Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 II 263



Urteilskopf

136 II 263

24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Flughafen Zürich AG (unique zurich airport) und Mitb. gegen C. und Mitb. sowie
Eidg. Schätzungskommission, Kreis 10 (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
1C_284/2009 / 1C_288/2009 / 1C_290/2009 vom 8. Juni 2010

Regeste

Entschädigungsansprüche für übermässige Lärmbelastung durch Flugverkehr;
Voraussetzung der Unvorhersehbarkeit; umweltschutzrechtliche Ansprüche der von
übermässigen Fluglärm-Immissionen betroffenen Grundeigentümer.
Stichtag für die (Un)Vorhersehbarkeit der Fluglärm-Immissionen im
Einzugsbereich der schweizerischen Landesflughäfen ist der 1. Januar 1961. Die
starke Zunahme der Ostanflüge seit 2001 aufgrund der Beschränkungen des
deutschen Luftraums führt nicht zu einer Neufestsetzung dieses Stichdatums (E.
7).
Unabhängig von der Vorhersehbarkeit der übermässigen Fluglärmbelastungen stehen
den Betroffenen Ansprüche auf umweltschutzrechtliche Schallschutzvorkehren zu
Lasten des Verursachers zu. Notwendigkeit der koordinierten Anwendung von
Enteignungs-, Umwelt- und Raumplanungsrecht (E. 8).

Sachverhalt ab Seite 264

BGE 136 II 263 S. 264

A. Am 22. Mai 2000 kündigte Deutschland die schweizerisch-deutsche Vereinbarung
von 1984 über die An- und Abflüge zum bzw. vom Flughafen Zürich über deutsches
Hoheitsgebiet (AS 1984 1346). Im Herbst 2001 einigten sich die Parteien auf
einen Staatsvertrag, mit dessen Umsetzung - voranwendungs- und schrittweise -
sogleich zu beginnen war. So wurde am 19. Oktober 2001 ein neues, den deutschen
Luftraum entlastendes Nachtflugregime eingeführt; die Landungen, die bis dahin
von Norden erfolgt waren, wurden auf die Piste 28 verlegt, mit Anflug aus
Osten. Weitere Ostanflüge wurden eingeführt, als am 27. Oktober 2002 die neue
staatsvertragliche Wochenend- und Feiertagsregelung zu greifen begann. Gegen
den
BGE 136 II 263 S. 265
bloss vorläufig angewandten, aber noch nicht ratifizierten Staatsvertrag
erwuchs im schweizerischen Parlament Widerstand; am 18. März 2003 scheiterte er
dort endgültig. Die Beschränkungen des Staatsvertrags entfielen jedoch nicht,
da sie von Seiten Deutschlands in einer einseitigen Durchführungsverordnung
(DVO) verankert wurden. Die DVO wurde sukzessive verschärft, sodass es zu stets
noch mehr Anflügen aus Osten kam, vor allem während der Nachtstunden.

B. Seit der Einführung der Ostanflüge im Herbst 2001 meldeten eine Vielzahl von
Grundeigentümern aus dem betroffenen Gebiet Entschädigungsbegehren bei der
Flughafen Zürich AG an. Diese übermittelte die Gesuche an die Eidgenössische
Schätzungskommission, Kreis 10 (ESchK), die (...) Enteignungsverfahren
einleitete. Auf Antrag der Flughafen Zürich AG beschränkte die ESchK am 2. März
2005 die Verfahren auf die Frage der Unvorhersehbarkeit als eine der
Anspruchsvoraussetzungen.

C. Am 17. Dezember 2007 kam die ESchK zum Schluss, massgeblicher Stichtag für
die Unvorhersehbarkeit sei der 1. Januar 1961. Sie wies daher die Begehren all
jener ab, die ihr Grundeigentum seit diesem Datum erworben hatten und auch
nicht von einem direkten Überflug betroffen sind. (...)

D. Gegen 17 dieser 29 Entscheide gingen beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer)
vom 20. März bis zum 23. Mai 2008 insgesamt 37 Beschwerden mit 1'093
beschwerdeführenden Parteien ein. Alle Beschwerdeführer beantragten die
Aufhebung des sie betreffenden Entscheids sowie - ausdrücklich oder sinngemäss
- die Feststellung der Unvorhersehbarkeit der Ostanflüge. (...)

