Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 II 177



Urteilskopf

136 II 177

17. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen Departement des Innern des Kantons Solothurn (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_490/2009 vom 2. Februar 2010

Regeste

Art. 8 EMRK; Art. 29 BV; Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG; Art. 7 lit. d FZA; Art. 2
und 3 Anhang I FZA; Art. 2 Abs. 2, 43, 47 und Art. 51 AuG;
Wiedererwägungsgesuch für Familiennachzug gemäss Freizügigkeitsabkommen.
Für das Eintreten auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
genügt ein vertretbar begründeter potentieller Bewilligungsanspruch; ob dessen
Voraussetzungen im Einzelnen gegeben sind, ist Frage der materiellen
Beurteilung (E. 1).
Voraussetzungen, unter denen auf ein ausländerrechtliches Wiedererwägungsgesuch
von Bundesrechts wegen eingetreten werden muss (E. 2).
Beim Familiennachzug von Stiefkindern im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens zu
prüfende Aspekte (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 178

BGE 136 II 177 S. 178
X. (geb. 1968) war von 1992 bis zum 21. Juni 2002 in der Türkei verheiratet.
Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Y. (geb. 21. Juni 1993) und Z. (geb. 25.
April 1996). Am 12. März 2002 ersuchte X. in der Schweiz um Asyl; am 24.
Dezember 2002 heiratete er eine hier niedergelassene deutsche Staatsangehörige,
worauf ihm am 11. April 2003 eine (in der Folge regelmässig erneuerte)
Aufenthaltsbewilligung und am 17. März 2008 die Niederlassungsbewilligung
erteilt wurde.
Am 13. August 2007 ersuchte X. darum, seine Kinder, über deren Sorgerecht er
seit der Scheidung verfügte, in die Schweiz nachziehen zu können, was das
Departement des Innern des Kantons Solothurn (Ausländerfragen) am 16. Dezember
2008 ablehnte. Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn bestätigte diesen
Entscheid auf Beschwerde hin am 8. April 2009. Es begründete seine Haltung im
Wesentlichen damit, dass die Kindsmutter und die Eltern von X., auch wenn
dessen Mutter erkrankt sei, weiterhin als die wichtigsten Bezugspersonen für
die Kinder zu gelten hätten und für diese in der Heimat gesorgt werden könne.
Am 18. Dezember 2008 bzw. 6. Januar 2009 beantragte X. beim Departement des
Innern des Kantons Solothurn, die Verfügung vom 16. Dezember 2008 in
Wiedererwägung zu ziehen, da sich die Rechtslage geändert habe und die
Unterscheidung des Nachzugs von Kindern zu den gemeinsamen Eltern oder bloss zu
einem Elternteil keine Rolle mehr spiele. Das Departement trat am 13. Mai 2009
auf das Gesuch nicht ein, da keine neuen Tatsachen oder Umstände ersichtlich
seien, die einen (nachträglichen) Familiennachzug rechtfertigen würden. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn wies die hiergegen eingereichte
Beschwerde am 14. Juli 2009 ab.
BGE 136 II 177 S. 179
Das Bundesgericht heisst die von X. hiergegen eingereichte Beschwerde gut, hebt
das Urteil des Verwaltungsgerichts auf und weist die Sache zu neuem Entscheid
im Sinne der Erwägungen an das Departement des Innern des Kantons Solothurn
zurück.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen die Erteilung oder Verweigerung
von Bewilligungen ausgeschlossen, auf die weder das Bundesrecht noch das
Völkerrecht einen Anspruch einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Der
Beschwerdeführer ist türkischer Staatsbürger und seit Ende 2002 mit einer hier
niedergelassenen Deutschen verheiratet. Er kann sich für seinen Aufenthalt und
denjenigen seiner Kinder wegen der Staatsbürgerschaft seiner Gattin bzw. wegen
deren (originären) Anwesenheitsrechts als Arbeitnehmerin grundsätzlich auf Art.
7 lit. d FZA berufen, da nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr
erforderlich ist, dass er oder seine Kinder sich hierfür bereits rechtmässig
mit einem nicht nur vorübergehenden Aufenthaltstitel in der Schweiz oder in
einem anderen Vertragsstaat aufgehalten haben (vgl. BGE 136 II 5 E. 3.7 S. 19
[Praxisänderung "Metock"]). Nach dieser Bestimmung regeln die Vertragsparteien
das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen, ungeachtet von deren
Staatsangehörigkeit, im Rahmen des Anhangs I. Der Anwendung des
Freizügigkeitsabkommens steht nicht entgegen, dass seine Ehefrau bereits vor
dessen Inkrafttreten in die Schweiz einreiste (vgl. BGE 134 II 10 E. 2 S. 13);
ausschlaggebend ist, dass sie sich selber nach Inkrafttreten des Abkommens als
Arbeitnehmerin auf ein Anwesenheitsrecht im Sinne von Art. 2 Anhang I FZA
berufen kann (BGE 130 II 1 E. 3.4 S. 7; Urteil 2A.425/2003 vom 5. März 2004 E.
3.3 mit Hinweisen, in: ZBl 106/2005 S. 532 ff.). Ob die (weiteren)
Bewilligungsvoraussetzungen gegeben sind, ist eine Frage der materiellen
Prüfung (LAURENT MERZ, Le droit de séjour selon l'ALCP et la jurisprudence du
Tribunal fédéral, in: RDAF 2009 I S. 248 ff., dort S. 305 f.). Für das
Eintreten genügt, dass im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens potentiell ein
Anspruch besteht bzw. die Kriterien einer der im FZA vorgesehenen Situationen
der Freizügigkeit erfüllt erscheinen (vgl. Art. 4, 10 und 11 FZA; BGE 131 II
339 E. 1.2; BGE 130 II 388 E. 1.2 [je zu Art. 100 Abs. 1 lit. b
BGE 136 II 177 S. 180
Ziff. 3 OG]; Urteil 2C_217/2009 vom 11. September 2009 E. 1.2). Das
Bundesgericht kann die Rechtslage gemäss FZA vorliegend berücksichtigen, auch
wenn die Verfahrensbeteiligten sich ursprünglich nicht darauf berufen haben (
BGE 130 II 1 E. 3.1 S. 5; Anwendung des Bundesrechts von Amtes wegen), da ihnen
der Instruktionsrichter Gelegenheit gegeben hat, sich im Rahmen eines zweiten
Schriftenwechsels zur ursprünglich für sie nicht absehbaren Anwendung des FZA
auf den vorliegenden Sachverhalt zu äussern.

