Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 II 539



Urteilskopf

136 II 539

49. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Touring
Club Schweiz gegen Einwohnergemeinde Münsingen, Bau-, Verkehrs- und
Energiedirektion sowie Regierungsrat des Kantons Bern (Beschwerde in
öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten)
1C_17/2010 vom 8. September 2010

Regeste

Tempo-30-Zonen auf Durchgangsstrassen; Art. 3 Abs. 4 und Art. 32 Abs. 3 SVG,
Art. 2a und 108 SSV sowie Art. 3 der Verordnung über die Tempo-30-Zonen und die
Begegnungszonen.
Der Touring Club Schweiz (Sektion Bern, Landesteil Bern-Mittelland) ist zur
Anfechtung einer Tempo-30-Zone auf einer Durchgangsstrasse legitimiert
("egoistische Verbandsbeschwerde"; E. 1.1).
Die Errichtung von Tempo-30-Zonen ist auch auf verkehrsorientierten
Durchgangsstrassen ausnahmsweise zulässig, wenn aufgrund eines Gutachtens
nachgewiesen ist, dass durch diese Massnahme auf Strecken mit grosser
Verkehrsbelastung der Verkehrsablauf verbessert werden kann (E. 2.2 und 3.4).
Die Verordnung über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen sieht
ausdrücklich die Möglichkeit vor, in Tempo-30-Zonen eine vom Rechtsvortritt
abweichende Vortrittsregelung zu treffen, wenn die Verkehrssicherheit es
erfordert (E. 2.4). Das erstellte Gutachten und das Betriebskonzept legen
schlüssig dar, weshalb die Einführung einer Tempo-30-Zone mit
Wechselsignalisation (Tempo 30 von 06.30 Uhr bis 19.00 Uhr, Tempo 50 in der
übrigen Zeit) als nötig, zweck- und verhältnismässig einzustufen ist (E. 3.4).

Sachverhalt ab Seite 540

BGE 136 II 539 S. 540

A. Vom 15. August bis zum 16. September 2005 lag der Strassenplan "Sanierung
Ortsdurchfahrt Münsingen" betreffend die Abschnitte Ortseinfahrt von Rubigen,
Ortsdurchfahrt Münsingen und Ortseinfahrt von Wichtrach öffentlich auf. Der
Plan umfasst verschiedene bauliche Massnahmen an der Kantonsstrasse Nr. 6
(Bern- Münsingen-Thun) im Bereich des Ortskerns von Münsingen, so unter anderen
die Verschiebung und Umgestaltung der Kreuzung beim Dorfplatz zu einem
vierarmigen Kreisel, den Bau eines Mittelstreifens als Querungs- und
Abbiegehilfe in den Knotenbereichen, die Einführung einer Kernfahrbahn mit
durchgehendem Radstreifen und die Verbreiterung der Bernstrasse. Vom 1. bis zum
31. Mai 2006 lag sodann der Strassenplan betreffend den Abschnitt östliche
Ortseinfahrt von Münsingen öffentlich auf. Dieser Plan sieht auf der
Kantonsstrasse Nr. 228 (Münsingen-Konolfingen-Zäziwil) neben verschiedenen
anderen Massnahmen den Bau einer Insel auf der Fahrbahn und einer
Bushaltestelle im Gebiet "Sandacher" vor. Bestandteil des Strassenplans ist
weiter ein "Signalisationsplan", der namentlich die Signalisation einer
Tempo-30-Zone im Umkreis des Kreisels Dorfplatz und das Anbringen einer
Wechselsignalisation (Tempo 30 von
BGE 136 II 539 S. 541
06.30 Uhr bis 19.00 Uhr, Tempo 50 in der übrigen Zeit) auf der Bernstrasse zum
Gegenstand hat. Gegen den Strassenplan gingen zahlreiche Einsprachen ein,
darunter diejenige des Touring Club Schweiz (TCS), Landesteil Bern-Mittelland.

