Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 II 393



Urteilskopf

136 II 393

35. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Schweizer
Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) und Mitb. gegen
Kanton St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_78/2009 vom 31. August 2010

Regeste

Art. 8 Abs. 3 BV; Art. 3 und 6 GlG; Gleichstellung von Mann und Frau;
gehaltsmässige Einreihung von Funktionen des öffentlichen Dienstes.
Der Umstand allein, dass andere weiblich oder neutral besetzte Berufsgattungen
vom gleichen Arbeitgeber in Bezug auf ihre Entlöhnung nicht
geschlechtsdiskriminierend behandelt werden, stellt keinen sachlichen Grund
dar, der die - in casu vom Arbeitgeber anerkannte - Vermutung einer
geschlechtsbedingten besoldungsmässigen Benachteiligung der klagenden
Berufsgruppen umzustossen vermöchte (E. 11).

Sachverhalt ab Seite 394

BGE 136 II 393 S. 394

A. Die Regierung des Kantons St. Gallen verneinte am 4. Februar und 26. März
2003, dass die gemäss den Richtlinien über Einreihung und Beförderung des
Staatspersonals des Kantons St. Gallen erfolgte Einstufung der an kantonalen
st. gallischen Spitälern angestellten Krankenschwestern (DN2), Hebammen,
medizinisch-technischen Radiologieassistentinnen, technischen
Operationsassistentinnen und medizinischen Laborantinnen gegen Art. 8 Abs. 3 BV
und Art. 3 des Bundesgesetzes vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von
Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG; SR 151.1) verstosse, und verzichtete
auf eine aussergerichtliche Klärung.

B.

B.a In der Folge erhoben der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und
Pflegefachmänner (SBK; Sektion St. Gallen/Thurgau/Appenzell), der
Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste (vpod), der
Schweizerische Hebammenverband (SHV; Sektion Ostschweiz), die Schweizerische
Vereinigung der Fachleute für medizinisch-technische Radiologie (SVMTRA), der
Schweizerische Berufsverband der technischen Operationsfachfrauen/-männer
(SBVTOA), der Fachverband der diplomierten medizinischen Laborantinnen und
Laboranten (labmed; Sektion Ostschweiz), die an kantonalen Spitälern im Kanton
St. Gallen tätigen drei Krankenschwestern (DN2) B., G. und L. sowie die fünf
Hebammen A., N., E., D. und P., eine medizinisch-technische
Radiologieassistentin, zwei technische Operationsassistentinnen und zwei
medizinische Laborantinnen im September und Oktober 2003 beim
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen Klagen auf Feststellung, dass die
Einreihung und damit die Entlöhnung der genannten Berufsgruppen gegen Art. 8
Abs. 3 BV und Art. 3 GlG verstosse. Gleichzeitig ersuchten die
Einzelklägerinnen für die Zeit vom 1. Oktober 1998 bis 31. August 2003
(Krankenschwestern, Hebammen), vom 1. November 1998 bis 30. September 2003
(medizinisch-technische Radiologieassistentinnen), vom 1. November 1998 bis 30.
September/31. Oktober 2003 (technische Operationsassistentinnen) bzw. vom 1.
November 1998 bis 31. Oktober 2003 (medizinische Laborantinnen) um Nachzahlung
noch festzusetzender Beträge zuzüglich 5 % Zins ab mittlerem Verfall sowie der
AHV- und Pensionskassenbeiträge.

B.b Das angerufene Gericht beauftragte PD Dr. H., Direktor des
Forschungsinstituts für Arbeit und Arbeitsrecht der Universität X., auf der
Grundlage der Vereinfachten Funktionsanalyse ein
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arbeitswissenschaftliches Gutachten bezüglich der Berufe der Klägerinnen und
des Polizisten sowie im Sinne eines Quervergleichs mit Blick auf drei weitere
Berufe zu erstellen. Eine gegen die Bestellung des Gutachters eingereichte
staatsrechtliche Beschwerde wies das Bundesgericht ab (Urteil 2P.78/2005 vom
21. Juli 2005).

B.c Gestützt auf das am 8. August 2007 erstattete Gutachten (nachstehend:
Gutachten) und nach Beizug verschiedener Amtsberichte wies das kantonale
Gericht die Klagen mit Entscheid vom 25. November 2008 ab. Als Begründung erwog
es im Wesentlichen, dass die gutachtliche Bewertung der Berufsgruppen der
Klagenden im Vergleich mit der Berufsgruppe der Polizisten sachgerecht und ohne
Hinweise auf geschlechtsdiskriminierende Elemente vorgenommen worden sei. Da
gestützt auf die Schlussfolgerungen des Gutachtens die medizinisch-technischen
Radiologieassistentinnen, die technischen Operationsassistentinnen und die
medizinischen Laborantinnen im Vergleich zur Berufsgattung der Polizisten nicht
zu tief, sondern zu hoch eingestuft seien, erwiesen sich die betreffenden
Feststellungs- und Leistungsbegehren von vornherein als unbegründet.
Demgegenüber würden die Berufsgruppen der Hebamme mit Grundausbildung und
Aufbau sowie der Krankenschwester (DN2) nicht nur verglichen mit
männerdominierten, sondern auch mit verschiedenen weiblich besetzten und einem
neutralen Beruf zu tief entlöhnt. Die Einreihung der entsprechenden
Berufssparten sei vor diesem Hintergrund zwar eventuell in rechtsungleicher,
nicht aber in - im vorliegenden Verfahren einzig zu beurteilender -
geschlechtsdiskriminierender Weise erfolgt.