1.2 Das Ausländergesetz sieht vor, dass ausländische Ehegatten und ledige
Kinder unter 18 Jahren von Personen mit Niederlassungsbewilligung Anspruch auf
Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung haben, wenn sie mit
dieser Person zusammenwohnen (Art. 43 AuG [SR 142.20]) und die anderen im
Gesetz vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind (Art. 47 und Art. 51 AuG). Die
Regelung findet auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU und deren
Familienangehörigen nur Anwendung, soweit das Freizügigkeitsabkommen keine
abweichenden Bestimmungen enthält oder das Ausländergesetz für sie günstiger
ist als die staatsvertragliche Regelung (Art. 2 Abs. 2 AuG; BGE 134 II 10 E.
3.6 und 4; MERZ, a.a.O., S. 290; vgl. auch EPINEY/CIVITELLA, Die rechtliche
Stellung von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen in der Schweiz - ein
Vergleich ausgewählter Aspekte, in: Jahrbuch für Migrationsrecht 2007/2008,
Achermann und andere [Hrsg.], 2008, S. 3 ff., S. 41 ff.). Sollte das
Freizügigkeitsabkommen im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen, könnte
sich der Beschwerdeführer zumindest auf den Rechtsanspruch nach Art. 43 AuG (in
Verbindung mit Art. 126 Abs. 3 AuG) bzw. im Verhältnis zu seinen minderjährigen
Kindern, zu denen er eine intakte, gelebte familiäre Beziehung hat, auch direkt
auf Art. 13 BV bzw. Art. 8 EMRK berufen. Ob die entsprechenden
Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, wäre wiederum eine Frage der materiellen
Prüfung und nicht der Zulässigkeit des Rechtsmittels (so zu Art. 50 Abs. 1 lit.
b AuG: Urteil 2C_216/2009 vom 20. August 2009 E. 1.4; zu Art. 8 EMRK: Urteil
2D_138/2008 vom 10. Juni 2009 E. 2.2; BGE 122 II 289 E. 1c S. 292 ff.).