E. Das BVGer vereinigte alle Beschwerdeverfahren in dieser Sache. Am 26. Mai
2009 hiess es die Beschwerden gut, soweit die ESchK die
Entschädigungsforderungen wegen Lärmimmissionen abgewiesen hatte. Es ging davon
aus, Stichdatum für die Frage der Vorhersehbarkeit sei der 23. Mai 2000, d.h.
der Tag nach der Kündigung der Verwaltungsvereinbarung von 1984 durch
Deutschland. Es hob insoweit die angefochtenen Entscheide der ESchK (...) auf
(...) und wies die Sache an die ESchK zurück mit der Anweisung, für die Frage
der Vorhersehbarkeit das Stichdatum 23. Mai 2000 zu berücksichtigen. (...)

F. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Flughafen Zürich AG als auch zahlreiche
Gesuchsteller Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten ans
Bundesgericht erhoben.
BGE 136 II 263 S. 266

F.a Die Flughafen Zürich AG (Verfahren 1C_284/2009) beantragt, (...) die Sache
an das BVGer zurückzuweisen mit der Anweisung, für die Frage der
Vorhersehbarkeit von Fluglärmimmissionen das Stichdatum 1. Januar 1961 als
massgebend zu erachten. (...)

F.b Die Eheleute Bq. und Mitbeteiligte (Verfahren 1C_288/2009) beantragen,
(...) die Vorinstanzen seien anzuweisen, als neues Stichdatum den 18. Oktober
2001, eventualiter den 3. Juli 2001, festzusetzen.

F.c Die Eheleute Cc. und Mitbeteiligte ([...] Verfahren 1C_290/2009) verlangen,
als Stichdatum für die Vorhersehbarkeit der Lärmimmissionen infolge Einführung
der Ostanflüge sei der 4. Juli 2001 festzusetzen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Flughafen Zürich AG gut und weist
die übrigen Beschwerden ab.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:

Auszug aus den Erwägungen:

7. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung setzt ein Entschädigungsanspruch
für die Unterdrückung nachbarlicher Abwehrrechte gegenüber Lärmeinwirkungen
voraus, dass (kumulativ) die drei Bedingungen der Unvorhersehbarkeit der
Lärmimmissionen, der Spezialität der Immissionen sowie der Schwere des
immissionsbedingten Schadens gegeben sind (vgl. etwa BGE 123 II 481 E. 7 S. 490
ff.; BGE 130 II 394 E. 7.1 S. 402, E. 9.2 S. 410, E. 12 S. 414; je mit
Hinweisen).

