Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 II 132



Urteilskopf

136 II 132

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Güntert,
Sorg und Besson gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_275/2009 vom 1. Oktober 2009

Regeste

Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR, Art. 29a und 34 BV; Anspruch auf Nachzählung eines
knappen Resultats einer eidgenössischen Abstimmung.
Ein sehr knappes Abstimmungsresultat ist gleich zu behandeln wie
"Unregelmässigkeiten" i.S. von Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR (E. 2.4.2).
Ergibt die Nachzählung wiederum ein sehr knappes Resultat, so ist dies allein
kein Grund für eine weitere Nachzählung (E. 2.4.3).
Beschwerdeinstanz für ein Rechtsmittel gegen das noch nicht erwahrte
gesamtschweizerische Abstimmungsresultat ist gestützt auf Art. 29a i.V.m. Art.
34 BV das Bundesgericht (E. 2.5).

Sachverhalt ab Seite 133

BGE 136 II 132 S. 133

A. Am 13. Juni 2008 beschloss die Bundesversammlung die Genehmigung und die
Umsetzung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der Europäischen
Gemeinschaft betreffend die Übernahme der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 über
biometrische Pässe und Reisedokumente. Gegen diesen Bundesbeschluss wurde das
Referendum ergriffen. An der Volksabstimmung vom 17. Mai 2009 wurde der
Bundesbeschluss mit 953'136 Ja-Stimmen (50,14 %) gegen 947'632 Nein-Stimmen
(49,86 %) angenommen.
Mit teilweise gleichlautenden Eingaben erhoben Rudolf Güntert, Sonja Sorg,
André Besson und weitere Personen beim Regierungsrat des Kantons Zürich
Abstimmungsbeschwerden gemäss Art. 77 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 17.
Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1). Mit Verfügung vom 3.
Juni 2009 vereinigte die Präsidentin des Regierungsrats die insgesamt 96
Beschwerden und wies sie ab, soweit sie darauf eintrat.

B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das
Bundesgericht vom 15. Juni 2009 beantragen Rudolf Güntert, Sonja Sorg und André
Besson im Wesentlichen, die Abstimmung sei schweizweit für ungültig zu erklären
und es sei eine neue Abstimmung anzuordnen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführer verlangen im Verfahren vor Bundesgericht, die
Abstimmung sei "schweizweit als ungültig zu erklären". Aus der
Beschwerdebegründung erhellt, dass sie sich damit auf die Anordnung einer
(schweizweiten) Nachzählung beziehen (vgl. dazu BGE 123 V 335 E. 1 S. 336 ff.;
Urteil 1C_339/2008 vom 24. September 2008 E. 1.2; je mit Hinweisen). Zur
Begründung ihres Begehrens berufen sie sich auf Art. 34 Abs. 2 BV sowie auf das
bei eidgenössischen Abstimmungen allerdings nicht zur Anwendung gelangende
Gesetz des Kantons Zürich vom 1. September 2003 über die politischen Rechte (LS
161), nach dessen § 75 Abs. 3 die wahlleitende Behörde bei einem knappen
Ausgang eine Nachzählung
BGE 136 II 132 S. 134
anordnet. Sie sind der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der Fehlerquote
ein knappes Abstimmungsergebnis zwingend eine Nachzählung erfordere, auch ohne
Anhaltspunkte für darüber hinausgehende Unregelmässigkeiten.
Im kantonalen Verfahren hatten die Beschwerdeführer noch gefordert, die
kantonale Abstimmung sei erneut durchzuführen beziehungsweise deren Resultat
sei nachzuprüfen. Sie begründeten dieses Begehren damit, dass schweizweit der
Unterschied zwischen Ja- und Nein-Stimmen etwas mehr als 5'000 Stimmen betrage
und damit im Streubereich der Fehlerquote liege. Mit Blick auf mögliche
Nachzählungen in anderen Kantonen sei eine solche selbst dann geboten, wenn
trotz eines abweichenden Ergebnisses der Ausgang im Kanton Zürich nicht
entscheidend verändert würde. Dazu erwog die Vorinstanz, die Beschwerdeführer
würden sich in ihren Ausführungen auf allgemeine Mutmassungen stützen, ohne
nähere Angaben zu konkreten Vorfällen beziehungsweise Unregelmässigkeiten in
Wahlbüros zu machen. Zudem sei das zürcherische Abstimmungsresultat mit rund
51,9 % Ja-Stimmen nicht knapp ausgefallen und es bestehe auch insoweit kein
Anlass zu einer Nachzählung.
Die Zulässigkeit des vor Bundesgericht vorgetragenen Begehrens, die Abstimmung
sei "schweizweit" für ungültig zu erklären beziehungsweise es sei eine
schweizweite Nachzählung anzuordnen, hängt davon ab, ob bei einem knappen
eidgenössischen Abstimmungsresultat ein bundesrechtlicher Anspruch auf
Nachzählung besteht und wie ein derartiger Anspruch im Rahmen des bestehenden
Rechtsmittelsystems des Bundes durchgesetzt werden kann. Mit beiden Fragen
hatte sich das Bundesgericht bisher noch nicht auseinanderzusetzen. Auf sie ist
im Folgenden einzugehen.