1.3 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist nur gegen
kantonal letztinstanzliche richterliche Entscheide zulässig (Art. 86 BGG).
Soweit der Beschwerdeführer die Aufhebung der Verfügung des Departements des
Innern verlangt, ist auf sein Begehren nicht einzutreten; der entsprechende
Entscheid gilt jedoch
BGE 136 II 177 S. 181
inhaltlich als mitangefochten (BGE 129 II 438 E. 1 S. 441; BGE 125 II 29 E. 1c
S. 33; Urteil 2A.725/2006 vom 23. März 2007 E. 1.4). Nachdem der
Beschwerdeführer ausschliesslich das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons
Solothurn vom 14. Juli 2009 anficht, bildet einzig die Frage
Verfahrensgegenstand, ob sich das Departement des Innern (Ausländerfragen)
wegen der neuen Rechtslage mit dem "Wiedererwägungsgesuch" vom 6. Januar 2009
materiell hätte befassen müssen. Da beide Instanzen davon ausgegangen sind,
dass das neue Recht zu keiner anderen Lösung geführt hätte, weshalb auf das
Wiedererwägungsgesuch nicht einzutreten gewesen sei, sind vorliegend aber auch
gewisse Überlegungen zu dessen Auslegung erforderlich. In diesem Rahmen ist auf
die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde einzutreten.

2.

2.1 Nach der zu Art. 4 aBV entwickelten bundesgerichtlichen Praxis, die im
Rahmen von Art. 29 BV weiter gilt (vgl. BGE 127 I 133 E. 6 S. 137), ist eine
Verwaltungsbehörde von Verfassungs wegen verpflichtet, auf ein neues Gesuch
einzutreten, wenn die Umstände sich seit dem ersten Entscheid wesentlich
geändert haben oder wenn der Gesuchsteller erhebliche Tatsachen und
Beweismittel namhaft macht, die ihm im früheren Verfahren nicht bekannt waren
oder die schon damals geltend zu machen für ihn rechtlich oder tatsächlich
unmöglich war oder keine Veranlassung bestand (BGE 124 II 1 E. 3a S. 6 mit
Hinweis). Die Wiedererwägung von Verwaltungsentscheiden, die in Rechtskraft
erwachsen sind, ist nicht beliebig zulässig. Sie darf namentlich nicht bloss
dazu dienen, rechtskräftige Verwaltungsentscheide immer wieder infrage zu
stellen oder die Fristen für die Ergreifung von Rechtsmitteln zu umgehen (BGE
120 Ib 42 E. 2b S. 47 mit Hinweisen).

2.2

2.2.1 Ob ein Wiedererwägungsgesuch in Fällen wie dem vorliegenden materiell zu
behandeln ist, hängt davon ab, ob sich der Sachverhalt oder bei
Dauersachverhalten die Rechtslage in einer Art geändert hat, dass ein anderes
Ergebnis ernstlich in Betracht fällt (vgl. die Urteile 2C_274/2009 vom 28.
Oktober 2009 E. 2.2 und 2A.476/2005 vom 9. Mai 2006 E. 2, je mit Hinweisen).
Wird im Zusammenhang mit einem Sachverhalt, der nach rechtskräftigem Abschluss
des ursprünglichen ausländerrechtlichen Verfahrens anhält, ein neuer Antrag
gestellt, wobei sich der Gesuchsteller auf eine geänderte Rechtslage beruft,
besteht ein Anspruch auf Neubefassung bzw. auf einen neuen Sachentscheid nur,
wenn er darlegt, dass und
BGE 136 II 177 S. 182
inwiefern sich die massgebende Rechtslage nachträglich wesentlich verändert
hat; dabei genügt es nicht, dass er lediglich darauf hinweist, dass neues Recht
in Kraft getreten ist, um kurz nach rechtskräftigem Abschluss eines Verfahrens
einen Anspruch auf Neubefassung mit dem gleichen Lebenssachverhalt zu
begründen; es ist vielmehr im Einzelnen darzulegen, inwiefern das neue Recht zu
einer anderen Beurteilung führen muss (Urteil 2C_168/2009 vom 30. September
2009 E. 4.2).