B. Mit Gesamtbauentscheid vom 18. Juli 2007 erliess die Bau-, Verkehrs- und
Energiedirektion des Kantons Bern (BVE) den Strassenplan "Sanierung
Ortsdurchfahrt Münsingen" samt Verkehrsmassnahmen und erteilte eine
wasserbaupolizeiliche Bewilligung. Die Einsprache des TCS hiess die BVE in
einem Nebenpunkt gut und wies sie im Übrigen ab. Die gegen diese Verfügung der
BVE erhobene Beschwerde des TCS wies der Regierungsrat des Kantons Bern am 27.
Mai 2009 ab.
Gegen diesen Entscheid führte der TCS Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans
Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom
24. November 2009 ab, soweit es darauf eintrat.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 11. Januar 2010
beantragt der TCS, das Urteil des Verwaltungsgerichts und die mit dem
Strassenplan "Sanierung Ortsdurchfahrt Münsingen" am 18. Juli 2007 verfügte
Verkehrs- und Signalisationsmassnahme (Tempo-30-Zone) auf den Kantonsstrassen
Nr. 6 und Nr. 228 seien aufzuheben. Eventualiter sei die Sache zur Ergänzung
des Beweisverfahrens, insbesondere zur Einholung eines Obergutachtens durch
eine neutrale Fachstelle, an die Vorinstanz bzw. an die Genehmigungsbehörde
zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Die Beschwerde richtet sich gegen einen kantonal letztinstanzlichen
Entscheid in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 lit. a und Art. 86
Abs. 1 lit. d BGG). Es liegt keine Ausnahme gemäss Art. 83 BGG vor. Die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist deshalb grundsätzlich
gegeben.
Die umstrittene Tempo-30-Zone stellt eine sogenannte funktionelle
Verkehrsanordnung im Sinne von Art. 3 Abs. 4 SVG dar. Das Strassenverkehrsrecht
räumt den Automobilverbänden kein Beschwerderecht im Sinne von Art. 89 Abs. 2
lit. d BGG ein. Somit ist zu
BGE 136 II 539 S. 542
prüfen, ob der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt ist.
Zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist berechtigt, wer
vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur
Teilnahme erhalten hat, wer zudem durch den angefochtenen Entscheid oder Erlass
besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder
Änderung hat (Art. 89 Abs. 1 BGG).
Der TCS, Landesteil Bern-Mittelland, ist ein Verein gemäss Art. 60 ff. ZGB und
somit als juristische Person konstituiert. Was die Legitimation der
beschwerdeführenden Vereine betrifft, sind die von der Rechtsprechung des
Bundesgerichts zum alten Verfahrensrecht entwickelten Grundsätze über das
Verbandsbeschwerderecht grundsätzlich weiter anwendbar (vgl. etwa 2C_561/2007
vom 6. November 2008 E. 1.4.3). Danach kann ein Verband insbesondere zur
Wahrung der eigenen Interessen Beschwerde führen. Er kann aber auch die
Interessen seiner Mitglieder geltend machen, wenn es sich um solche handelt,
die er nach seinen Statuten zu wahren hat, die der Mehrheit oder doch einer
Grosszahl seiner Mitglieder gemeinsam sind und zu deren Geltendmachung durch
Beschwerde jedes dieser Mitglieder befugt wäre (BGE 131 I 198 E. 2.1 S. 200;
BGE 130 II 514 E. 2.3.3 S. 519 mit Hinweisen; Urteil 2C_52/2009 vom 13. Januar
2010 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 136 I 1; sogenannte "egoistische
Verbandsbeschwerde"). Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein; sie
sollen die Popularbeschwerde ausschliessen. Wer keine eigenen, sondern nur
allgemeine oder öffentliche Interessen geltend machen kann, ist nicht befugt,
Beschwerde zu führen. Das Beschwerderecht steht daher auch nicht jedem Verein
zu, der sich in allgemeiner Weise mit dem fraglichen Sachgebiet befasst.
Vielmehr muss ein enger, unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem statutarischen
Vereinszweck und dem Gebiet bestehen, in welchem die fragliche Verfügung
erlassen worden ist (Entscheid des Bundesrats vom 23. Mai 2001, in: VPB 65/2001
Nr. 114 S. 1236).
Der Beschwerdeführer bezweckt gemäss Ziff. 1.2 seiner Statuten unter anderem
die Wahrung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder im Strassenverkehr und
im Tourismus sowie in den entsprechenden Bau-, Planungs- und
verwaltungsrechtlichen Verfahren. Was die Beschwerdebefugnis der einzelnen
Mitglieder anbelangt, steht sie allen Verkehrsteilnehmern zu, welche die mit
einer
BGE 136 II 539 S. 543
Be schränkung belegte Strasse mehr oder weniger regelmässig benützen, wie das
bei Anwohnern oder Pendlern der Fall ist, während bloss gelegentliches Befahren
der Strasse nicht genügt (Urteil 1A.73/ 2004 vom 6. Juli 2004 E. 2.2, in: Pra
2004 Nr. 157 S. 894). Der Beschwerdeführer macht diesbezüglich geltend, die
Gemeinde Münsingen mit einer Einwohnerzahl von 11'000 sowie Zu- und Wegpendlern
von 7'000 weise eine grosse Zahl von Automobilisten auf, die Mitglieder des
Vereins seien. Hinzu kämen Tausende von Automobilisten aus Nachbargemeinden und
aus der Region, die täglich durch Münsingen fahren würden.
Diese Ausführungen sind plausibel. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine
ansehnliche Zahl von Mitgliedern des Beschwerdeführers (Landesteil
Bern-Mittelland) die mit der umstrittenen Beschränkung belegte Strasse mehr
oder weniger regelmässig benutzt und zur Beschwerde berechtigt wäre. Die
Legitimation des Beschwerdeführers ist damit gegeben, und auf die Beschwerde
ist grundsätzlich einzutreten.
Diese Schlussfolgerung steht in Einklang mit der bisherigen Praxis des
Bundesrats. So stufte dieser den Automobil Club der Schweiz (ACS) Luzern als
legitimiert ein, eine erlassene Geschwindigkeitsbeschränkung auf einer Autobahn
anzufechten, da davon ausgegangen werden könne, dass ein überwiegender Anteil
der Mitglieder eines Automobilclubs in einem regional beschränkten
Sektionsgebiet die Autobahn regelmässig benutze (Entscheid des Bundesrats vom
23. Mai 2001, in: VPB 65/2001 Nr. 114 S. 1236).

