Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 IV 88



Urteilskopf

136 IV 88

14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Bundesamt für Justiz (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_163/2010 vom 13. April 2010

Regeste

Art. 5 EAUe; Art. 2 des Zweiten Zusatzprotokolls zum EAUe; Art. 50 Abs. 1, Art.
59 und 63 des Schengener Durchführungsübereinkommens; Art. 2 Ziff. 1 und Art.
15 Ziff. 1 des Schengen-Assoziierungsabkommens; Auslieferung an Deutschland
wegen einer fiskalischen strafbaren Handlung.
Gemäss dem Schengener Durchführungsübereinkommen ist die Schweiz in den dort
genannten Fällen der indirekten Fiskalität zur Auslieferung verpflichtet (E.
3).

Sachverhalt ab Seite 88

BGE 136 IV 88 S. 88

A. Am 6. März 2009 ersuchte die Justizbehörde Hamburg die Schweiz um
Auslieferung des deutschen Staatsangehörigen X.; dies gestützt auf den
Haftbefehl des Landgerichts Hamburg vom 6. April 2000 wegen Steuerhinterziehung
und versuchter Steuerhinterziehung.
Am 23. Juli 2009 bewilligte das Bundesamt für Justiz die Auslieferung für drei
Tatvorwürfe.
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesstrafgericht (II.
Beschwerdekammer) am 24. Februar 2010 ab.
BGE 136 IV 88 S. 89

B. X. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid des Bundesstrafgerichts sei aufzuheben und die
Auslieferung abzulehnen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Gemäss Art. 5 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember
1957 (EAUe; SR 0.353.1) wird in Abgaben-, Steuer-, Zoll- und Devisenstrafsachen
die Auslieferung unter den Bedingungen dieses Übereinkommens nur gewährt, wenn
dies zwischen Vertragsparteien für einzelne oder Gruppen von strafbaren
Handlungen dieser Art vereinbart worden ist. Eine solche Vereinbarung hat die
Schweiz nicht abgeschlossen (ROBERT ZIMMERMANN, La coopération judiciaire
internationale en matière pénale, 3. Aufl. 2009, S. 592 Rz. 638).
Gemäss Art. 2 des Zweiten Zusatzprotokolls vom 17. März 1978 zum EAUe (SR
0.353.12; im Folgenden: 2. ZP) kann die Auslieferung bei fiskalischen
strafbaren Handlungen unter den dort genannten Voraussetzungen gewährt werden.
Die Schweiz hat erklärt, diese Bestimmung nicht anzunehmen (Art. 1 des
Bundesbeschlusses vom 13. Dezember 1984 betreffend drei Zusatzprotokolle des
Europarats [...] [AS 1985 712]).
Der zwischen der Schweiz und Deutschland abgeschlossene Vertrag vom 13.
November 1969 über die Ergänzung des EAUe und die Erleichterung seiner
Anwendung (SR 0.353.913.61; im Folgenden: Zusatzvertrag) schweigt sich zur
Frage der Auslieferung bei fiskalischen strafbaren Handlungen aus.
Art. 59 ff. (Kapitel 4) des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur Durchführung
des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (im Folgenden: Schengener
Durchführungsübereinkommen, SDÜ; ABl. der EU L 239 vom 22. September 2000 S.
19-62) enthalten Bestimmungen zur Auslieferung. Gemäss Art. 59 SDÜ sollen die
Bestimmungen dieses Kapitels das Europäische Auslieferungsübereinkommen
ergänzen und seine Anwendung erleichtern (Abs. 1). Die zwischen den
Vertragsparteien geltenden weitergehenden Bestimmungen aufgrund bilateraler
Abkommen bleiben unberührt (Abs. 2). Nach Art. 63 SDÜ verpflichten sich die
Vertragsparteien,
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nach Massgabe der in Artikel 59 erwähnten Übereinkommen die Personen
auszuliefern, die durch die Justizbehörden der ersuchenden Vertragspartei im
Zusammenhang mit einer strafbaren Handlung nach Artikel 50 Absatz 1 verfolgt
werden oder zur Vollstreckung einer aufgrund einer solchen Handlung verhängten
Strafe oder Massnahme gesucht werden. Gemäss Art. 50 Abs. 1 SDÜ verpflichten
sich die Vertragsparteien, Rechtshilfe (...) zu leisten wegen Verstössen gegen
die gesetzlichen Bestimmungen und Vorschriften im Bereich der Verbrauchsteuern,
der Mehrwertsteuern und des Zolls.
Der Beschwerdeführer stellt nicht in Abrede, dass es hier um indirekte Steuern
nach Art. 50 Abs. 1 SDÜ geht. Er macht geltend, die Auslieferungspflicht nach
dem SDÜ bestehe nicht, da das EAUe, das 2. ZP und der Zusatzvertrag die
Auslieferung als "lex specialis" ausschlössen.