2.2.2 Das ursprüngliche Gesuch des Beschwerdeführers stammte vom 13. August
2007 und war damit noch gestützt auf Art. 17 des Bundesgesetzes vom 26. März
1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG bzw. Art. 7 ANAG
i.V.m. Art. 2 FZA [BGE 134 II 10 E. 3.6 und 4.1]) und die bundesgerichtliche
Rechtsprechung dazu zu beurteilen. In seinem Entscheid vom 8. April 2009 hielt
das Verwaltungsgericht ausdrücklich fest, dass "nicht zu beurteilen sei", wie
das Familiennachzugsgesuch unter der Herrschaft des AuG zu beurteilen wäre,
womit das Bundesgericht diese Frage ebenfalls nicht geprüft hätte. Der
Beschwerdeführer hatte somit keine andere Möglichkeit, um seine Situation
neurechtlich prüfen zu lassen, als mit einem begründeten Wiedererwägungsgesuch
erneut an die Bewilligungsbehörde zu gelangen, welche auf dieses hätte
eintreten müssen: Er hat detailliert dargelegt, dass das neue Recht für ihn
günstiger sei, da in der Doktrin davon ausgegangen werde, dass die gestützt auf
den Wortlaut von Art. 17 ANAG gemachte Unterscheidung zwischen dem Nachzug von
Kindern bis zu 18 Jahren zu den gemeinsamen Eltern bzw. demjenigen zu nur einem
Elternteil unter dem neuen Recht nicht mehr gelten könne. Da das Bundesgericht
sich seinerseits zu dieser Frage noch nicht geäussert hatte, wäre das
Departement des Innern gehalten gewesen, das neue Gesuch an die Hand zu nehmen;
es hätte dieses nicht durch einen Nichteintretensentscheid erledigen dürfen,
und das Verwaltungsgericht hätte die gegen diesen Entscheid gerichtete
Beschwerde gutheissen müssen, zumal das Bundesgericht inzwischen mit Urteil vom
15. Januar 2010 die Auffassung verworfen hat, dass die bisherige Rechtsprechung
zum Familiennachzug auch für die neue Regelung von Art. 43 in Verbindung mit
Art. 47 und Art. 126 Abs. 3 AuG gilt (vgl. BGE 136 II 78).

3.