C.

C.a Der SBK, der vpod und der SHV lassen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten führen und die Rechtsbegehren stellen, es sei in Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids festzustellen, dass die Einstufung der
Krankenschwestern/Krankenpfleger DN2, der Hebammen mit fachspezifischer
Ausbildung und der Hebammen mit Krankenpflegediplom sowie Zusatzausbildung und
damit deren Entlöhnung gemäss den Richtlinien über Einreihung und Beförderung
des Staatspersonals gegen Art. 8 Abs. 3 BV und Art. 3 Abs. 1 und 2 GlG
verstosse.

C.b Die Pflegefachfrauen B., G. und L. sowie die Hebammen A., N., E., D. und P.
lassen ebenfalls Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
einreichen und beantragen, es sei in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids
festzustellen, dass ihre
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Einreihung und damit ihre Entlöhnung gegen Art. 8 Abs. 3 BV und Art. 3 Abs. 1
und 2 GlG verstosse bzw. verstossen habe, und es sei die Sache zur Festsetzung
der nachzuzahlenden Besoldungen an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Der Kanton St. Gallen lässt auf Abweisung der Beschwerden schliessen, soweit
auf sie eingetreten werden könne, während die Vorinstanz deren Abweisung
beantragt. Das zur Vernehmlassung eingeladene Eidgenössische Büro für die
Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) ersucht um Beschwerdegutheissung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

11. Das kantonale Gericht hat auf der Grundlage der gutachtlichen
Feststellungen zutreffend erkannt, dass die Berufsgruppen der Krankenschwestern
DN2 und der Hebammen/Hebammen Aufbau im Vergleich mit dem Anforderungsprofil
der Polizisten, der Rettungssanitäter IVR (mit 24-monatiger Weiterbildung) und
der Diätköchinnen und -köche - sowohl ohne wie auch mit Berücksichtigung der
faktischen Lohnstufen - nicht entsprechend dem Wert ihrer jeweiligen
Tätigkeiten, sondern zu tief entlöhnt werden.

11.1 Eine besoldungsmässige Diskriminierung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Satz 3
BV setzt voraus, dass zum Nachteil eines geschlechtstypisch identifizierten
Berufs Lohnunterschiede bestehen, welche nicht sachbezogen in der Arbeit selbst
begründet sind, sondern auf geschlechtsspezifische Umstände abstellen (vgl.
nicht publ. E. 5.1 und nachstehend E. 11.3.1). Die Vorinstanz folgert daraus -
ohne sich bei diesem Schritt auf das Gutachten abzustützen -, dass nicht nur
die Entlöhnung der klagenden weiblichen Berufsgruppen mit derjenigen männlich
oder neutral besetzter Berufsgruppen verglichen werden müsse. Vielmehr sei auch
das Verhältnis des Lohngefüges der klagenden Berufsgruppen untereinander zu
berücksichtigen. Da der - korrekt vorgenommene - Vergleich der Berufsgruppen
der technischen Operationsassistentinnen, der medizinischen Laborantinnen und
der medizinisch-technischen Radiologieassistentinnen mit der Funktion der
Polizei ergebe, dass die weiblich identifizierten Berufsgruppen zu hoch
eingestuft seien, fehle es diesen bereits an der Tatbestandsvoraussetzung der
Gleichwertigkeit, weshalb deren Klagen abzuweisen seien. Aus der
Gegenüberstellung resultiere
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aber auch, dass die Hebammen mit Grundausbildung und Aufbau und die
Krankenschwestern DN2 verglichen mit den erwähnten drei weiblich dominierten
Berufsgruppen sowie der neutralen Berufsgruppe der Diätköchinnen und -köche zu
niedrig eingestuft seien. Dies deute darauf hin, dass sie mit Blick auf das
allgemeine Gleichbehandlungsgebot gemäss Art. 8 Abs. 1 BV zu schlecht entlöhnt
würden. Gegen das Gleichstellungsgesetz verstosse indessen nur die
geschlechtsbedingte Diskriminierung (Urteil 2A.91/2007 vom 25. Februar 2008 E.
6.3). Eine solche liege bezüglich der Hebammen und Krankenschwestern nicht vor,
da sie auch im Vergleich mit verschiedenen weiblich dominierten sowie einem
neutralen Beruf eine zu tiefe Einstufung aufwiesen. Dieser Umstand führe
hinsichtlich der Berufsgruppen der Krankenschwestern und Hebammen ebenfalls zur
Klageabweisung.
(...)

