des Landrates folgende Bestimmungen:
Verfassung des Kantons Nidwalden (KV/NW; SR 131.216.2):
Art. 42 Wahlen
Die Wahlen sind als Mehrheitswahlen durchzuführen, soweit durch das Gesetz
nicht die Verhältniswahl eingeführt wird.
Art. 50 Ausübung des Stimm- und Wahlrechts
^1 Die Aktivbürgerinnen und Aktivbürger üben ihr Stimm- und Wahlrecht in den
Politischen Gemeinden aus. (...)
Art. 51 Wahlen
Die Stimmberechtigten wählen:
1. den Landrat; (...)
BGE 136 I 352 S. 356
Art. 57 Zusammensetzung (des Landrates)
Der Landrat besteht aus 60 Mitgliedern.
Art. 58 Wahlkreise
^1 Für die Wahlen in den Landrat bildet jede politische Gemeinde einen
Wahlkreis.
^2 Jeder Wahlkreis wählt nach den Vorschriften des Gesetzes die Mitglieder, die
ihm aufgrund der Einwohnerzahl zukommen; (...)
^3 Jeder Wahlkreis hat Anspruch auf mindestens zwei Sitze.
Gesetz über die Verhältniswahl des Landrates vom 26. April 1981 (NG 132.1; im
Folgenden: Proporzgesetz):
Art. 1 Grundsatz
^1 Die Wahlen in den Landrat sind nach Massgabe der Gesetzgebung durch die
Politischen Gemeinden durchzuführen.
^2 Die Wahlen in den Landrat erfolgen durch die Urnenabstimmung getrennt von
der Gemeindeversammlung nach dem Verhältniswahlverfahren.
Art. 22 Verteilung der Sitze auf die Listen
^1 Die Zahl der gültigen Listenstimmen aller Listen wird durch die um eins
vermehrte Zahl der zu vergebenden Sitze geteilt; das Ergebnis, auf die nächste
ganze Zahl aufgerundet, bildet die massgebende Verteilungszahl.
^2 Jeder Liste werden so viele Sitze zugeteilt, als die Verteilungszahl in
ihrer Stimmenzahl enthalten ist.
^3 Die verbliebenen Sitze werden wie folgt verteilt: die Stimmenzahl jeder
Liste wird durch die um eins vermehrte Zahl der ihr schon zugewiesenen Sitze
geteilt; der Liste, die dabei die grösste Zahl erreicht, wird ein weiterer Sitz
zugeteilt; dieses Verfahren wird wiederholt, bis alle Sitze verteilt sind.
Vollzugsverordnung vom 13. November 1981 zum Gesetz über die Verhältniswahl des
Landrates (Proporzverordnung; NG 132.11):
§ 1 Wahlkreis
Jede politische Gemeinde bildet einen Wahlkreis.
Gesetz vom 26. März 1997 über die politischen Rechte im Kanton (Wahl- und
Abstimmungsgesetz; NG 132.2):
Art. 53 Wahlkreis (für die Wahl des Landrates)
Die Einteilung der Wahlkreise richtet sich nach Art. 58 der Kantonsverfassung.
Art. 56 Sitzzahl
^1 Jeder Wahlkreis erhält zunächst so viele Sitze, als die Wahlzahl in der Zahl
der Einwohnerinnen und Einwohner des Wahlkreises enthalten ist.
BGE 136 I 352 S. 357
^2 Die auf diese Weise nicht zugeteilten Sitze fallen den Wahlkreisen mit den
grössten Restzahlen zu; bei gleichen Restzahlen entscheidet das vom Landammann
zu ziehende Los über die Zuteilung des betreffenden Restmandates.
^3 Jeder Wahlkreis hat Anspruch auf mindestens zwei Sitze; Wahlkreise, die
sonst nicht mindestens auf zwei Sitze kommen, erhalten die letzten Restmandate.
^4 Der Regierungsrat stellt in dem der Wahl vorausgehenden Kalenderjahr durch
Beschluss fest, wie viele Mitglieder des Landrates in jedem Wahlkreis zu wählen
sind.