2.2 Für eidgenössische Abstimmungen sieht Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR vor, dass
wegen Unregelmässigkeiten bei der Kantonsregierung Beschwerde geführt werden
kann. Die Kantonsregierung weist die Beschwerde gemäss Art. 79 Abs. 2^bis BPR
ohne nähere Prüfung ab, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten weder nach ihrer
Art noch nach ihrem Umfang dazu geeignet waren, das Hauptresultat der
Abstimmung wesentlich zu beeinflussen. Dass ein knappes Ergebnis allein kein
Grund für eine Aufhebung oder Nachzählung sein soll, entspricht der früheren
Praxis des Nationalrats zum Bundesgesetz vom 14. Februar 1919 betreffend die
Wahl des Nationalrats (AS 35 359; AB 1975 N 1540). Diese Praxis wurde bei den
parlamentarischen Beratungen zum Bundesgesetz über die politischen Rechte
bestätigt
BGE 136 II 132 S. 135
(AB 1976 N 1488). Eine subjektiv-historische Auslegung von Art. 77 Abs. 1 lit.
b BPR ergibt somit, dass mit der Verwendung des Begriffs "Unregelmässigkeiten"
nicht auch die erfahrungsgemäss bestehende und in diesem Sinne "regelmässige"
Fehlerquote beim Auszählen erfasst werden sollte.

2.3

2.3.1 Die Frage der Nachzählung bei kantonalen Wahlen und Abstimmungen wurde
vom Bundesgericht bereits mehrfach beurteilt. Diesbezüglich bestimmt in erster
Linie das kantonale Recht, unter welchen Voraussetzungen die zuständige Behörde
eine Nachzählung anordnet und ob der einzelne Stimmberechtigte eine Nachzählung
erwirken kann (BGE 131 I 442 E. 3.2 S. 447 mit Hinweisen).