3.1 Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben und die Sache zur
materiellen Prüfung und allfälligen Erteilung der
BGE 136 II 177 S. 183
Nachzugsbewilligung an das Departement des Innern des Kantons Solothurn
zurückzuschicken. Dieses wird zu berücksichtigen haben, dass der
Beschwerdeführer sich als Ehegatte einer deutschen Bürgerin auf das
Freizügigkeitsabkommen berufen kann, das für den Familiennachzug von
Staatsbürgern aus EU/EFTA-Ländern eine grosszügigere Regelung kennt als das
Ausländergesetz (vgl. MARC SPESCHA, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd/
Bolzli [Hrsg.], 2. Aufl. 2009, Nr. 22, N. 9 ff. zu Art. 3 Anhang I FZA; CARONI/
MEYER/OTT, Migrationsrecht, 2009, N. 498 ff.; EPINEY/CIVITELLA, Die rechtliche
Stellung von Unionsbürgern [...], a.a.O., S. 3 ff.). Nach Art. 7 lit. d FZA
regelt das Freizügigkeitsabkommen unter anderem - ungeachtet deren
Staatsangehörigkeit - das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen von
Personen, welche die Staatsbürgerschaft eines der Vertragsstaaten besitzen und
von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben. Der Anhang I zum FZA
sieht vor, dass die Familienangehörigen einer Person, die Staatsangehörige
einer Vertragspartei ist und ein Aufenthaltsrecht hat, über die Befugnis
verfügen, bei dieser Wohnung zu nehmen, soweit der Arbeitnehmer für seine
Familie über eine Wohnung verfügt, die ortsgemäss für die inländischen
Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht. Als
Familienangehörige gelten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, (1) der
Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt
sind oder denen Unterhalt gewährt wird (Art. 3 Abs. 2 lit. a Anhang I FZA); (2)
die Verwandten und die Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie, denen
Unterhalt gewährt wird (Art. 3 Abs. 2 lit. b Anhang I FZA) und (3) im Fall von
Studierenden der Ehegatte und die unterhaltsberechtigten Kinder (Art. 3 Abs. 2
lit. c Anhang I FZA). Im Übrigen "begünstigen" die Vertragsparteien die
Aufnahme aller anderen Familienangehörigen, "denen der Staatsangehörige einer
Vertragspartei Unterhalt gewährt oder mit denen er im Herkunftsland in einer
häuslichen Gemeinschaft lebt" (Art. 3 Abs. 2 Anhang I FZA).

3.2 Mit Urteil vom 29. September 2009 hat sich das Bundesgericht - wie bereits
dargelegt - der Änderung der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen und
festgestellt, dass das Recht auf Familiennachzug in Anwendung des FZA nicht
mehr von einem vorherigen rechtmässigen Aufenthalt in einem Signatarstaat des
FZA abhängt (vgl. BGE 136 II 5 E. 3 S. 11). Es hat am 5. Januar 2010 zudem die
bisher von ihm offengelassene Frage, ob der Familiennachzug gemäss dem
Freizügigkeitsabkommen auch für Stiefkinder gilt,
BGE 136 II 177 S. 184
bejaht (BGE 136 II 65 E. 4 S. 73): Den Materialien des Freizügigkeitsabkommens
liessen sich grundsätzlich keine Anhaltspunkte entnehmen, dass die Bestimmung
anders zu verstehen sei als die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des
Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb
der Gemeinschaft (ABl. L 257 vom 19. Oktober 1968 S. 2 ff.) durch den EuGH.
Dieser hat am 17. September 2002 entschieden, dass das Recht auf Wohnungsnahme
beim Wanderarbeiter sowohl seinen Nachkommen als auch denjenigen seines
Ehegatten zusteht (Urteil C-413/1999 Baumbast und R., Slg. 2002 I-7091 Randnr.
57).