7.1 Das Bundesgericht hat den Stichtag für die (Un)Vorhersehbarkeit der
Fluglärm-Immissionen im Einzugsbereich der schweizerischen Landesflughäfen auf
den 1. Januar 1961 festgesetzt. Ab diesem Datum sei eine markante Zunahme der
Zivilluftfahrt und, damit verbunden, eine entsprechende Zunahme des Fluglärms
in der Umgebung der Landesflughäfen für jedermann vorauszusehen gewesen. Dies
wurde zunächst für den Landesflughafen Genf entschieden (BGE 121 II 317 E. 6b-c
S. 334 ff.; bestätigt in BGE 128 II 231 E. 2.2 S. 234, BGE 134 II 329 E. 2.1 S.
331; BGE 129 II 72 E. 2.1 S. 74; 131 II 137 E. 2.1 S. 142). Das Datum 1. Januar
1961 wurde auch für den Landesflughafen Zürich für massgeblich erklärt (BGE 123
II 481 E. 7b S. 491 f.; BGE 134 II 49 E. 7 S. 62, BGE 134 II 145 E. 6 S. 149).
Das Begehren des Kantons Zürich und der Flughafen Zürich AG, den Stichtag für
den Landesflughafen Zürich vorzuverlegen, wies das Bundesgericht ab (BGE 130 II
E. 394 E. 12.1 S. 415).
BGE 136 II 263 S. 267
Das Bundesgericht hat diese Regel unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 1 Abs.
2 ZGB aufgestellt (BGE 121 II 317 E. 6b/bb S. 337). Es hat in der Folge
mehrfach betont, dass es sich um eine allgemeingültige Regel handelt, die in
allen Verfahren zur Anwendung gelangen müsse, in denen es um die Enteignung von
Nachbarrechten wegen des Betriebs eines Landesflughafens gehe. Die Regel sei
streng zu beachten und dürfe nicht von Fall zu Fall angepasst oder derogiert
werden, etwa aufgrund der örtlichen und persönlichen Verhältnisse des
Einzelfalls (BGE 131 II 137 E. 2.3 S. 144; BGE 134 II 49 E. 7 S. 63). Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung musste ab dem 1. Januar 1961 jedermann - und
nicht nur Flugspezialisten oder Anwohner eines Flugplatzes - um die Belastungen
durch Fluglärm in der Umgebung der Landesflughäfen wissen (BGE 131 II 138 E.
2.3 S. 144; BGE 121 II 317 E. 6a S. 333 und E. 6b/bb S. 337).
Dabei kommt es - wie die ESchK zutreffend dargelegt hat - allein auf die
Auswirkungen des Flugbetriebs an, unabhängig davon, auf welche konkreten
Ursachen politischer, technischer, wirtschaftlicher, betrieblicher oder anderer
Natur Änderungen im Betrieb der Landesflughäfen zurückzuführen sind.

7.2 Gestützt auf diese Praxis entschied das Bundesgericht, dass auch das
sprunghafte Ansteigen der Südabflüge durch die Einführung der "4. Welle" der
Swissair im Herbst 1996 nicht zu einer Neufestsetzung des Stichdatums führe.
Dies, obwohl sich die Stadt Opfikon bis Mitte der 1990er-Jahre in einer relativ
privilegierten Situation befunden hatte: Normalerweise erfolgten alle Abflüge
auf Piste 28/10 in Richtung West, und diese Vorzugslage schien auch durch das
damalige Betriebsreglement für den Flughafen Zürich und den Lärmzonenplan
gewährleistet (vgl. dazu BGE 130 II 394 E. 12.3.1-12.3.3 S. 420 ff.). Im
zitierten BGE räumte das Bundesgericht ein, dass das erhebliche Ausmass der
fluglärmbedingten Belästigungen und die damit verbundene Entwertung der
Liegenschaften erst nach Umstellung des Abflugbetriebs im Herbst 1996
(Einführung der "4. Welle") erkennbar geworden seien. Dieser Umstand wurde bei
der Festsetzung des Verjährungsbeginns berücksichtigt (a.a.O., E. 12.3.3 S.
423), führte dagegen nicht zur Verneinung der Vorhersehbarkeit. Vielmehr hielt
das Bundesgericht die für die Vorhersehbarkeit der Fluglärm-Immissionen
massgebende Schwelle des 1. Januar 1961 auch für die durch den Abflugverkehr
betroffenen Grundeigentümer in Opfikon-Glattbrugg für anwendbar (a.a.O., E.
12.1 S. 415; bestätigt in BGE 134 II 49 E. 7 S. 62, BGE 134 II 145 E. 6 S.
149).
BGE 136 II 263 S. 268