2.3.2 Einige kantonale Gesetze weisen die Behörden an, bei Unterschreiten einer
festgelegten prozentualen Differenz zwischen Ja- und Nein-Stimmen oder
allgemein bei einem "knappen Resultat" eine Nachzählung vorzunehmen (vgl. z.B.
Art. 43 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. Juni 2005 über die politischen Rechte im
Kanton Graubünden [GPR; BR 150.100] - Nachzählen unter dem Schwellenwert von
0,3 %; Art. 45 der Vollziehungsverordnung des Kantons Obwalden vom 1. März 1974
zum Gesetz über die Ausübung der politischen Rechte [Abstimmungsverordnung; GDB
122.11] - "Knappe Abstimmungsergebnisse" sind nachzuzählen; Art. 26a Abs. 1 des
Gesetzes des Kantons Schaffhausen vom 15. März 1904 über die vom Volke
vorzunehmenden Abstimmungen und Wahlen sowie über die Ausübung der Volksrechte
[Wahlgesetz; SHR 160.100] - Nachzählen unter dem Schwellenwert von 0,3 %; Art.
39 Abs. 4 des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 4. Juli 1971 über die
Urnenabstimmungen [sGS 125.3] - Nachzählen bei einem "sehr knappen
Abstimmungsergebnis"; § 75 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 1.
September 2003 über die politischen Rechte [LS 161] und § 49 Abs. 1 der
Verordnung vom 27. Oktober 2004 über die politischen Rechte [VPR; LS 161.1] -
Nachzählen bei einem "knappen Ausgang" beziehungsweise wenn der Anteil der
Ja-Stimmen zwischen 49,8 und 50,2 % der Summe der Ja-Stimmen und der
Nein-Stimmen liegt).
In anderen Kantonen werden die Behörden in allgemeiner Weise bei Hinweisen auf
ein unrichtiges Resultat zu einer Nachzählung angehalten (so in § 79 Abs. 1 des
Gesetzes des Kantons Basel-Stadt vom 21. April 1994 über Wahlen und
Abstimmungen [Wahlgesetz; SG 132.100] - "sofern stichhaltige Gründe vorliegen,
welche die
BGE 136 II 132 S. 136
zuverlässige Ermittlung des Ergebnisses einer Wahl oder einer Abstimmung in
Frage stellen"; Art. 58 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Glarus vom 7. Mai 1989
über die Wahlen und Abstimmungen an der Urne [Abstimmungsgesetz; GS I D/22/2] -
"bei Verdacht, dass ein Ergebnis unrichtig ist"; § 52 Abs. 2 des Gesetzes des
Kantons Schwyz vom 15. Oktober 1970 über die Wahlen und Abstimmungen [SRSZ
120.100] - "Bestehen begründete Zweifel an der Richtigkeit eines Ergebnisses
[...]"; § 36 der Verordnung des Regierungsrats des Kantons Thurgau vom 25.
August 2003 zum Gesetz über das Stimm- und Wahlrecht [RB 161.11] - "wenn
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein unrichtiges Ergebnis ermittelt worden
sein könnte").
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die zuständige Behörde im
Übrigen auch ohne entsprechende gesetzliche Bestimmung von Amtes wegen eine
Nachkontrolle eines Wahl- oder Abstimmungsergebnisses anordnen, falls es nach
der gegebenen Sachlage als für die zuverlässige Ermittlung geboten erscheint (
BGE 131 I 442 E. 3.2 S. 447 f. mit Hinweisen).

2.3.3 Als Voraussetzung eines vom Einzelnen mit Beschwerde durchsetzbaren
Anspruchs auf Nachzählung (beziehungsweise auf Aufhebung der Wahl oder
Abstimmung) verlangen die kantonalen Gesetze in der Regel "Unregelmässigkeiten"
oder "Mängel" oder verwenden sinngemässe Formulierungen (vgl. etwa Art. 62 Abs.
1 und Art. 65 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 24.
April 1988 über die politischen Rechte [bGS 131.12]; § 83Abs. 1 lit. b des
Gesetzes des Kantons Basel-Landschaft vom 7. September 1981 über die
politischen Rechte [SGS 120]; § 81 Abs. 1lit. b des Wahlgesetzes des Kantons
Basel-Stadt, vgl. auch § 79 Abs. 3 Wahlgesetz; Art. 137 Abs. 3 Loi sur les
droits politiques vom 17. Oktober 1984 des Kantons Neuenburg [LDP; RSN 141];
Art. 54 lit. b des Gesetzes des Kantons Obwalden vom 17. Februar 1974 über die
Ausübung der politischen Rechte [Abstimmungsgesetz; GDB 122.1]; Art. 82^bis
Abs. 1 lit. c des Wahlgesetzes des Kantons Schaffhausen; Art. 217 Abs. 1 des
Gesetzes des Kantons Wallis vom 13. Mai 2004 über die politischen Rechte [SGS
160.1]; Art. 120Abs. 2 und Art. 123 Abs. 3 Loi sur l'exercice des droits
politiques vom 16. Mai 1989 des Kantons Waadt [LEDP; RSV 160.01]).
Teilweise werden die Beschwerdegründe nicht genauer bezeichnet (vgl.
beispielsweise die Verordnung des Kantons Appenzell Innerrhoden vom 11. Juni
1979 über die politischen Rechte [Nr. 160.010];
BGE 136 II 132 S. 137
Art. 150-154 des Gesetzes des Kantons Freiburg vom 6. April 2001 über die
Ausübung der politischen Rechte [PRG; SGF 115.1]; Art. 108- 112 Loi sur les
droits politiques vom 26. Oktober 1978 des Kantons Jura [RSJU 161.1]).
Eine vom Einzelnen durchsetzbare Verpflichtung zur Nachzählung kann sich zudem
gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung aus Art. 34 Abs. 2 BV ergeben (BGE
131 I 442 E. 3.3 S. 448 f. mit Hinweisen).