3.2.1 Zwar erging dieser Entscheid nach Inkrafttreten des FZA, doch nahm der
EuGH darin im Wesentlichen die vorbestehende Rechtsprechung präzisierend auf,
wonach die Verordnung 1612/68 mit Blick auf die Ziele der Personenfreizügigkeit
weit auszulegen sei (vgl. das Urteil C-389/87 Echternach G.B.C., Slg. 1989 S.
723). Die Auslegung der Verordnung Nr.1612/68/EG, welche dem
Freizügigkeitsabkommen zugrunde liegt, floss in der Folge im Sinne des
Entscheids "Baumbast" in die Richtlinie Nr. 2004/38/EG ein (Richtlinie 2004/38/
EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 29. April 2004 über das Recht
der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung
[EWG] Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/
194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35 EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96
EWG, ABl. L 229 vom 29. Juni 2004 S. 35 ff.; auch publ. in: Textsammlung
Migrationsrecht, Achermann und andere [Hrsg.], 2009, A 3.2; vgl. ANNE WALTER,
"Inländerdiskriminierung" beim Familiennachzug, Nijmegen/Osnabrück 2008, S. 25
ff., S. 34 ff.). Art. 2 Ziff. 2 lit. c der Richtlinie 2004/38/EG stellt heute
klärend fest, dass als Familienangehörige "die Verwandten in gerader
absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten [...], die das 21.
Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt
wird", gelten. In diesem Punkt geht es nicht um einen neuen, an die
EU-Bürgerschaft anknüpfenden weiterführenden Aspekt der Personenfreizügigkeit
innerhalb der Union (vgl. etwa die Erwägungen 5, 9, 15, 17, 19 und 23 ff. der
Richtlinie; ANNE WALTER, a.a.O., S. 34 ff.), sondern um eine Konsolidierung des
"Acquis communautaire", wie ihn die Schweiz mit der Unterzeichnung (Art. 16
Abs. 2 FZA) des Freizügigkeitsabkommens übernommen hat (vgl. BGE 136 II 65 E. 3
und 4 S. 70 ff.;
BGE 136 II 177 S. 185
SPESCHA, a.a.O., Nr. 22 N. 2 zu Art. 16 FZA; EPINEY/FAEH, Zum Aufenthaltsrecht
von Familienangehörigen im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Jahrbuch für
Migrationsrecht 2005/2006, Achermann und andere [Hrsg.], 2006, S. 49 ff., dort
S. 62 mit Hinweis). Hiervon gingen denn damals auch schon die schweizerische
Lehre und Verwaltungspraxis aus (MINH SON NGUYEN, Droit public des étrangers,
2003, S. 395 f.; Bundesamt für Ausländerfragen, Rundschreiben vom 8. Juli 2002
zu Grundsatzfragen bei der Umsetzung des Freizügigkeitsabkommens, Ziff. 2.1;
vgl. heute auch: ASTRID EPINEY, Die schweizerische Rechtsprechung zum
Personenfreizügigkeitsabkommen - ein Überblick, in: Jahrbuch für
Migrationsrecht 2004/2005, Achermann und andere [Hrsg.], 2005, S. 148; MERZ,
a.a.O., S. 281; MINH SON NGUYEN, Le regroupement familial dans la loi sur les
étrangers et dans la loi sur l'asile révisée, in: Jahrbuch für Migrationsrecht
2005/2006, Achermann und andere [Hrsg.], 2006, S. 31 ff., dort S. 46; SPESCHA,
a.a.O., Nr. 22, N. 9 zu Art. 3 Anhang I FZA; derselbe, Inländerdiskriminierung
im Ausländerrecht?, in: AJP 2008 S. 1433, CARONI/MEYER/OTT, a.a.O., N. 500;
ACHERMANN/CARONI, Einfluss der völkerrechtlichen Praxis auf das schweizerische
Migrationsrecht, in: Ausländerrecht, Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], 2.
Aufl. 2009, N. 6.51).

3.2.2 Der Anspruch steht unter dem Vorbehalt (1) des räumlichen, persönlichen
und sachlichen Geltungsbereichs und des Fortbestehens der Bewilligungs- und
Nachzugsvoraussetzungen gemäss dem von der Schweiz im FZA übernommenen "Acquis
communautaire" (vgl. CARONI/MEYER/OTT, a.a.O., N. 434 ff., 498 ff.; SPESCHA,
Migrationsrecht, a.a.O., Nr. 22, N. 6 ff. zu Art. 3 Anhang I FZA; ASTRID
EPINEY, Zur Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Personenfreizügigkeit -
Hinweise, in: Jahrbuch für Migrationsrecht 2007/2008, Achermann und andere
[Hrsg.], 2008, S. 249 ff., dort S. 254 ff., insbesondere S. 256 f.), (2) der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 5 Anhang I FZA; CARONI/
MEYER/OTT, a.a.O., N. 506 ff.; EPINEY/CIVITELLA, Zur schweizerischen
Rechtsprechung zum Personenfreizügigkeitsabkommen, in: Jahrbuch für
Migrationsrecht 2007/2008, Achermann und andere [Hrsg.], 2008, S. 227 ff.,
insbesondere S. 247; EPINEY, Zur Rechtsprechung des EuGH, a.a.O., S. 257 f.),
(3) allfälliger offensichtlich überwiegender Interessen des nachzuziehenden
Kindes im Sinne des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des
Kindes (Kinderrechtskonvention, KRK; SR 0.107; BGE 136 II 65 E. 5.2 S. 76 und
BGE 136 II 78),
BGE 136 II 177 S. 186
da die internationalrechtlichen Regelungen des FZA in Übereinstimmung mit der
EMRK und der KRK auszulegen sind, nachdem es sich dabei um gemeinsame
Grundwerte der Unterzeichnerstaaten und der EU handelt, sowie (4) des Verbots
des Rechtsmissbrauchs (vgl. BGE 136 II 65 E. 5.2 S. 76).