7.3 Nichts anderes gilt für die vorliegend zu beurteilenden Ostanflüge: Zwar
waren die konkreten Gründe, die zur Einführung der Ostanflüge im Herbst 2001
führten, für die betroffenen Grundeigentümer unvorhersehbar. Die Auswirkungen
hielten sich jedoch im Rahmen dessen, was schon am 1. Januar 1961 vorhersehbar
gewesen war.
Der Flughafen Zürich wurde von Anfang an für den interkontinentalen Flugverkehr
konzipiert (vgl. Botschaft vom 13. Februar 1945 über den Ausbau der
Zivilflugplätze, BBl 1945 I 155, insb. S. 175) und mit einem kreuzförmigen
Pistensystem versehen, das Starts und Landungen in verschiedene Richtungen
erlaubt. Grundsätzlich war daher spätestens ab 1961 nicht nur die Zunahme des
Luftverkehrswachstums vorhersehbar, sondern es musste auch damit gerechnet
werden, dass einmal festgelegte Start- und Landerichtungen wieder abgeändert
werden könnten.
Wie das BVGer festgestellt hat, wurde die Piste 10/28 als Hauptpiste des
Flughafens Zürich errichtet und diente noch in den 1960er-Jahren sowohl für
Abflüge nach Westen als auch für Anflüge von Osten her. Insofern musste am
Stichtag 1. Januar 1961 generell mit einer Zunahme des Fluglärms in der Nähe
der Piste 28 und entlang ihrer Achsen gerechnet werden, und zwar sowohl in
östlicher als auch in westlicher Richtung. Dies gilt auch dann, wenn die Piste
- wie die Beschwerdegegner 9-25 geltend machen - vorwiegend für die Landung von
kleineren Flugzeugen benutzt und andere Anflugrouten als heute geflogen wurden.
Auch nachdem sich in den 1970er-Jahren das Pistenbenützungskonzept durchgesetzt
hatte, wonach von Norden gelandet und nach Westen gestartet wurde, erfolgten
weiterhin Anflüge aus Osten bei Westwind. Dies belegt, dass Landungen auf der
Piste immer möglich waren, auch wenn sie von ihrer Länge und ihrer Topographie
weniger geeignet erschien als die beiden anderen Pisten. Zudem wurden im
Betriebsreglement 1992 maximal 12 Anflüge aus Osten pro Tag für
Turbopropellorflugzeuge im STOL-Verfahren bewilligt.
Zwar befanden sich die Gemeinden im Osten des Flughafens lange Zeit in einer -
im Vergleich zu anderen Zürcher Gemeinden - privilegierten Situation. Eine
Intensivierung der Ostanflüge wurde jedoch mehrfach diskutiert (z.B. im Rahmen
der 3. Bauetappe und bei der Einführung des VOR/DME-Anflugverfahrens 1989) und
hätte schon früher erfolgen können, z.B. zur Umsetzung der in der
schweizerisch-deutschen Vereinbarung von 1984 enthaltenen
Nachtflugbeschränkungen.
BGE 136 II 263 S. 269

7.4 Wie die Flughafen Zürich AG in ihrer Beschwerde zutreffend darlegt, ist es
kaum möglich, zwischen luftfahrts- bzw. kapazitätsbedingten Ursachen einerseits
und politischen Gründen andererseits zu unterscheiden.
Die zunehmenden Beschwerden der Bevölkerung wegen Fluglärms sind Folgen des
generellen Luftverkehrswachstums und damit eine "normale" luftverkehrsbedingte
Entwicklung. Diese Beschwerden führen zu (z.T. gegenläufigen) Forderungen nach
der Änderung von An- und Abflugsrouten bzw. Nachtflugbeschränkungen. Ob und
inwiefern sich einzelne Gruppen mit ihren Vorstellungen durchsetzen können, ist
immer auch eine politische Frage. Umgekehrt besteht ein starkes
wirtschaftspolitisches Interesse an der Beibehaltung bzw. Ausweitung von
Flugkapazitäten. So stellte die von der Swissair mit der "4. Welle"
beschlossene Konzentration der Interkontinentalflüge in Zürich zwar einen
unternehmerischen Entscheid dar; dieser wurde jedoch in der Westschweiz als
regional- und standortpolitischer Entscheid empfunden und kritisiert.
Der internationale Flugverkehr ist seiner Natur nach global: Er ist Gegenstand
verschiedener mulitlateraler und zahlreicher bilateraler Luftverkehrsabkommen,
und hängt von politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und Entscheidungen
ab, die dem Einflussbereich der schweizerischen Behörden und der Flughafen
Zürich AG weitgehend entzogen sind. Dies gilt in besonderem Masse für die
Landesflughäfen Genf und Zürich, die beide nahe an der Landesgrenze liegen.