1.2 Als Folge des im Beschwerdeverfahren geltenden Devolutiveffekts hat der
Entscheid des Verwaltungsgerichts den bei ihm angefochtenen Entscheid des
Regierungsrats und die diesem zugrunde liegenden Verfügungen ersetzt. Diese
Verwaltungsakte sind inhaltlich notwendigerweise mitangefochten, wenn der
Sachentscheid der obersten kantonalen Instanz mit Beschwerde ans Bundesgericht
weitergezogen wird. Auf das Rechtsbegehren, die mit dem Strassenplan vom 18.
Juli 2007 verfügte Tempo-30-Zone sei aufzuheben, ist daher nicht einzutreten
(vgl. BGE 134 II 142 E. 1.4 S. 144).

2.

2.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Kantonsstrassen Nr. 6 und Nr. 228
seien im Anhang 2 der Durchgangsstrassenverordnung vom 18. Dezember 1991 (SR
741.272) aufgeführt. Auf diesen Hauptstrassen seien lediglich signalisierte
Verkehrsanordnungen, wie
BGE 136 II 539 S. 544
Mass- und Gewichtsbeschränkungen, erlaubt. Die Errichtung von Tempo-30-Zonen
sei einzig auf siedlungsorientierten, nicht aber auf sog. verkehrsorientierten
Durchgangsstrassen zulässig. Zur Begründung beruft sich der Beschwerdeführer
auf die Botschaft vom 13. März 2000 zur Volksinitiative "für mehr
Verkehrssicherheit durch Tempo 30 innerorts mit Ausnahmen (Strassen für alle)"
(BBl 2000 2887 ff.), auf die Erläuterungen des Eidgenössischen Departements für
Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) zur Verordnung 28. September
2001 über die Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen vom (SR 741.213.3), auf die
Empfehlungen des Bundesamts für Strassen ASTRA und des Bundesamts für Umwelt
BAFU (vormals BUWAL), auf die Fachbroschüre der Beratungsstelle für
Unfallverhütung (bfu) sowie auf die Normen der Vereinigung Schweizerischer
Strassenfachleute (VSS-Normen 640 044 und 640 045).
Der Beschwerdeführer macht ergänzend geltend, in einer Tempo-30-Zone gelte
generell Rechtsvortritt. Die in Frage stehenden Hauptstrassenabschnitte, in
welche auch Nebenstrassen einmündeten, eigneten sich daher per se nicht für
einen Einbezug in eine Tempo-30-Zone.

2.2 Zu klären ist damit vorab, ob auf Durchgangsstrassen, d.h. auf
Hauptstrassen, welche in Anhang 2 der Durchgangsstrassenverordnung aufgeführt
sind, Tempo-30-Zonen grundsätzlich zulässig sind.
Nach Art. 32 Abs. 2 SVG beschränkt der Bundesrat die Geschwindigkeit der
Motorfahrzeuge auf allen Strassen. Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für
Fahrzeuge in Ortschaften ist mit Art. 4a Abs. 1 lit. a der
Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) vom Bundesrat
auf 50 km/h festgelegt worden. Art. 32 Abs. 3 SVG sieht weiter vor, dass die
vom Bundesrat festgesetzten Höchstgeschwindigkeiten für bestimmte