3.2 Im Ausgangspunkt ergibt sich aus diesen Bestimmungen, dass die
Kantonsverfassung keine Proporzwahl vorschreibt, sondern im Grundsatz von
Majorzwahlen ausgeht und überdies die politischen Gemeinden als Wahlkreise mit
einer Mindestgarantie von zwei Sitzen bezeichnet. Sie behält indes mit Art. 42
die Einführung der Verhältniswahl durch Gesetz vor, ohne hierfür Näheres zu
bestimmen. Davon hat der Gesetzgeber mit dem Proporzgesetz Gebrauch gemacht
(Art. 1 Abs. 2 und Art. 22 Proporzgesetz). Jeder Wahlkreis wählt nach den
Vorschriften des Gesetzes die Mitglieder, die ihm aufgrund der Einwohnerzahl
zukommen (Art. 58 Abs. 2 KV/NW). Die Wahlzahl ergibt sich, indem die Zahl der
Kantonseinwohner durch die Mandatszahl 60 geteilt und das Ergebnis auf die
nächste Zahl aufgerundet wird (Art. 55 Wahl- und Abstimmungsgesetz). Das in den
Art. 21-23 Proporzgesetz niedergelegte Wahlverfahren folgt der Methode
"Hagenbach-Bischoff" (siehe dazu BGE 129 I 185 E. 7.1.1 S. 197).

3.3 Es zeigt sich im vorliegenden Fall, dass das auf Gesetzesstufe im Kanton
Nidwalden eingeführte Wahlverfahren kein reines Proporzverfahren darstellt. Ein
reines Verhältniswahlrecht würde voraussetzen, dass der Kanton entweder in
möglichst grosse und gleiche Wahlkreise mit vielen Sitzen eingeteilt, der
Kanton ohne Unterteilung gar einen Einheitswahlkreis bilden oder weitere,
nachfolgend zu erläuternde Massnahmen auf Gesetzesstufe vorgekehrt würden (vgl.
BGE 131 I 74 E. 3.3 S. 79 f.; BGE 125 I 21 E. 3d/dd S. 33; Urteil 1P.537/2001
vom 26. Februar 2002 E. 3.4, in: ZBl 103/2002 S. 537).

3.4 Ein Proporzverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass es den verschiedenen
Gruppierungen eine Vertretung ermöglicht, die weitgehend ihrem Wähleranteil
entspricht (BGE 107 Ia 217 E. 3a S. 220; Urteil 1P.671/1992 vom 8. Dezember
1993 E. 3, in: ZBl 95/1994 S. 479). Die Realisierung des Verhältniswahlrechts
hängt u.a. von
BGE 136 I 352 S. 358
der Grösse der Wahlkreise ab. Je mehr Mandate einem Wahlkreis zustehen, desto
tiefer ist das natürliche Quorum, d.h. der Stimmenanteil, den eine Liste
benötigt, um bei der ersten Sitzverteilung einen Sitz zu erhalten. Ein tiefes
natürliches Quorum trägt dazu bei, dass alle massgeblichen politischen Kräfte
nach Massgabe ihrer Parteistärke im Parlament Einsitz nehmen können. Umgekehrt
gilt, dass je weniger Mandate einem kleinen Wahlkreis zugeteilt werden, desto
höherer Wähleranteile es bedarf, um ein Mandat zu erreichen (BGE 131 I 74 E.
3.3 S. 80; vgl. zum Begriff des natürlichen Quorums BGE 129 I 185 E. 7.1 S. 197
f.). Hohe natürliche Quoren bewirken, dass nicht bloss unbedeutende
Splittergruppen, sondern auch Minderheitsparteien mit einem gefestigten
Rückhalt in der Bevölkerung von der Mandatsverteilung ausgeschlossen bleiben (
BGE 129 I 185 E. 7.6.1 S. 201).
Unterschiedlich grosse Wahlkreise bewirken zudem, dass im Vergleich unter den
Wahlkreisen nicht jeder Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Je
kleiner ein Wahlkreis - im Vergleich mit einem Wahlkreis mit vielen Sitzen -
ist, desto grösser ist das natürliche Quorum und damit die Zahl der Wähler, die
mit der Wahl nicht vertreten sind und deren Stimmen gewichtlos bleiben (BGE 131
I 74 E. 3.3 S. 80).

