Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 I 274



Urteilskopf

136 I 274

25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Schweizerische Bundesanwaltschaft und Eidgenössisches Untersuchungsrichteramt
(Beschwerde in Strafsachen)
1B_326/2009 vom 11. Mai 2010

Regeste

Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG; Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 13 EMRK;
Entlassung des Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft während des
bundesgerichtlichen Verfahrens; aktuelles praktisches Interesse an der
Behandlung der Haftbeschwerde.
Unter besonderen Umständen behandelt das Bundesgericht die Beschwerde trotz der
Entlassung des Beschwerdeführers materiell. Solche Umstände bejaht in einem
Fall, in dem eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention
offensichtlich war und dem Beschwerdeführer durch die entsprechende
Feststellung und eine für ihn vorteilhafte Kostenregelung sogleich die
verlangte Wiedergutmachung verschafft werden konnte (E. 1.3).

Regeste

Art. 5 Ziff. 3 EMRK und Art. 31 Abs. 3 BV; Anspruch des Untersuchungsgefangenen
auf unverzügliche Vorführung vor einen Richter.
Die unverzügliche Vorführung bedeutet eine solche innert wenigen, höchstens
aber 48 Stunden (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 275

BGE 136 I 274 S. 275
Die Bundesanwaltschaft führt gegen X. ein gerichtspolizeiliches
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des versuchten In-Umlauf-Setzens
falschen Geldes und weiterer Delikte. Sie übernahm dabei ein zuerst von den
Strafverfolgungsbehörden des Kantons Zürich geführtes Verfahren.
X., der bereits am 29. Juni 2009 im Kanton Zürich in Untersuchungshaft versetzt
worden war, wurde am 20. Juli 2009 nach der Verfahrensübernahme durch die
Bundesanwaltschaft formell die Haft eröffnet. Am 23. Juli 2009 entschied das
Eidgenössische Untersuchungsrichteramt, X. habe in Untersuchungshaft zu
verbleiben.
Am 20. August 2009 ersuchte X. um Haftentlassung. Mit Entscheid vom 16.
September 2009 wies das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt das Gesuch ab.
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesstrafgericht (I.
Beschwerdekammer) am 9. Oktober 2009 ab.
Mit Eingabe vom 11. November 2009 erhob X. Beschwerde in Strafsachen mit dem
Antrag, der Entscheid des Bundesstrafgerichts sei in der Sache und - soweit
dieser ihn belaste - im Kostenpunkt aufzuheben. Der Beschwerdeführer sei aus
der Haft zu entlassen.
BGE 136 I 274 S. 276
Mit Schreiben vom 18. November 2009 teilte die Bundesanwaltschaft dem
Bundesgericht mit, X. sei am gleichen Tag aus der Untersuchungshaft entlassen
worden.
Am 19. November 2009 schrieb das Bundesgericht den Verfahrensbeteiligten, mit
der Haftentlassung scheine die Beschwerde in Strafsachen gegenstandslos
geworden zu sein. Das Bundesgericht nehme in Aussicht, die Beschwerde gemäss
Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 BZP (SR 273) als erledigt zu erklären. Es gab den
Beteiligten Gelegenheit, zur Gegenstandslosigkeit und zur Kosten- und
Entschädigungsregelung Stellung zu nehmen.
Am 26. November 2009 teilte X. dem Bundesgericht mit, er wehre sich nicht
dagegen, dass die Beschwerde wegen Gegenstandslosigkeit als erledigt erklärt
werde. Das bedeute aber nicht, dass er seinen Anspruch auf Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Haft ab dem 29. Juni 2009 aufgebe. Er erhoffe sich eine
diesbezügliche Beurteilung durch das Bundesgericht.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.3 Gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde berechtigt, wer vor der
Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat (...) und ein rechtlich geschütztes
Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat,
insbesondere die beschuldigte Person (lit. a und b Ziff. 1).
Der Beschwerdeführer muss ein aktuelles praktisches Interesse an der Behandlung
der Beschwerde haben. Mit diesem Erfordernis soll sichergestellt werden, dass
das Gericht konkrete und nicht bloss theoretische Fragen entscheidet. Es dient
damit der Prozessökonomie (BGE 133 II 81 E. 3 S. 84; BGE 125 I 394 E. 4a S.
397; je mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung fehlt es nach Beendigung der Untersuchungshaft an einem
aktuellen praktischen Interesse für die Behandlung der Haftbeschwerde. Unter
besonderen Umständen sind bestimmte Rügen jedoch trotz Entlassung des
Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft materiell zu behandeln (BGE 125 I
394 E. 5f S. 404). Solche Umstände sind hier gegeben.
Wie die folgenden Erwägungen zeigen, ist eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 3
EMRK offensichtlich zu bejahen. Bei dieser Sachlage
BGE 136 I 274 S. 277
entspricht es dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 29 Abs. 1 BV) und der
Prozessökonomie, dass das Bundesgericht diese Rüge sogleich behandelt und dem
Beschwerdeführer durch die von ihm verlangte Feststellung der Verletzung der
EMRK Wiedergutmachung verschafft.
Behandelt das Bundesgericht die Beschwerde materiell, ist damit zudem Art. 13
EMRK in jedem Fall Genüge getan. Danach hat jede Person, die in ihren in dieser
Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht,
bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Würde
das Bundesgericht hier die erhobenen Rügen nicht behandeln, könnte der
Europäische Gerichtshof allenfalls auf eine Verletzung von Art. 13 EMRK
erkennen. Dies hat er im Urteil vom 16. Dezember 1997 in Sachen Camenzind gegen
Schweiz getan (Recueil CourEDH 1997-VIII S. 2880). Das Bundesgericht war in
jenem Fall auf die vom Betroffenen bei ihm gegen eine Hausdurchsuchung
eingereichte Beschwerde mangels aktuellen praktischen Interesses nicht
eingetreten, da die Hausdurchsuchung abgeschlossen war. Wie der Europäische
Gerichtshof entschied, stand dem Beschwerdeführer damit keine wirksame
Beschwerde nach Art. 13 EMRK zur Verfügung. Den Einwand der Schweiz, der
Beschwerdeführer hätte seine Rügen der Verletzung der EMRK insbesondere in
einem Entschädigungsverfahren nach Art. 99 VStrR (SR 313.0) geltend machen
können, erachtete der Gerichtshof nicht als massgeblich (§§ 51 ff.).
Zu berücksichtigen ist zudem Folgendes: Die Vorinstanz hat zu den Rügen der
Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK nicht Stellung
genommen, obschon der Beschwerdeführer diese bei ihr vorgebracht hatte. Würde
das Bundesgericht die Rügen materiell ebenfalls nicht behandeln, hätte sich
keine nationale Instanz dazu geäussert. Zöge der Beschwerdeführer die Sache an
den Europäischen Gerichtshof weiter, wäre damit zu rechnen, dass dieser die
Beschwerde als zulässig erachtete und die Rügen beurteilte. Denn für den
Europäischen Gerichtshof stellt die Aktualität des Rechtsschutzinteresses kein
relevantes Kriterium dar(MARKUS LANTER, Die Ausschöpfung des innerstaatlichen
Instanzenzuges [Art. 35 Ziff. 1 EMRK], 2008,S. 217). So hat er im Urteil vom
15. März 2007 in Sachen Kaiser gegen Schweiz die Verletzung von Art. 5 Ziff. 3
EMRK geprüft (und bejaht), obschon die Beschwerdeführerin bereits vor dem
bundesgerichtlichen Urteil aus der Untersuchungshaft entlassen worden war (vgl.
§§ 13 und 38 ff.). Der Grundsatz der Einheit des Verfahrens
BGE 136 I 274 S. 278
gebietet es, dass das Bundesgericht die Rügen, die beim EuropäischenGerichtshof
erhoben werden können, ebenfalls prüft.
Die Beschwerde wird hier deshalb - dem Antrag des Beschwerdeführers in seinem
Schreiben vom 26. November 2009 entsprechend - materiell behandelt.