2.4

2.4.1 Soweit die einschlägige kantonale Gesetzgebung eine Nachzählung bei
Unterschreiten einer festgelegten prozentualen Differenz zwischen Ja- und
Nein-Stimmen oder allgemein bei einem "knappen Resultat" vorsieht, wird damit
nicht etwa in Frage gestellt, dass auch knappe Resultate zu respektieren sind.
Vielmehr wird dadurch einer erfahrungsgemässen Fehlerquote bei der Ermittlung
des Resultats oder mit andern Worten dem Umstand Rechnung getragen, dass
zweifelhaft sein kann, ob ein knappes Resultat auch ordnungsgemäss zustande
gekommen ist. Es handelt sich um die gesetzlich normierte Tatsachenvermutung,
dass ein knappes Resultat mit entscheidenden Zählfehlern behaftet ist. Diese
Tatsachenvermutung wird durch Nachzählen bestätigt oder widerlegt.

2.4.2 Es stellt sich die Frage, ob eine zeitgemässe Auslegung von Art. 77 Abs.
1 lit. b BPR nicht zum Ergebnis gelangen muss, dass die erfahrungsgemässe
Fehlerquote im Sinne einer Tatsachenvermutung dem Verdacht auf
Unregelmässigkeiten gleichzusetzen ist.
Der demokratische Fundamentalgrundsatz, dass ein noch so knappes Resultat von
den unterlegenen Stimmbürgern zu akzeptieren ist, darf nicht mit der Frage
verwechselt werden, ob das Resultat ordnungsgemäss zustande gekommen ist (BGE
131 I 442 E. 3.3 S. 448). Zählfehler sind Unregelmässigkeiten, die aufgrund der
erfahrungsgemässen Fehlerquote zu vermuten sind, deren Nachweis jedoch nur
mittels Nachzählen überhaupt möglich ist. Zwar kann es sein, dass äussere
Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass nicht korrekt ausgezählt wurde. Indessen
gibt es Zählfehler, für welche äusserlich keine Anhaltspunkte bestehen. Es
hiesse die Augen vor dieser Erfahrungstatsache zu verschliessen, würde eine
Nachkontrolle auch bei einem äusserst knappen Ergebnis zusätzlich von
"konkreten" Anzeichen für Unregelmässigkeiten abhängig gemacht. Die Praxis hat
denn auch desto geringere Anforderungen an den Nachweis von
BGE 136 II 132 S. 138
Unregelmässigkeiten gestellt, je knapper ein Wahlresultat ausgefallen war (vgl.
die Nachweise bei LUTZ/FELLER/MÜLLER, Nachzählung bei knappen Wahl- und
Abstimmungsergebnissen - überhöhte Erwartungen?, AJP 2006 S. 1519).
Insoweit wird die grundsätzlich geforderte kumulative Voraussetzung der
Unregelmässigkeit bei einem äusserst knappen Resultat praktisch vernachlässigt,
wie dies bereits im Urteil des Bundesgerichts 1P.363/1994 vom 15. Dezember 1994
zum Ausdruck gelangte. Dieses Urteil hat in der Literatur starke Beachtung
gefunden (siehe die Hinweise in BGE 131 I 442 E. 3.5 S. 450 f.). In ähnlicher
Weise hat das Bundesgericht in BGE 131 I 442 zwar wie bei anderen Gelegenheiten
erklärt, eine Nachzählung hänge auch bei einem äusserst knappen Resultat
zusätzlich von konkreten Anzeichen für Unregelmässigkeiten ab. Im Ergebnis hat
es jedoch die Erfordernisse für eine Nachzählung als erfüllt angesehen, obwohl
die namhaft gemachten Verfahrensfehler sich auf das Resultat gar nicht
ausgewirkt hatten (BGE 131 I 442 E. 3.8 S. 453 f. mit Hinweis; PIERRE
TSCHANNEN, Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren
2005 und 2006, ZBJV 142/2006 S. 801).
In Bezug auf die Zuverlässigkeit der Nachzählung geben LUTZ/FELLER/MÜLLER zu
bedenken, dass auch bei dieser Zählfehler auftreten dürften (a.a.O., S. 1531
f.; kritisch gegenüber Nachzählungen auch TSCHANNEN, a.a.O., S. 800 f.). Zudem
würden dabei nicht auch jene Fehlerquellen ausgemerzt, welche in anderen
Stadien als der Auszählung zum Tragen kämen, wie fehlerhafte Stimmregister