3.5 Gestützt auf den massgeblichen Zeitpunkt ermittelte der Regierungsrat mit
dem zugrunde liegenden Beschluss für die Landratswahlen 2010 die Verteilung der
Mandate auf die Gemeinden folgendermassen (vgl. Sachverhalt):

Politische Gemeinde Einwohner Landratsmitglieder
Stans               7'775     11
Ennetmoos           2'035     3
Dallenwil           1'771     3
Stansstad           4'460     6
Oberdorf            3'133     5
Buochs              5'296     8
Ennetbürgen         4'259     6
Wolfenschiessen     2'018     3
Beckenried          3'229     5
Hergiswil           5'402     8
Emmetten            1'215     2

BGE 136 I 352 S. 359
Daraus ergeben sich je Gemeinde die nachfolgenden natürlichen Quoren:

Politische Gemeinde Stimmenanteil in % für 1 Sitz
Stans               8,3
Ennetmoos           25,0
Dallenwil           25,0
Stansstad           14,3
Oberdorf            16,6
Buochs              11,1
Ennetbürgen         14,3
Wolfenschiessen     25,0
Beckenried          16,6
Hergiswil           11,1
Emmetten            33,3

Die natürlichen Quoren liegen - abgesehen vom Wahlkreis Stans - durchwegs über
10 %. In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind vorerst natürliche Quoren
von 33,33 %, 20 % bzw. 16,66 % als verfassungswidrig qualifiziert worden. In
Fortführung dieser Rechtsprechung und um der Rechtssicherheit willen hat das
Bundesgericht festgehalten, dass natürliche Quoren (wie auch direkte,
gesetzliche Quoren), welche die Limite von 10 % übersteigen, mit einem
Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht zu vereinbaren sind. Dieser Wert gilt
als Zielgrösse. Er ist allenfalls in Beziehung zu setzen zu überkommenen
Gebietsorganisationen, die namentlich dem Schutz von Minderheiten dienen (BGE
131 I 74 E. 5.4 S. 83 mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass in
der Gemeinde Stans mit 11 Sitzen eine Liste eines Stimmenanteils von nur 8,3 %
bedarf, um einen Sitz zu erhalten. Umgekehrt beträgt der für einen Sitz
erforderliche Stimmenanteil in der Gemeinde Emmetten mit bloss 2 Sitzen 33,3 %.
Der Durchschnitt für alle Gemeinden liegt bei 18,2 % und überschreitet bereits
die genannte kritische Grösse von 10 %. Schon in dieser Hinsicht kann nicht
gesagt werden, dass das vom Gesetzgeber eingeführte Wahlverfahren einem echten
Proporzverfahren entspricht.
Auch im Vergleich unter den Wahlkreisen kann nicht gesagt werden, dass die
Erfolgswertgleichheit hinreichend gewahrt sei. Die 60 Landratssitze werden auf
11 Wahlkreise verteilt. In den einzelnen Wahlkreisen schwankt die Zahl der zu
Wählenden zwischen 2 und 11. Der theoretische Durchschnitt von 5,45 Sitzen pro
BGE 136 I 352 S. 360
Wahlkreis wird in Stans mit 11 Sitzen massiv überschritten, in Emmetten mit 2
Sitzen massiv unterschritten. In der Doktrin wird gefordert, dass die einzelnen
Wahlkreise nur wenig bzw. um höchstens ein Drittel vom Mittelwert abweichen
sollen (vgl. PIERRE TSCHANNEN, Stimmrecht und politische Verständigung, 1995,
S. 499 N. 749; ALFRED KÖLZ, Probleme des kantonalen Wahlrechts, in: ZBl 88/1987
S. 1 und 31). Es ist im vorliegenden Verfahren nicht erforderlich, eine
zulässige Abweichung von einem Mittelwert abstrakt festzulegen. Es genügt die
Feststellung, dass die unterschiedliche Grösse der Wahlkreise im vorliegenden
Fall der Wahlfreiheit nicht hinreichend gerecht wird.
Gesamthaft zeigt sich, dass einerseits die hohen natürlichen Quoren mit einem
echten Verhältniswahlrecht nicht vereinbar sind. Andererseits stehen die
grossen Differenzen der für einen Sitzgewinn erforderlichen Stimmenanteile mit
der Erfolgswertgleichheit im Widerspruch. Damit wird das Wahlverfahren der sich
aus Art. 34 Abs. 2 BV ergebenden Wahlfreiheit nicht gerecht, wonach kein
Wahlergebnis anerkannt werden soll, das nicht den freien Willen der Wählenden
zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Die sich aus der
verfassungsrechtlichen Garantie der politischen Rechte ergebenden Vorgaben
werden deutlich verfehlt. Auch gewichtige politische Minderheiten sind vom
Landrat ausgeschlossen und eine grosse Anzahl von Wählerstimmen bleibt
unbeachtlich. Darin liegt ein schwerwiegender Mangel, der mit den Grundsätzen
des Verhältniswahlrechts unvereinbar ist, wie auch das Verfassungsgericht des
Kantons Nidwalden festgestellt hat.