11.3 Wurde eine Lohndiskriminierung im Sinne des Art. 6 GlG glaubhaft gemacht,
ist der Arbeitgeber zum Nachweis verpflichtet, dass die geringere Entlöhnung in
Wirklichkeit nicht geschlechtsdiskriminierend, sondern durch sachliche Gründe
gerechtfertigt ist; misslingt ihm dies, gilt die geschlechtsspezifische
Benachteiligung als erstellt (BGE 125 III 368 E. 4 S. 372; Urteil 2A.91/2007
vom 25. Februar 2008 E. 2 mit Hinweis). Eine Lohndiskriminierung entfällt
mithin, wenn die Lohndifferenz durch die zu erbringende Arbeit oder die in
Frage stehende Funktion sachlich begründet erscheint. Sachlich begründet ist
ein Lohnunterschied im Einzelvergleich oder bei der Einstufung von
Frauenberufen, wenn er sich auf sog. objektive Kriterien stützt oder nicht
geschlechtsspezifisch motiviert ist (BGE 127 III 207 E. 3c S. 213 f.; Urteil
2A.730/2006 vom 3. September 2007 E. 6; SUSY STAUBER-MOSER,
Gleichstellungsgesetz und bundesgerichtliche Rechtsprechung, in:
Wirtschaftsrecht in Bewegung - Festgabe zum 65. Geburtstag von Peter
Forstmoser, 2008, S. 500; ELISABETH FREIVOGEL, in: Kommentar zum
Gleichstellungsgesetz, 2009, N. 144 f. zu Art. 3 GlG). Zu den objektiven
Kriterien gehören Gründe, die den Wert der Arbeit beeinflussen, wie Ausbildung,
Dienstalter, Qualifikation, Erfahrung, konkreter Aufgabenbereich, Leistung,
soweit sie sich im Arbeitsergebnis niederschlägt, oder Risiken; darüber hinaus
kann es sich um Gründe handeln, welche sich aus sozialen Rücksichten ergeben,
wie familiäre Belastung und Alter, und schliesslich kommen auch äussere
Faktoren wie die konjunkturelle Lage in Betracht, soweit ihre Berücksichtigung
einem wirklichen
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unternehmerischen Bedürfnis entspricht (BGE 130 III 145 E. 5.2 S. 164 f.; BGE
125 III 368 E. 5 S. 373 f. mit diversen Hinweisen; STAUBER- MOSER, a.a.O., S.
500; zum ganzen Themenkreis siehe ferner FLORENCE AUBRY GIRARDIN, Égalité
salariale et décisions judiciaires: questions pratiques du point de vue de la
justice, AJP 2005 S. 1062 ff., 1068 ff.). Das Bundesgericht hat ferner im Sinne
eines allgemeingültigen Grundprinzips festgehalten, dass der Arbeitgeber nicht
eine Diskriminierung durch eine andere zu rechtfertigen vermag (BGE 127 III 207
E. 4b S. 215). Eine Lohndiskriminierung zwischen weiblichen und männlichen
Angestellten ist somit auch möglich, wenn der Arbeitgeber die Angestellten des
gleichen Geschlechts ebenfalls ungleich behandelt. Würde dies nicht so
gehandhabt, könnte der Arbeitgeber, indem er mit Angestellten des gleichen
Geschlechts lohnmässig unterschiedlich verfährt, jeden Vorwurf der -
geschlechtsbedingten - Diskriminierung abwehren.

11.3.1 Im Rahmen der Prüfung, ob die Entlöhnung eines typischen Frauenberufes
diskriminierend ist oder ob hiefür sachliche Gründe bestehen, hat, wie bereits
festgehalten wurde (nicht publ. E. 5.1), nach der Rechtsprechung ein Vergleich
mit typisch männlich oder neutral identifizierten Berufen zu erfolgen. Dass die
Vorinstanz nicht nur die Berufe der beim Bundesgericht Beschwerde führenden
Krankenschwestern und Hebammen bewertete, ist einzig darauf zurückzuführen,
dass Vertreterinnen weiterer Frauenberufe Klage erhoben haben und die Verfahren
vereinigt wurden. Hätten auch vorinstanzlich lediglich die Krankenschwestern
und Hebammen geklagt, wären die weiteren Frauenberufe nicht in den Vergleich
einzubeziehen gewesen. Der Umstand allein, dass andere weiblich oder neutral
besetzte Berufe vom gleichen Arbeitgeber in Bezug auf ihre Entlöhnung nicht
diskriminierend behandelt werden, stellt im Lichte der angeführten Judikatur
jedenfalls keinen sachlichen Grund dar, der die vom Beschwerdegegner anerkannte
Vermutung einer geschlechtsbedingten besoldungsmässigen Benachteiligung der
Beschwerdeführerinnen umzustossen vermöchte.

11.3.2 Es bleibt demnach festzustellen, dass es dem Kanton als Arbeitgeber
nicht gelungen ist, mit dem im angefochtenen Entscheid vorgebrachten
Argumentarium den Beweis für eine nicht im Geschlecht der Beschwerdeführerinnen
begründete Schlechterstellung der Entlöhnung zu erbringen. Die Angelegenheit
ist daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es auf Grund dieser
Prämisse erneut über die Begehren der Klägerinnen befinde. (...)