infolge von Todesfällen oder Umzug, Beeinflussungen bei der Stimmabgabe usw.
(a.a.O., S. 1525 ff.). Zu Recht halten MÜLLER/SCHEFER dem entgegen, dass dies
nicht gegen eine Nachzählung spreche (MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der
Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 622 Fn. 73). Denn wenn auch andere Fehlerquellen
bestehen mögen, so kann durch eine Nachzählung doch zumindest eine
(wesentliche) angegangen und zumindest teilweise behoben werden. Eine
Nachzählung findet nicht unter den gleichen Bedingungen statt wie die erste
Auszählung. Bestehende Stapel können überprüft und falsch zugeteilte
Stimmzettel auf den korrekten Stapel gelegt werden. Die folgende Neuzählung
dürfte mit besonderer Umsicht, aber auch ohne Zeitdruck, damit insgesamt
sorgfältiger vorgenommen werden. Das spricht für eine grössere Zuverlässigkeit
des Resultats einer Nachzählung. Die Literatur befürwortet denn auch
mehrheitlich eine
BGE 136 II 132 S. 139
Nachzählung bei einem sehr knappen Resultat, soweit zu der Frage Stellung
genommen wird (HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000, Rz. 2561; BERNHARD MAAG, Urnenwahl
von Behörden im Majorzsystem, 2004, S. 66 und 68; MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S.
622 Fn. 73; STEPHAN WIDMER, Wahl- und Abstimmungsfreiheit, 1989, S. 173 f.;
vgl. für weitere Hinweise [ohne eigene Stellungnahme]: MICHEL BESSON,
Behördliche Information vor Volksabstimmungen, 2003, S. 390 ff.; ETIENNE
GRISEL, Initiative et référendum populaires, 3. Aufl. 2004, Rz. 292; CHRISTOPH
HILLER, Die Stimmrechtsbeschwerde, 1990, S. 25, 31; RHINOW/SCHEFER,
Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 2100; WALTER STUTZ,
Rechtspflege, in: Das Bundesgesetz über die politischen Rechte, 1978, S. 129;
PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, L'expression fidèle et sûre de la volonté du corps
électoral, in: Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 21 Rz. 39).
Diesen Erkenntnissen tragen jene Kantone Rechnung, die bei knappen Ergebnissen
oder bei Erreichen einer bestimmten prozentualen Differenz zwischen Ja- und
Nein-Stimmen eine Nachzählung vorsehen. Vor diesem Hintergrund und damit in
Nachachtung des verfassungsmässigen Anspruchs auf unverfälschte Stimmabgabe
(Art. 34 Abs. 2 BV) ist auch Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR auszulegen. Es drängt
sich daher auf, die Tatsachenvermutung, ein sehr knappes Resultat sei mit
entscheidenden Zählfehlern behaftet, gleich zu behandeln wie der Verdacht auf
"Unregelmässigkeiten". Die Nachzählung bei sehr knappen Resultaten stärkt die
demokratischen Institutionen. Je sicherer ist, dass ein Resultat ordnungsgemäss
zustande gekommen ist, desto leichter fällt es den Unterlegenen, es zu
akzeptieren.

2.4.3 Da davon ausgegangen werden kann, dass die Nachzählung zu einem
zuverlässigeren Ergebnis führt, muss ihr eine grössere Bestandeskraft
zugesprochen werden. Ergibt die Nachzählung wiederum ein knappes Resultat, so
darf deshalb dieser Umstand allein nicht zum Anlass für eine weitere
Nachzählung genommen werden. Eine solche ist nur denkbar, wenn die erste
Nachzählung an eigentlichen Unregelmässigkeiten leidet. In diesem Sinne
erscheint eine zweite Nachzählung im Regelfall als ausgeschlossen. Ein sehr
knappes Ergebnis kann damit lediglich bei der erstmaligen Ermittlung des
Abstimmungsresultats einer Unregelmässigkeit als Beschwerdegrund gemäss Art. 77
Abs. 1 lit. b BPR gleichgestellt werden.
BGE 136 II 132 S. 140