Strassenstrecken von der zuständigen Behörde aufgrund eines Gutachtens herab-
oder heraufgesetzt werden können.
Bei der Einführung von Tempo-30-Zonen gemäss Art. 2a und 22a der
Signalisationsverordnung vom 5. September 1979 (SSV; SR 741.21) handelt es sich
um sogenannte funktionelle Verkehrsanordnungen im Sinne von Art. 3 Abs. 4 SVG
(Urteil 2A.90/2006 vom 26. Juni 2006 E. 1.1 mit Hinweisen). Im Grundsatz sind
Tempo-30-Zonen nur auf Nebenstrassen mit möglichst gleichartigem Charakter
zulässig (Art. 2a Abs. 5 SSV). Ausnahmsweise und bei b
BGE 136 II 539 S. 545
eson deren örtlichen Gegebenheiten kann aber auch ein Hauptstrassenabschnitt in
eine Tempo-30-Zone einbezogen werden, namentlich in einem Ortszentrum oder in
einem Altstadtgebiet (Art. 2a Abs. 6 SSV).
Die Gründe, welche eine Herabsetzung der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit
erforderlich machen können, werden in Art. 108 Abs. 2 SSV abschliessend
aufgezählt: Eine Gefahr ist nur schwer oder nicht rechtzeitig erkennbar und
anders nicht zu beheben (lit. a); bestimmte Strassenbenützer bedürfen eines
besonderen, nicht anders zu erreichenden Schutzes (lit. b); es kann auf
Strecken mit grosser Verkehrsbelastung der Verkehrsablauf verbessert (lit. c)
oder es kann eine im Sinne der Umweltschutzgesetzgebung übermässige
Umweltbelastung (Lärm, Schadstoffe) vermindert werden (lit. d). In Art. 108
Abs. 5 SSV werden für jede Strassenkategorie die zulässigen abweichenden
Höchstgeschwindigkeiten genannt. Innerorts sind unter anderem Tempo-30-Zonen
zulässig (Art. 108 Abs. 5 lit. e SSV). Einzelheiten zu den Anforderungen hat
das UVEK in der Verordnung über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen
geregelt (vgl. zum Ganzen Urteil 1C_206/2008 vom 9. Oktober 2008 E. 2.1).
Nach dem Gesagten sind Tempo-30-Zonen unter den Voraussetzungen von Art. 108
Abs. 2 SSV auch auf Hauptstrassen grundsätzlich zulässig (vgl. auch Urteil
2A.38/2006 vom 13. Juli 2006 E. 3.4.3, in: ZBl 108/2007 S. 611). Für als
Durchgangsstrassen bezeichnete Hauptstrassen - die Kantonsstrassen Nr. 6 und
Nr. 228 sind in Anhang 2 der Durchgangsstrassenverordnung aufgeführt - gilt
insoweit keine abweichende Regelung. Auf Durchgangsstrassen darf der
Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr nicht vollständig untersagt werden.
Signalisierte Verkehrsanordnungen, wie Mass- und Gewichtsbeschränkungen,
bleiben hingegen ausdrücklich vorbehalten (Art. 1 Satz 2 der
Durchgangsstrassenverordnung). Aus dem Wortlaut folgt, dass die Nennung von
Mass- und Gewichtsbeschränkungen beispielhaften Charakter hat und die
Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit - auch in Form von
Tempo-30-Zonen - nicht im Sinne qualifizierten Schweigens ausschliesst.