4. Damit stellt sich die Frage, ob das vorliegende Wahlsystem aus Gründen
überkommener Gebietsorganisation gerechtfertigt werden kann. Das
Verfassungsgericht hat dies angenommen. Die Beschwerdeführer bestreiten das
Vorliegen hinreichender historischer Gründe.

4.1 Das Bundesgericht anerkennt im Grundsatz, dass Gründe überkommener
Gebietsorganisation proporzfremde Elemente und somit ein Abweichen vom
Verhältniswahlrecht rechtfertigen können. Es kann sich dabei um historische,
föderalistische, kulturelle, sprachliche, ethnische oder religiöse Gründe
handeln, welche kleine Wahlkreise als eigene Identitäten und als "Sonderfall"
erscheinen lassen und ihnen - auf Kosten des Proporzes - im Sinne eines
Minderheitenschutzes einen Vertretungsanspruch einräumen. Die Rechtsprechung
hat allerdings betont, dass es hierfür ausreichender
BGE 136 I 352 S. 361
sachlicher Gründe bedürfe (BGE 129 I 185 E. 3.1 S. 190; BGE 131 I 74 E. 3.2 S.
79, BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87 mit Hinweisen). Je grösser die Abweichungen vom
Proporzverfahren und von der Erfolgswertgleichheit sind, desto gewichtiger
müssen sich die rechtfertigenden Gründe erweisen.