2.

2.1 Der Beschwerdeführer rügt, er sei der Haftrichterin des Bezirksgerichts
Zürich in Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK erst ca. 65 Stunden nach seiner
Festnahme vorgeführt worden.

2.2 Gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK muss jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c
von Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, unverzüglich einem Richter
(...) vorgeführt werden (vgl. ebenso Art. 31 Abs. 3 BV).
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bedeutet die unverzügliche
Vorführung eine solche binnen wenigen, höchstens aber 48 Stunden (BGE 131 I 36
E. 2.6 S. 44; Urteil 1P.109/2005 vom 4. Mai 2005 E. 2.2.2; je mit Hinweisen).

2.3 Wie sich aus den Akten ergibt, wurde der Beschwerdeführer am 26. Juni 2009,
um 17.30 Uhr, festgenommen. Der Haftrichterin wurde er am 29. Juni 2009, um
10.25 Uhr, vorgeführt. Zwischen der Festnahme und der Vorführung vergingen
danach knapp 65 Stunden.
Die Grenze von 48 Stunden wurde somit deutlich überschritten und der Anspruch
des Beschwerdeführers auf eine unverzügliche Vorführung nach Art. 5 Ziff. 3
EMRK (bzw. Art. 31 Abs. 3 BV) verletzt.
Diese Verletzung ist hier (im Dispositiv) festzustellen. Damit - und in
Verbindung mit der für den Beschwerdeführer vorteilhaften Kostenregelung - wird
diesem eine hinreichende Wiedergutmachung (satisfaction équitable; vgl. Art. 41
EMRK) verschafft (BGE 135 II 334 E. 3 S. 337; BGE 130 I 312 E. 5.3 S. 333; je
mit Hinweisen).