2.3 Die vom Beschwerdeführer hiergegen vorgebrachten Einwände sind nicht
stichhaltig:
Mit den bundesrätlichen Ausführungen zur Volksinitiative "für mehr
Verkehrssicherheit durch Tempo 30 innerorts mit
BGE 136 II 539 S. 546
Ausnahmen (Strassen für alle)" lässt sich eine prinzipielle Unzulässigkeit der
Zonensignalisation auf Durchgangsstrassen nicht begründen. Gemäss der Botschaft
zur Initiative wurde die Beschränkung der Zonensignalisation auf
siedlungsorientierte Nebenstrassen ganz bewusst getroffen. Fahrzeugführer
würden im Alltag überfordert, wenn Verkehrsmassnahmen mit Zonensignalisation
grossflächig für alle Innerortsstrassen, d.h. für ganz unterschiedliche
Strassenkategorien angeordnet würden (BBl 2000 2897). Diese Ausführungen sind
jedoch im Kontext der Initiative zu verstehen, welche innerorts die
Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h als Regel vorsah und Abweichungen nur in
begründeten Fällen zuliess. Die geltende Ordnung geht demgegenüber vom
gegenteiligen Konzept aus, wonach die Herabsetzung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h auf 30 km/h die Ausnahme bildet (vgl. Art. 2a
Abs. 5 und 6 SSV und E. 2.2 hiervor). Im Übrigen wird vorliegend die
Höchstgeschwindigkeit nicht flächendeckend auf dem gesamten Innerortsgebiet auf
30 km/h herabgesetzt. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde wird damit
auch der mit der Ablehnung der genannten Initiative geäusserte Volkswille nicht
umgangen.
Ebenso wenig kann der Beschwerdeführer aus den Erläuterungen des UVEK zur
Verordnung über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen etwas zu seinen
Gunsten ableiten, wird doch dort explizit festgehalten, der Einbezug von
Hauptstrassen in Tempo-30-Zonen sei ausnahmsweise möglich (Erläuterung UVEK, S.
3). Gleiches ergibt sich aus der Empfehlung "innerorts Verkehrsberuhigung" des
Bundesamts für Strassen ASTRA. Gemäss dieser Empfehlung eignen sich "für
verkehrsberuhigende Massnahmen in der Form der Zonensignalisation (...) vor
allem siedlungsorientierte Strassen", bei denen es sich "in der Regel um
Nebenstrassen" handelt (Empfehlung ASTRA, S. 12 f.). Auch das ASTRA geht
demnach nicht von der generellen Unzulässigkeit verkehrsberuhigender Massnahmen
in Form von Tempo-30-Zonen auf Hauptstrassen aus. Nichts anderes folgt aus der
Empfehlung des BAFU. Gestützt wird die Position des Beschwerdeführers
demgegenüber durch die Ausführungen der Beratungsstelle für Unfallverhütung,
wonach auf Durchgangsstrassen keine Tempo-30-Zonen eingeführt werden können.
Allerdings kommt der Broschüre der bfu nicht der Charakter eines Rechtssatzes
oder einer Weisung zu, weshalb hierauf nicht abzustellen ist. Soweit der
Beschwerdeführer ferner auf die VSS-Normen SN 640 044 und 640 045
(Projektierung, Grundlagen;
BGE 136 II 539 S. 547
Strassentyp: Erschliessungsstrassen) verweist, substanziiert er seine Rüge
nicht näher.