4.2 Nach den Feststellungen des Verfassungsgerichts bildeten die Kirchgemeinden
Stans, Buochs und Wolfenschiessen seit dem Mittelalter die für die
Militärorganisation und untersten Gerichtsinstanzen massgebenden territorialen
Einheiten. Seit dem 14. Jahrhundert bestanden die sog. Uerten, aus deren Mitte
die Landräte gewählt wurden. Von 1815 bis 1850 existierten 13 Uerten (Stans,
Ennetmoos, Dallenwil-Wisenberg, Stansstad/Obbürgen/Kersiteh, Oberdorf/
Waltersberg, Büren nid dem Bach, Buochs, Ennetbürgen, Wolfenschiessen, Büren ob
dem Bach, Beggenried, Hergiswil und Emmetten). Die Kantonsverfassung von 1850
schuf die 11 (heute noch als sog. politische Gemeinden existierenden)
Bezirksgemeinden, denen die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten oblag und
welche die Aufgaben der bis dahin bestehenden Uerten übernahmen. Die Wahl der
Landräte oblag ab 1850 der Landsgemeinde und wurde mit der Revision von 1877
auf die Bezirksgemeinden übertragen. Die heutigen politischen Gemeinden sind
Nachfolgerinnen der früheren Uerten, vorbehältlich gewisser untergeordneter
Anpassungen der Gebietsgrenzen. Bei dieser Sachlage handle es sich, so das
Verfassungsgericht, um historisch gewachsene Wahlkreise, für die es lediglich
zwischen 1850 und 1877 einen Unterbruch gab. Als politische Einheiten
ermöglichten sie den Einwohnern eine gewisse Identifikation. Sie bildeten seit
jeher Einheiten mit erheblicher und im schweizerischen Vergleich
aussergewöhnlich weitgehender organisatorischer, wirtschaftlicher und
politischer Autonomie und entsprechendem Zusammengehörigkeitsgefühl. Die
Gemeinden führten noch heute grösstenteils ein eigenes gesellschaftliches und
kulturelles Leben.
Die Beschwerdeführer anerkennen, dass die mittelalterlichen Kirchgemeinden und
Uerten als Wurzeln der heutigen Gemeinden betrachtet werden können, auch wenn
sie mit den heutigen Gemeinden weder hinsichtlich der Aufgaben noch
gebietsmässig identisch waren. Sie machen allerdings geltend, der Umstand, dass
sich die Gemeinden bereits im Mittelalter herausgebildet hätten, bedeute keinen
Sonderfall, sondern sei vielmehr eine allgemeine geschichtliche und in der
Schweiz weitverbreitete Tatsache. Im Übrigen hätten die Gemeinden in den
letzten Jahrzehnten dauernd an
BGE 136 I 352 S. 362
Eigenständigkeit, Einfluss und Wirksamkeit gegenüber dem Kanton eingebüsst und
unterstünden einer ausgeprägten Aufsicht seitens des Kantons. Die marginale
Zuständigkeit in Bezug auf Gerichtssachen bzw. das gemeindeweise organisierte
Friedensrichteramt sei von untergeordneter Bedeutung und werde überdies mit
Inkrafttreten der eidgenössischen Zivilprozessordnung per 2011 entfallen. Dass
sich Gemeinden eines gewissen Vereins- und kulturellen Eigenlebens erfreuten,
sei ein allgemeines Charakteristikum schweizerischer Gemeinden und keine
Spezialität Nidwaldens. Schliesslich sei heute ein hoher Mobilitätsgrad zu
beobachten und wiesen alle Gemeinden eine mehr oder weniger hohe Durchmischung
mit Zugezogenen auf, was das Zusammengehörigkeitsgefühl auch ehedem eher
abgeschotteter ländlicher Gemeinden relativiere.

4.3 Das Verfassungsgericht beschränkt sich beim Hinweis auf besondere
rechtfertigende Umstände weitgehend auf die Wiedergabe der sich in
verschiedenen Bundesgerichtsurteilen findenden abstrakten Formel. Es hebt die
historischen Gegebenheiten hervor. Die Gemeinden werden als mit erheblicher und
im schweizerischen Vergleich besonders weitgehender organisatorischer,
wirtschaftlicher und politischer Autonomie ausgestattete politische Einheiten
mit entsprechendem Zusammengehörigkeitsgefühl dargestellt. Das Gericht
unterlässt es indes, im Einzelnen auszuführen, welche konkreten Umstände diese
Attribute rechtfertigen sollen und inwiefern - im Vergleich zu Gemeinden
anderer Kantone - ein Sonderfall vorliege. Letztlich begnügt es sich mit dem
Argument, dass die die Wahlkreise bildenden politischen Gemeinden historisch
gewachsen sind. Dieser Umstand stellt indes kein besonderes Charakteristikum
dar und dürfte über den Kanton Nidwalden hinaus auf die meisten Kantone
zutreffen. Das rein historische Argument vermag daher für sich allein keinen
hinreichenden Grund für die erheblichen Einbrüche in das Proporzverfahren und
die Erfolgswertgleichheit abzugeben. Darüber hinaus sind für die politischen
Gemeinden kaum erhebliche Besonderheiten ersichtlich. Sprachliche oder
religiöse Gründe, welche die oder zumindest einzelne Gemeinden als besondere
Identitäten erscheinen liessen, werden nicht namhaft gemacht. Es wird nicht
aufgezeigt, dass einzelne Gemeinden aufgrund ihrer besonderen Struktur oder
Lage auf eine spezielle Vertretung im Landrat im Sinne eines
Minderheitenschutzes angewiesen wären. Schliesslich kann nicht gesagt werden,
dass die Gemeindeautonomie und die den Gemeinden übertragenen Aufgaben ein Mass
BGE 136 I 352 S. 363
annähmen, das sich auf das Wahlverfahren auswirken könnte. Dem bisher
gemeindeweise organisierten Friedensrichteramt kommt keine Bedeutung zu.