7.5 Es gibt auch keinen Grund, die Vorhersehbarkeit geographisch auf einen
bestimmten Radius um den Landesflughafen herum zu begrenzen. Wie die ESchK
zutreffend ausgeführt hat, dürfte bei weit entfernten Liegenschaften bereits
das Erfordernis der Spezialität und der Schwere des Schadens nicht erfüllt
sein, weil mit zunehmender Distanz zum Flughafen der Fluglärm zwar noch
wahrgenommen wird, aber infolge der Flughöhen keine Grenzwerte mehr
überschritten werden.

8. Wie bereits dargelegt wurde, hat das Bundesgericht das Stichdatum für die
Vorhersehbarkeit unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 1 Abs. 2 ZGB
aufgestellt (BGE 121 II 317 E. 6b/bb S. 337), d.h. es ging vom Bestehen einer
Gesetzeslücke aus, die der Richter zu füllen habe. An dieser Rechtsprechung ist
festzuhalten, solange der Gesetzgeber keine andere Regelung trifft. Auf den
grundsätzlichen
BGE 136 II 263 S. 270
Einwand der Beschwerdeführer des Verfahrens 1C_290/2009, wonach keine genügende
gesetzliche Grundlage für einen Entschädigungsausschluss wegen Vorhersehbarkeit
der Lärmimmissionen ab dem 1. Januar 1961 bestehe, ist daher nicht weiter
einzugehen.
Dagegen veranlassen die Rügen zu den verfassungsrechtlich verankerten
Verursacher- (Art. 74 Abs. 2 BV) und Nachhaltigkeitsprinzipien (Art. 73 BV) das
Bundesgericht zu folgenden Bemerkungen:

8.1 Die in BGE 94 I 286 E. 8a S. 300 eingeleitete Rechtsprechung zur
Vorhersehbarkeit wurde mit dem öffentlichen Interesse an Bau und Betrieb
öffentlicher Verkehrsanlagen begründet: Die ständige Zunahme des
Strassenverkehrs mache die Errichtung neuer und die Vergrösserung bestehender
Strassen unabdingbar; wenn die Gemeinwesen alle damit einhergehenden Schäden
entschädigen müssten, so wären sie in vielen Fällen nicht in der Lage, die
notwendigen Arbeiten zu finanzieren (vgl. auch BGE 117 Ib 15 E. 2b S. 18 mit
Hinweisen zum Eisenbahnlärm). Im Urteil BGE 121 II 317 wurde diese
Rechtsprechung auf den Fluglärm übertragen: Der verfassungsrechtlichen
Eigentumsgarantie wurde die Notwendigkeit gegenübergestellt, die Gemeinwesen in
der Ausübung ihrer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben nicht
übermässig zu behindern (E. 5a S. 330, E. 5b S. 332 und E. 6b/bb S. 337).
Unausgesprochen liegt dieser Rechtsprechung aber auch der Gedanke zugrunde,
dass die Ausschüttung von Geld an einzelne Grundeigentümer nicht das geeignete
Mittel zur Besserstellung der lärmgeplagten Bevölkerung ist (MARGRIT SCHILLING,
Enteignungsrechtliche Folgen des zivilen Luftverkehrs, ZSR 125/2006 I S. 19).
Die beschränkten finanziellen Ressourcen sollen in erster Linie zur
Lärmbegrenzung an der Quelle oder, wenn dies nicht möglich ist, zum passiven
Schallschutz verwendet werden, d.h. für Massnahmen, die der Lärmbekämpfung und
damit dem Schutz der Gesundheit dienen und den unmittelbar Betroffenen (insb.
auch Mietern) zugutekommen.
Dies führte bereits im Entscheid BGE 119 Ib 348 E. 6c S. 364 ff. zu einer
Neuausrichtung des Enteignungsrechts. Die Schätzungskommissionen wurden
verpflichtet, die Enteignungsentschädigung - auch gegen den Willen des
Enteigneten - nicht als Geldleistung, sondern (ganz oder teilweise) als
Sachleistung in Form von Schallschutzmassnahmen an bestehenden Gebäuden
anzuordnen, um die Personen, die in einem den Immissionen ausgesetzten Gebäude
wohnen, wirksam in ihrem Wohlbefinden zu schützen.
BGE 136 II 263 S. 271