2.4 Schliesslich führt der Einbezug der beiden Kantonsstrassen in eine
Tempo-30-Zone im Bereich des Ortszentrums von Münsingen entgegen der Ansicht
des Beschwerdeführers nicht zwingend dazu, dass Rechtsvortritt zu gelten hat:
Gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG hat auf Strassenverzweigungen das von rechts kommende
Fahrzeug den Vortritt, während Fahrzeuge auf gekennzeichneten Hauptstrassen den
Vortritt haben, auch wenn sie von links kommen. Art. 4 der Verordnung über die
Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor,
in Tempo-30-Zonen eine vom Rechtsvortritt abweichende Vortrittsregelung zu
treffen, wenn die Verkehrssicherheit es erfordert. Die Unterstellung eines
Hauptstrassenabschnitts unter eine Tempo-30-Zone unter Beibehaltung der für
Hauptstrassen geltenden Vortrittsregelung ist folglich aus
Verkehrssicherheitsgründen durchaus zulässig.

3.

3.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das angefochtene Urteil verletze
Bundesrecht, weil es auf ein Gutachten des Tiefbauamts des Kantons Bern vom 19.
Juni 2007 abstelle, das den bundesrechtlichen Vorgaben (Art. 32 Abs. 3 SVG,
Art. 108 SSV und Verordnung über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen)
nicht genüge. So basierten die gutachterlichen Ergebnisse auf Simulationen ohne
Beweiswert. Die Herabsetzung der Geschwindigkeit bewirke keine Reduktion des
Verkehrs, sondern führe einzig zu einer Verlagerung des Staus an die
Dorfeingänge. Angesichts des nicht überzeugenden Gutachtens wäre es vorliegend
unerlässlich gewesen, im Interesse der vollständigen Sachverhaltsfeststellung
und richtigen Rechtsanwendung ein unabhängiges Obergutachten einzuholen. Mit
der Abweisung seines entsprechenden Antrags habe die Vorinstanz seinen Anspruch
auf rechtliches Gehör verletzt.