3.2 Gemäss Art. 2 Ziff. 1 des Abkommens vom 26. Oktober 2004 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen
Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung
und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (SR 0.362.31; im Folgenden:
Schengen-Assoziierungsabkommen, SAA) werden die in Anhang A aufgeführten
Bestimmungen des Schengen-Besitzstands, die für die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union gelten, von der Schweiz umgesetzt und angewendet. In Teil 1
von Anhang A sind grundsätzlich alle Bestimmungen des SDÜ aufgeführt.
Ausgenommen sind im Einzelnen genannte Artikel des SDÜ. Dazu gehören Art. 59,
Art. 63 und Art. 50 Abs. 1 nicht.
Gemäss Art. 15 Ziff. 1 SAA werden die unter anderem in Anhang A genannten
Bestimmungen für die Schweiz zu dem Zeitpunkt in Kraft gesetzt, der vom Rat
durch einstimmigen Beschluss seiner Mitglieder, die die Regierungen der
Mitgliedstaaten vertreten, die alle in den Anhängen A und B genannten
Bestimmungen anwenden, im Anschluss an Konsultationen im Gemischten Ausschuss
festgesetzt wird, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass die Voraussetzungen
für die Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen von der Schweiz erfüllt sind
und dass an den Aussengrenzen effiziente Kontrollen stattfinden.
Am 27. November 2008 hat der Rat der Europäischen Union beschlossen, dass alle
Bestimmungen, die in den Anhängen A und B des Schengen-Assoziierungsabkommens
enthalten sind, für die
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Schweiz in ihren Beziehungen unter anderem zu Deutschland mit Wirkung ab 12.
Dezember 2008 gelten (ABl. L 327 vom 5. Dezember 2008 S. 15-17).
Die Schweiz ist somit gemäss Art. 63 i.V.m. Art. 50 Abs. 1 SDÜ zur Auslieferung
in den dort genannten Fällen der indirekten Fiskalität verpflichtet (STEPHAN
BREITENMOSER, Neuerungen in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, in:
Aktuelle Fragen der internationalen Amts- und Rechtshilfe, Breitenmoser/
Ehrenzeller [Hrsg.], 2009, S. 32; URS BEHNISCH, Aktuelle Entwicklungen in der
Amts- und Rechtshilfe im Steuerbereich, in: Aktuelle Fragen der internationalen
Amts- und Rechtshilfe, Breitenmoser/Ehrenzeller [Hrsg.], 2009, S. 265; RUDOLF
WYSS, Strafrechtshilfe - wie weiter?, in: Festschrift für Heinrich Koller,
2006, S. 304 f.; HANSPETER PFENNINGER, Internationale Rechtshilfe in
Strafsachen, in: Bilaterale Abkommen II Schweiz-EU, Kaddous/Jametti Greiner
[Hrsg.], 2006, S. 353 f.).
Wie gesagt, sollen gemäss Art. 59 Abs. 1 SDÜ die Bestimmungen dieses
Übereinkommens über die Auslieferung (Art. 59 ff.) das EAUe ergänzen und seine
Anwendung erleichtern. Die Bestimmungen des SDÜ gehen deshalb, sofern sie - wie
hier - eine Frage ausdrücklich regeln, als "lex specialis" und "lex posterior"
vor (BREITENMOSER, a.a.O., S. 31; PFENNINGER, a.a.O., S. 353).
Die Beschwerde ist in diesem Punkt daher unbegründet.

3.3 Gemäss Art. 63 SDÜ verpflichten sich die Vertragsparteien zur Auslieferung
nach Massgabe der in Artikel 59 erwähnten Übereinkommen, also insbesondere des
EAUe. Nach Art. 2 Ziff. 1 EAUe wird ausgeliefert wegen Handlungen, die sowohl
nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit
einer Freiheitsstrafe (...) im Höchstmass von mindestens einem Jahr oder mit
einer schwereren Strafe bedroht sind.
Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Handlungen stellen nach
schweizerischem Recht unstreitig einen Abgabebetrug nach Art. 14 Abs. 2 VStrR
(SR 313.0) dar. Dafür droht das Gesetz Gefängnis bis zu einem Jahr an. Die
Auslieferungsvoraussetzung nach Art. 2 Ziff. 1 EAUe ist damit erfüllt.