8.2 Massnahmen zum Schutz gegen übermässige Einwirkungen des Luftverkehrs bzw.
zu ihrer Abgeltung finden sich - ausserhalb des Enteignungsrechts -
insbesondere in der Umweltschutzgesetzgebung und im Raumplanungsrecht. Die
einschlägigen Bestimmungen dürfen nicht je isoliert, sondern müssen koordiniert
angewendet werden (vgl. dazu BGE 130 II 394 E. 8-10 S. 406 ff. mit Hinweisen).
Der Schutz von Menschen gegen schädliche und lästige Einwirkungen ist vor allem
Aufgabe des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz
(Umweltschutzgesetz, USG; SR 814.01) (Art. 1 Abs. 1 USG). Danach werden
Luftverunreinigungen, Lärm, Erschütterungen und Strahlen in erster Linie durch
Massnahmen bei der Quelle begrenzt (Art 11 Abs. 1 USG). Unabhängig von der
bestehenden Umweltbelastung sind Emissionen im Rahmen der Vorsorge so weit zu
begrenzen, als dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich
tragbar ist (Vorsorgeprinzip; Art. 11 Abs. 2 USG). Steht fest oder ist zu
erwarten, dass die Einwirkungen unter Berücksichtigung der bestehenden
Umweltbelastung schädlich oder lästig werden, so müssen verschärfte
Emissionsbegrenzungen angeordnet werden (Art. 11 Abs. 3 USG).
Bei öffentlichen oder konzessionierten, im überwiegenden öffentlichen Interesse
liegenden Anlagen, wie Strassen, Flughäfen und Eisenbahnanlagen, besteht zwar
die Möglichkeit, Erleichterungen über den Immissionsgrenzwert (und sogar über
den Alarmwert) hinaus zu gewähren (vgl. Art. 25 Abs. 3 USG für Neuanlagen; Art.
20 Abs. 1 USG in Verbindung mit Art. 17 und 14 Abs. 2 der Lärmschutz-Verordnung
vom 15. Dezember 1986 [LSV; SR 814.41] e contrario für bestehende Anlagen; zur
wesentlichen Änderung bestehender Anlagen vgl. BGE 124 II 293 E. 17 S. 328).
Die vom Lärm betroffenen Gebäude müssen aber grundsätzlich auf Kosten des
Eigentümers der lärmigen Anlage durch Schallschutzfenster oder ähnliche
bauliche Massnahmen geschützt werden. Bei neuen oder nach Inkrafttreten des USG
wesentlich geänderten Anlagen sind derartige Schutzvorkehren ab Überschreiten
des massgeblichen Immissionsgrenzwerts zu treffen (Art. 25 Abs. 3 bzw. Art. 20
Abs. 2 USG in Verbindung mit Art. 10, BGE 124 II 11 und 16 Abs. 2 LSV; vgl. BGE
124 II 293 E. 17 S. 328 f.; BGE 126 II 522 E. 39a S. 569 f.).
Bei Flughäfen, die nach Inkrafttreten des USG errichtet oder (wie der Flughafen
Zürich) wesentlich geändert worden sind, erfolgt somit die Abgeltung
übermässiger Lärmbelastungen in erster Linie durch die umweltschutzrechtlichen
Schallschutzvorkehren
BGE 136 II 263 S. 272
(BGE 130 II 394 E. 9.2 S. 411). Diese werden ab Überschreitung des
Immissionsgrenzwerts geschuldet, unabhängig von weiteren Voraussetzungen, wie
namentlich der Vorhersehbarkeit und der Spezialität der Immissionen und der
Schwere des Schadens. Die Kosten dieser Massnahmen gehen zulasten der
Flughafen-Eigentümerin und werden durch lärmabhängige Gebühren, die in den
Lärmfonds des Zürcher Flughafens ("Airport Zurich Noise Fund"; AZNF) fliessen,
auf die Benutzer umgelegt.
Wesentliche Änderungen des Flugbetriebs - wie die hier streitige Einführung der
Ostanflüge seit 2001 - führen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zwar
nicht zur Unvorhersehbarkeit der Fluglärmimmissionen im enteignungsrechtlichen
Sinn. Dagegen sind sie als erhebliche Änderung der Flughafenanlage zu
qualifizieren, mit der Folge, dass alle Betroffenen bei
Immissionsgrenzwertüberschreitungen Schallschutzmassnahmen verlangen können,
unabhängig davon, ob sie ihre Liegenschaft vor oder nach dem 1. Januar 1961
erworben bzw. überbaut haben.