3.2 Die Anordnung von abweichenden Höchstgeschwindigkeiten ist nur gestützt auf
ein vorgängig zu erstellendes Gutachten zulässig. Dieses hat aufzuzeigen, dass
die Massnahme nötig, zweck- und verhältnismässig ist und keine anderen
Massnahmen vorzuziehen sind (Art. 32 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 108 Abs. 4 SSV).
Gutachten unterliegen der freien richterlichen Beweiswürdigung. In Fachfragen
darf das Gericht jedoch nur aus triftigen Gründen von einer Expertise
BGE 136 II 539 S. 548
abweichen. Die Beweiswürdigung und die Beantwortung der sich stellenden
Rechtsfragen ist Aufgabe des Gerichts. Dieses hat zu prüfen, ob sich aufgrund
der übrigen Beweismittel und der Vorbringen der Parteien ernsthafte Einwände
gegen die Schlüssigkeit der gutachterlichen Darlegungen aufdrängen. Erscheint
dem Gericht die Schlüssigkeit eines Gutachtens in wesentlichen Punkten
zweifelhaft, hat es nötigenfalls ergänzende Beweise zur Klärung dieser Zweifel
zu erheben. Das Abstellen auf eine nicht schlüssige Expertise bzw. der Verzicht
auf die gebotenen zusätzlichen Beweiserhebungen kann gegen das Verbot
willkürlicher Beweiswürdigung (Art. 9 BV) verstossen (BGE 130 I 337 E. 5.4.2 S.
345; BGE 128 I 81 E. 2 S. 84).
Art. 3 der Verordnung über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen
umschreibt den Inhalt des zu erstellenden Gutachtens näher, wobei der Inhalt
und der Umfang des Gutachtens auch vom Zweck der Geschwindigkeitsbeschränkung
und den örtlichen Gegebenheiten abhängen. Umfangreiche Untersuchungen können
beispielsweise bei verkehrsreichen Kantonsstrassen nötig sein. Im Ergebnis
entscheidend ist, dass die zuständige Behörde die erforderlichen Informationen
besitzt, um zu beurteilen, ob eine der Voraussetzungen von Art. 108 Abs. 2 SSV
erfüllt ist und ob die Massnahme im Hinblick auf das betreffende Ziel nötig,
zweck- und verhältnismässig ist (Art. 108 Abs. 4 SSV; vgl. zum Ganzen Urteil
1C_206/2008 vom 9. Oktober 2008 E. 2.2). Ob die Anordnung einer Tempo-30-Zone
zulässig ist, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition. Es übt jedoch
Zurückhaltung, soweit die Beurteilung von einer Würdigung der örtlichen
Verhältnisse abhängt, welche die zuständigen Behörden besser kennen als das
Bundesgericht (vgl. BGE 129 I 337 E. 4.1 S. 344). Verkehrsbeschränkungen der
hier in Frage stehenden Art sind zudem regelmässig mit komplexen
Interessenabwägungen verbunden. Die zuständigen Behörden besitzen einen
erheblichen Gestaltungsspielraum (vgl. Urteile 1C_153/2009 vom 3. Dezember 2009
E. 4.2 und 1C_206/2008 vom 9. Oktober 2008 E. 2.3).

3.3 Die Einführung der Tempo-30-Zone wird vorliegend insbesondere auf die
Bestimmung von Art. 108 Abs. 2 lit. c SSV gestützt, wonach die Herabsetzung der
Geschwindigkeit zulässig ist, wenn auf Strecken mit grosser Verkehrsbelastung
der Verkehrsablauf verbessert werden kann. Die Ortsdurchfahrt von Münsingen
weist mit
BGE 136 II 539 S. 549
einem durchschnittlichen Tagesverkehr von 17'300 Fahrzeugen auf der Bernstrasse
(vgl. Betriebskonzept, S. 5) eine grosse Verkehrsbelastung auf. Umstritten ist,
ob die Einführung der Tempo-30-Zone zu einem verbesserten Verkehrsfluss führt.
Der Beschwerdeführer stellt insoweit die gutachterlichen Ergebnisse in Frage.
Das Gutachten hält die Vorgaben von Art. 3 der Verordnung über die
Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen ein. So werden im Gutachten die Ziele,
welche mit der Tempo-30-Zone erreicht werden sollen (Art. 3 lit. a der
Verordnung), aufgelistet. Der von Art. 3 lit. b der Verordnung verlangte
Übersichtsplan mit der Hierarchie der Strassen fehlt zwar. In Übereinstimmung
mit der Argumentation im angefochtenen Urteil ist jedoch davon auszugehen, dass
die BVE als Oberaufsichtsbehörde auf dem Gebiet der Strassen über die örtlichen
Gegebenheiten und die Hierarchie der dortigen Strassen informiert ist. Zu den
Sicherheitsdefiziten und den Massnahmen zu deren Behebung (Art. 3 lit. c der
Verordnung) äussert sich das Gutachten ebenso wie zum vorhandenen
Geschwindigkeitsniveau (Art. 3 lit. d der Verordnung) und zur bestehenden und
angestrebten Qualität als Wohn-, Lebens- und Wirtschaftsraum (Art. 3 lit. e der
Verordnung). Thematisiert werden weiter die möglichen Auswirkungen der
Temporeduktion und Vorschläge zur Vermeidung allfälliger negativer Folgen (Art.
3 lit. f der Verordnung). Schliesslich wird die Erforderlichkeit einer
Tempo-30-Zone (Art. 3 lit. g der Verordnung) im Gutachten wie auch im
Betriebskonzept zum Strassenplan ausdrücklich begründet.