4.4 Zusammenfassend ergibt sich entgegen der Auffassung des
Verfassungsgerichts, dass keine Gründe im Sinne der genannten Kriterien gegeben
sind, welche die politischen Gemeinden als besondere Identitäten erscheinen
liessen und die genannten erheblichen Eingriffe ins Verhältniswahlrecht
rechtfertigen könnten.

5.

5.1 Wie dargelegt, überlässt es die Kantonsverfassung dem Gesetzgeber, anstelle
des Majorzwahlverfahrens die Verhältniswahl einzuführen. Entschliesst sich der
Gesetzgeber wie hinsichtlich der Wahl des Landrates für das
Proporzwahlverfahren, gebietet die Bundesverfassung, den Grundentscheid
konsequent umzusetzen. Es obliegt dem Gesetzgeber, im Rahmen der
Kantonsverfassung die für eine echte Proporzwahl erforderlichen Voraussetzungen
zu schaffen und den ihm eingeräumten Gestaltungsspielraum im Sinne des
Proporzgedankens zu nutzen.
Dem Gesetzgeber stehen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, das
Bekenntnis zum Proporz bundesverfassungskonform umzusetzen. Zum einen könnten
auf Gesetzesstufe Wahlkreisverbände geschaffen werden, welche im Sinne des
Verhältniswahlrechts einen Ausgleich unter den unterschiedlich grossen
Wahlkreisen bewirken würden (vgl. BGE 131 I 74; Urteil P.918/1986 vom 9.
Dezember 1986, in: ZBl 88/1987 S. 367). Zum andern liesse sich durch eine
zentrale Verteilung der Parteimandate nach der doppeltproportionalen Methode
"Doppelter Pukelsheim" ein wahlkreisübergreifender Ausgleich realisieren (vgl.
zu dieser Methode PUKELSHEIM/SCHUHMACHER, Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren
für Parlamentswahlen, AJP 2004 S. 505). Anzufügen ist, dass eine Stärkung des
Proporzgedankens auch durch eine Wahlkreisreform auf Verfassungsstufe erreicht
werden könnte, entweder durch die Festlegung neuer Wahlkreise oder durch die
Schaffung eines Einheitswahlkreises. Der Gesetzgeber hat von diesen
Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht und daher ein Verhältniswahlverfahren
geschaffen, das mit den aus der Bundesverfassung fliessenden Anforderungen
nicht im Einklang steht.

5.2 Damit erweist sich die Beschwerde in diesem Punkte als begründet. Die
Aufhebung des zugrunde liegenden
BGE 136 I 352 S. 364
Regierungsratsbeschlusses bzw. der in der Zwischenzeit erfolgen Landratswahl
fällt ausser Betracht (nicht publ. E. 1). Im Sinne der Beschwerdeanträge ist
die Verfassungswidrigkeit des geltenden Verfahrens für die Wahl des Landrates
förmlich festzustellen. Es obliegt dem Kanton Nidwalden, Abhilfe zu schaffen
und unter verschiedenen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. Die zuständigen
Behörden des Kantons Nidwalden sind daher im Sinne eines Appellentscheides
aufzufordern, im Hinblick auf die nächste Wahl des Landrates unter Beachtung
der vorstehenden Erwägungen eine verfassungskonforme Wahlordnung zu schaffen
(vgl. BGE 131 I 74 E. 6.1 S. 84). (...)