Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 IV 44



Urteilskopf

136 IV 44

7. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Kanton
Bern gegen Kanton Appenzell A.Rh. (Klage)
1E_1/2009 vom 21. Dezember 2009

Regeste

Art. 120 BGG, Art. 104 ff. IRSG, Art. 342 StGB, Art. 29 Abs. 2 BV; Vollzug
eines ausländischen Strafurteils in der Schweiz; Verfügung des Bundes;
öffentlich-rechtliche Streitigkeit zwischen Kantonen.
Das Bundesamt für Justiz verfügt nach Rücksprache mit dem betroffenen Kanton
über die Übernahme des Strafvollzugs durch die Schweiz und durch den bestimmten
Kanton (E. 1.2). Gegen die Verfügung des Bundesamts über die kantonale
Zuständigkeit ist die Beschwerde des verpflichteten Kantons an das
Bundesgericht im Sinne von Art. 120 Abs. 2 BGG zulässig, bevor das
Exequaturverfahren nach Art. 105 f. IRSG durchgeführt wird (E. 1.3 und 1.4).

Sachverhalt ab Seite 45

BGE 136 IV 44 S. 45

A. Auf einem mit "Antrag auf Überstellung" bezeichneten Formular bekundete X.
am 26. Juli 2007 sein Interesse, zur weiteren Strafverbüssung in die Schweiz
überstellt zu werden. Nach den im genannten Formular enthaltenen Angaben
verbüsste X. gestützt auf ein Urteil eines Madrider Gerichts in einem
spanischen Gefängnis eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und einem Tag. In der
Folge ersuchte das Bundesamt für Justiz das Departement Sicherheit und Justiz
des Kantons Appenzell A.Rh., sich zum Überstellungsgesuch zu äussern. Das
Departement (...) erklärte sich für unzuständig. X. habe weder Wohnsitz noch
Bürgerrecht im Kanton Appenzell A.Rh. Er habe sich bereits am 25. August 2007
aus der Gemeinde Speicher abgemeldet.

B. Hierauf richtete sich das Bundesamt für Justiz mit Schreiben vom 14. Juli
2008 an die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern mit der Frage, ob
sie einer Überstellung von X. zustimme. Die Abteilung Straf- und
Massnahmenvollzug der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern erachtete
(...) die Zuständigkeit des Kantons Appenzell A.Rh. als gegeben. Die formellen
Voraussetzungen für eine Überstellung seien erfüllt. Nach Art. 342 StGB seien
die Behörden des Wohnorts oder subsidiär des Heimatorts zuständig. X. sei in
Kleindietwil/BE heimatberechtigt. Der Heimatort komme jedoch im vorliegenden
Fall nicht zum Tragen, weil X. seinen Wohnsitz nach wie vor in der Gemeinde
Speicher/AR habe. (...)
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C. Mit Entscheid vom 6. Juli 2009 trat die I. Beschwerdekammer des
Bundesstrafgerichts auf das Gesuch des Kantons Bern, die Zuständigkeit für die
Übernahme des Strafvollzugs im Zusammenhang mit der Überstellung des in Spanien
verurteilten X. zu bestimmen, nicht ein. Zur Begründung seines Entscheids
führte das Bundesstrafgericht im Wesentlichen aus, es gehe im vorliegenden Fall
nicht um die Bestimmung des Gerichtsstands durch das Bundesstrafgericht im
Sinne von Art. 345 StGB. Das Bundesamt für Justiz lege mit seinem Entscheid
gemäss Art. 104 Abs. 1 IRSG (SR 351.1) über die Annahme des ausländischen
Ersuchens die innerstaatliche Zuständigkeit fest. Ein solcher Entscheid könne
beim Bundesstrafgericht nicht angefochten werden.

D. Der Kanton Bern erhebt mit Rechtsschrift vom 7. Oktober 2009 gegen den
Kanton Appenzell A.Rh. Klage beim Bundesgericht. Er stellt den Antrag, es sei
festzustellen, dass der Kanton Appenzell A.Rh. in Sachen X. zum Vollzug der mit
Urteil des Untersuchungsgerichts Madrid N. 15 vom 29. Mai 2007 ausgesprochenen
und mit Entscheid des Gerichtskreises IV Aarwangen-Wangen vom 28. Oktober 2008
als vollstreckbar erklärten Freiheitsstrafe von neun Jahren und einem Tag
zuständig sei. Der Kanton Bern beruft sich auf Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG und
macht geltend, es sei kein Rechtsmittel zum Entscheid über die Zuständigkeit
gegeben.

E. Das Departement Sicherheit und Justiz des Kantons Appenzell A.Rh. beantragt,
die Klage sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht tritt auf die Klage nicht ein.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit von Amtes wegen und mit freier
Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG).

1.1 Gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG beurteilt das Bundesgericht auf Klage als
einzige Instanz unter anderem öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen
Kantonen. Nach Art. 120 Abs. 2 BGG ist die Klage jedoch unzulässig, wenn ein
anderes Bundesgesetz eine Behörde zum Erlass einer Verfügung über solche
Streitigkeiten ermächtigt. Gegen die Verfügung ist letztinstanzlich die
Beschwerde an das Bundesgericht zulässig.