8.3 Gleichzeitig muss durch raumplanerische Massnahmen dafür gesorgt werden,
dass Wohngebiete vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen wie
Luftverschmutzung, Lärm und Erschütterungen möglichst verschont werden (Art. 3
Abs. 3 lit. b RPG; SR 700), und zwar soweit möglich auch unterhalb der
Grenzwerte gemäss USG (BGE 127 I 103 E. 7c-g S. 110 ff.; BGE 112 Ib 26 E. 5d S.
38; Urteil 1A.194/ 2006 vom 14. März 2007 E. 7, in: URP 2007 S. 509; ZBl 109/
2008 S. 284). Einerseits dürfen in fluglärmbelasteten Gebieten grundsätzlich
keine neuen Wohnsiedlungen entstehen (vgl. Art. 24 und 22 USG); andererseits
muss der Flughafenbetrieb Rücksicht auf bestehende Wohngebiete nehmen.
Dieser Nutzungskonflikt ist in erster Linie durch die Überarbeitung der
raumplanerischen Grundlagen zu lösen (BGE 127 I 103 E. 7f S. 113 mit
Hinweisen). Der komplexe Interessenausgleich für den Flughafen Zürich ist
Gegenstand des laufenden Verfahrens für die Erstellung des Objektblatts Zürich
des Sachplans Infrastruktur Luftfahrt (SIL). Dieser wird die raumplanerischen
und betrieblichen Rahmenbedingungen für den Flughafen Zürich festlegen und als
Grundlage für das definitive Betriebsreglement des Flughafens Zürich dienen.

8.4 Dabei wird nach Lösungen gesucht, die einerseits die Rolle des Flughafens
Zürich als grösster und wichtigster Landesflughafen der
BGE 136 II 263 S. 273
Schweiz sicherstellen und andererseits dem Grundsatz der nachhaltigen
Entwicklung genügen (Bericht des Bundesrats vom 10. Dezember 2004 über die
Luftfahrtpolitik der Schweiz; BBl 2005 1799 ff.). Ziel dieser Planung muss es
insbesondere auch sein, den Flugbetrieb möglichst anwohnerfreundlich
auszugestalten (vgl. dazu BRINK/ROMETSCH/WIRTH/SCHIERZ, Der Einfluss von
abendlichem und morgendlichem Fluglärm auf Belästigung, Befindlichkeit und
Schlafqualität von Flughafenanwohnern, 2007, S. 162 ff.). Soweit hierzu
Beschränkungen des Flugverkehrs angeordnet werden, treffen diese (wie auch die
damit einhergehenden Kosten) zwangsläufig die Flughafeneigentümerin und die
Benutzer des Flughafens als Verursacher des Fluglärms.
Sofern dicht besiedelte Wohngebiete vor Fluglärm nicht verschont werden können,
müssen die betroffenen Anwohner zumindest durch bauliche Massnahmen von
schädlichem Lärm abgeschirmt werden. Dies ist nach dem oben (E. 8.2) Gesagten
jedenfalls dann geboten, wenn die Immissionsgrenzwerte gemäss Anh. 5 LSV
überschritten werden. In besonders gelagerten Konstellationen (z.B.
frühmorgendliche Anflugwellen, welche die Anwohner in ihrem Schlaf
beeinträchtigen) werden die zuständigen Behörden prüfen müssen, ob es
hinsichtlich bestehender Bauten auf stark belasteten Grundstücken aufgrund
einer einzelfallbezogenen Betrachtung zudem geboten ist, passive
Schallschutzmassnahmen anzuordnen, obwohl der Mittelungspegel für den Tag (6.00
bis 22.00 Uhr) gemäss Anh. 5 LSV eingehalten wird (vgl. BGE 126 II 522 E. 43 b
S. 577 f. und E. 45 a/bb S. 587).