3.2.3 Der von der Personenfreizügigkeit Gebrauch machende EU- bzw.
EFTA-Angehörige muss mit Blick darauf, dass es darum geht, seine Freizügigkeit
nicht zu beschränken, mit dem Nachzug der Stiefkinder einverstanden sein; zudem
muss ein minimales tatsächliches (soziales) Familienleben des mit dem EU-Bürger
verheirateten Drittstaatsangehörigen zu den nachzuziehenden Angehörigen
vorbestanden haben; mit anderen Worten die Beziehung muss intakt und
sachgerecht tatsächlich gelebt worden sein (vgl. BGE 135 I 143 E. 1.3.1 S. 145
f. mit Hinweis); andernfalls ist die Tatsache, dass der Drittstaatspartner
eines EU-/EFTA-Bürgers seine Angehörigen nicht nachziehen kann, nicht geeignet,
die im FZA verankerte Personenfreizügigkeit zwischen den Signatarstaaten für
ihre Bürger massgeblich zu beeinträchtigen. Zivilrechtlich muss der
nachziehende Ehegatte des EU-Bürgers berechtigt sein, für das nachzuziehende
minderjährige Kind zu sorgen, bzw. bei geteiltem Sorgerecht zumindest über das
Einverständnis des anderen Elternteils für den Nachzug verfügen (MARC SPESCHA,
Die familienbezogene Rechtsprechung im Migrationsrecht [ANAG/AuG/FZA/EMRK] in
den Jahren 2007 und 2008 [bis Ende Juli] und zugleich ein Blick auf offene
Rechtsfragen, in: FamPra 4/2008 S. 843 ff., dort S. 852). Der Nachzugsentscheid
der Eltern darf zudem nicht in klarer Missachtung des Kindeswohls und der
familiären Bindungen des Nachzuziehenden in seinem Heimatstaat erfolgen (BGE
136 II 65 E. 5.2 S. 76; BGE 136 II 78). Vorbehalten bleibt auch das
Rechtsmissbrauchsverbot, wie es heute unionsrechtlich in Art. 35 der Richtlinie
2004/38/EG vorbehalten wird. Danach können die Mitgliedstaaten die Massnahmen
erlassen, die notwendig sind, um die durch die Richtlinie verliehenen Rechte im
Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von
Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen, soweit diese
Vorkehrungen verhältnismässig sind und die Verfahrensgarantien gewahrt bleiben
(vgl. BGE 136 II 65 E. 5.2 S. 76; BGE 130 II 113 E. 9 und 10; Art. 51 AuG).

3.3 Es wird am Departement des Innern des Kantons Solothurn sein, materiell zu
prüfen, ob und wieweit diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind
bzw. die bundesgerichtliche
BGE 136 II 177 S. 187
Rechtsprechung, wonach während der Übergangsfrist nach Art. 126 Abs. 3 AuG für
den nachträglichen Familiennachzug eines Elternteils nicht mehr im Sinne der
bisherigen Rechtsprechung vorausgesetzt ist, dass sich hierfür die
Betreuungsverhältnisse wesentlich verändert haben müssen, Anlass gibt, dem
Gesuch gestützt auf Art. 43 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 126 Abs. 3 AuG zu
entsprechen (vgl. BGE 136 II 78). Die Beschwerde ist in diesem Sinn
gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuem
Entscheid an das Departement des Innern des Kantons Solothurn (Ausländerfragen)
zurückzuweisen.