1.2 Nach Art. 104 Abs. 1 IRSG entscheidet das Bundesamt nach Rücksprache mit
der Vollzugsbehörde über die Annahme des
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ausländischen Ersuchens. Nimmt es dieses an, so übermittelt es die Akten und
seinen Antrag der Vollzugsbehörde und verständigt den ersuchenden Staat. Es
kann die Übernahme des Strafvollzugs in sinngemässer Anwendung von Art. 91 Abs.
4 IRSG ablehnen. Nach dem klaren Wortlaut von Art. 104 Abs. 1 IRSG entscheidet
das Bundesamt verbindlich über die Übernahme des Strafvollzugs durch die
Schweiz und durch den bestimmten Kanton. Die kantonale Zuständigkeit ist nach
den Regeln von Art. 342 StGB festzulegen (vgl. Art. 105 IRSG i.V.m. Art. 342
StGB in der Fassung des dritten Buchs StGB vom 13. Dezember 2002, in Kraft seit
1. Januar 2007 [AS 20063459, 3535]). Danach sind für Straftaten, die im Ausland
begangenwurden, die Behörden des Wohnorts des Täters zuständig. Fehlt ein
Wohnort in der Schweiz, so sind die Behörden des Heimatorts zuständig (Art. 342
Abs. 1 StGB).
Vor seinem Entscheid hat das Bundesamt mit dem von ihm als zuständig erachteten
Vollzugskanton Rücksprache zu nehmen. Diese Rücksprache dient im Wesentlichen
der Wahrung des rechtlichen Gehörs gegenüber dem Vollzugskanton vor Erlass der
Verfügung über die Übernahme des Strafvollzugs (Art. 29 Abs. 2 BV). Hält sich
ein angefragter Kanton für nicht zuständig, so ist je nach den konkreten
Umständen noch mit einem oder mehreren anderen Kantonen Rücksprache zu nehmen
(z.B. bei mehreren Heimatkantonen). Nach erfolgter Rücksprache hat das
Bundesamt über das Übernahmegesuch betreffend den Strafvollzug eine Verfügung
zu treffen. Stimmt es der Übernahme zu, so bestimmt es gleichzeitig nach den
Regeln von Art. 342 StGB den Kanton, der für die Vollstreckung des
ausländischen Urteils und die Durchführung des Exequaturverfahrens nach Art.
105 f. IRSG zuständig ist.

1.3 Ist die hier umstrittene Zuständigkeitsfrage erstinstanzlich durch den
Erlass einer Verfügung zu entscheiden, so tritt an die Stelle der Klage nach
Art. 120 Abs. 1 BGG die Beschwerde gemäss Art. 120 Abs. 2 BGG. In diesem
Beschwerdeverfahren beurteilt das Bundesgericht letztinstanzlich die kantonale
Zuständigkeit. Die Beschwerde nach Art. 120 Abs. 2 BGG betrifft im vorliegenden
Zusammenhang lediglich die Frage der Zuständigkeit zur Durchführung des
Exequaturverfahrens und zur Vollstreckung des ausländischen Strafurteils. Es
handelt sich dabei um eine staatsrechtliche Streitigkeit, die in Bezug auf
Anfechtungsgegenstand, Vorinstanz, Beschwerdelegitimation etc. nicht in jeder
Hinsicht den Regeln einer der drei Einheitsbeschwerden des BGG unterliegt.
Anfechtungsobjekt bildet die gemäss Art. 104 Abs. 1 IRSG erlassene Verfügung
des Bundesamts für Justiz. Zur Beschwerde gegen diese Verfügung ist der
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Kanton berechtigt, dem das Bundesamt die Prüfung der
Vollstreckungsvoraussetzungen überträgt. In Bezug auf Form und Frist sind die
Art. 42 und 100 Abs. 1 BGG anwendbar.

1.4 Dem beschriebenen Rechtsweg zur Klärung der Zuständigkeits frage steht Art.
14 IRSV (SR 351.11) nicht entgegen. Diese vor Erlass des BGG eingefügte
Bestimmung bezeichnet Entscheide des Bundesamts über die Annahme oder die
Weiterleitung eines Ersuchens an die ausführende Behörde im Sinne von Art. 104
IRSG als nicht selbstständig anfechtbar. Dies entspricht grundsätzlich der
Praxis des Bundesgerichts zur Anfechtbarkeit von Vorprüfungsentscheiden des
Bundesamts für Justiz (Urteil des Bundesgerichts 1A.53/ 2001 vom 26. April
2001; ROBERT ZIMMERMANN, La coopération judiciaire internationale en matière
pénale, 3. Aufl. 2009, S. 730). Soweit jedoch mit dem Entscheid des Bundesamts
auch über die innerstaatliche Zuständigkeit zum Exequaturverfahren nach Art.
105 f. IRSG entschieden wird, liegt ein Entscheid über eine Rechtsfrage vor,
welche für das Exequaturverfahren von grundlegender Bedeutung ist und nicht auf
einen späteren Zeitpunkt verschoben werden kann. Nach rechtskräftiger
Beurteilung der Zuständigkeitsfrage hat der als zuständig bezeichnete Kanton
das Exequaturverfahren im Sinne von Art. 105 f. IRSG durchzuführen (Urteil
1A.53/2001 vom 26. April 2001 E. 2b). Der Entscheid des erstinstanzlichen
Exequaturrichters unterliegt einem kantonalen Rechtsmittel (Art. 106 Abs. 3
IRSG). Der kantonale Rechtsmittelentscheid kann anschliessend mit Beschwerde in
Strafsachen beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 78 Abs. 2 lit. b BGG).

2. Es ergibt sich, dass das Bundesamt für Justiz die Zuständigkeitsfrage
gestützt auf Art. 104 Abs. 1 IRSG in einer Verfügung zu regeln hat, welche nach
Art. 120 Abs. 2 BGG der Beschwerde durch den betroffenen Kanton an das
Bundesgericht unterliegt. Auf die vorliegende Klage kann somit nicht
eingetreten werden. (...)