3.4 Die Gutachter kommen zusammenfassend zum Schluss, die Herabsetzung der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h auf 30 km/h verbessere den
Verkehrsfluss. Gemäss dem auf Computersimulationen beruhenden Betriebskonzept
weist die Ortsdurchfahrt von Münsingen mit einer Tempo-30-Zone und
Querungszonen eine höhere Leistungsfähigkeit auf als bei Tempo 50 mit
Fussgängerstreifen. Die Verflüssigung des Verkehrs sei im Wesentlichen darauf
zurückzuführen, dass zu Fuss gehende Personen beim Queren der Strasse ohne
Fussgängerstreifen (vgl. insoweit Art. 4 Abs. 2 der Verordnung über die
Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen) die Zeitlücken zwischen den Fahrzeugen
besser ausnutzten und ihnen kein Vortrittsrecht zustünde. Hierdurch könne
insbesondere das Stau verursachende und den öffentlichen Verkehr behindernde
"Stop-and-Go-Fahrverhalten" vermieden und die
BGE 136 II 539 S. 550
Durchflusskapazität erhöht werden. Im Ergebnis wird im Betriebskonzept und im
Gutachten gefolgert, die Massnahmen seien zweck- und verhältnismässig und
erfüllten die für die Festsetzung abweichender Höchstgeschwindigkeiten
erforderlichen Voraussetzungen gemäss Art. 108 SSV.
In Übereinstimmung mit der Einschätzung der Vorinstanz erscheinen die
Ausführungen der Fachbehörde im Betriebskonzept nachvollziehbar. Der
Beschwerdeführer macht hiergegen einzig pauschal geltend, den
Computersimulationen käme kein Beweiswert zu, ohne diese Rüge jedoch näher zu
substanziieren. Insbesondere vermag er mit seinen Vorbringen nicht darzutun,
dass das Betriebskonzept und das Gutachten auf offensichtlich falschen
Sachverhaltsannahmen beruhten. Selbst wenn der Stau - wie vom Beschwerdeführer
betont - aufgrund der Tempo-30-Zone primär an die Dorfeingänge verlagert würde,
ändert dies nichts daran, dass die Temporeduktion in Kombination mit der
Umgestaltung des Verkehrsraums und der Einführung sog. Dosierungsanlagen zur
angestrebten Verflüssigung des Verkehrs im belebten Ortszentrum führen dürfte.
Das Gutachten und das Betriebskonzept legen zusammenfassend schlüssig dar,
weshalb die Massnahme als nötig, zweck- und verhältnismässig einzustufen ist.
Bei diesem Ergebnis konnte die Vorinstanz - ohne den Anspruch des
Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zu verletzen - in antizipierter
Beweiswürdigung auf die Einholung eines Obergutachtens verzichten.