2.5

2.5.1 In verfahrensrechtlicher Hinsicht stellen sich allerdings eine Reihe von
Problemen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es allein auf das
eidgenössische Gesamtresultat ankommt. Eine Nachzählung aufgrund eines sehr
knappen Gesamtresultats müsste jedoch zwangsläufig in allen Kantonen erfolgen,
unabhängig davon, wie dort das jeweilige kantonale Resultat ausfiel. Eine
solche schweizweite Nachzählung haben die Beschwerdeführer im Verfahren vor
Bundesgericht verlangt, nicht aber im kantonalen Verfahren. Hätten sie es
getan, so hätte die Kantonsregierung darauf nicht eintreten können, denn es
fehlt ihr aufgrund des Territorialitätsprinzips an der Kompetenz, Nachzählungen
in anderen Kantonen oder für die ganze Schweiz anzuordnen. Es kann daher den
Beschwerdeführern nicht entgegengehalten werden, den Antrag auf eine
schweizweite Nachzählung nicht bereits im kantonalen Verfahren gestellt zu
haben.

2.5.2 Das macht deutlich, dass die gesetzlich vorgesehene Abstimmungsbeschwerde
an die Kantonsregierung (Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR) im hier interessierenden
Kontext ein untauglicher Rechtsbehelf ist. Abhilfe vermag nur ein
eidgenössisches Rechtsmittel zu schaffen, wobei das Bundesgesetz über die
politischen Rechte keinen entsprechenden Beschwerdeweg vorsieht. Dieser ergibt
sich indessen aus Art. 29a BV (Rechtsweggarantie) in Verbindung mit Art. 34 BV
(politische Rechte) und damit direkt aus der Bundesverfassung (vgl. in diesem
Zusammenhang BGE 125 II 417, wo das Bundesgericht allein gestützt auf Art. 6
Ziff. 1 EMRK auf eine Beschwerde eintrat [E. 4 S. 420 ff. mit Hinweisen]). Ein
gesetzlicher Ausschluss der gerichtlichen Überprüfung von Abstimmungsresultaten
eidgenössischer Volksabstimmungen im Sinne von Art. 29a Satz 2 BV besteht nicht
und wäre verfassungsrechtlich auch nicht zulässig. Denn wie die
Stimmrechtsbeschwerde gegen kantonale Abstimmungen zeigt, ist die
Justiziabilität in diesem Bereich gegeben (vgl. BGE 134 V 443 E. 3.1 S. 446;
BGE 134 I 199 E. 1.2 S. 201; je mit Hinweisen). Auch erklärt Art. 189 Abs. 1
lit. f BV das Bundesgericht ausdrücklich für zuständig zur Beurteilung von
Streitigkeiten wegen Verletzung von eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen
über die politischen Rechte.
Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf Art. 80 BPR kommt als
Beschwerdeinstanz für ein Rechtsmittel, das sich gegen das provisorische, vom
Bundesrat noch nicht erwahrte gesamtschweizerische Abstimmungsresultat
(Hauptresultat) richtet, letztlich einzig das Bundesgericht in Frage.
BGE 136 II 132 S. 141

2.5.3 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die dreitägige
Beschwerdefrist von Art. 77 Abs. 2 BPR auch für Beschwerden gilt, welche sich
gegen das gesamtschweizerische Abstimmungsresultat richten. Dies gilt zudem
unabhängig davon, ob die Beschwerde bei einer Kantonsregierung oder direkt beim
Bundesgericht erhoben wird.

2.6 Vorliegend ist das Hauptresultat der Abstimmung zwar knapp ausgefallen, so
dass, gelangten die für die Kantone Graubünden, Zürich oder Schaffhausen
geltenden Schwellenwerte zur Anwendung, eine Nachzählung anzuordnen wäre.
Indessen ist es nicht äusserst knapp beziehungsweise derart knapp, dass sich
die Anordnung einer Nachzählung zumal bei der aufgezeigten offenen gesetzlichen
Grundlage aufdrängen würde. Zudem sind auch keine Unregelmässigkeiten bekannt,
die nach Art oder Umfang geeignet gewesen wären, das Hauptresultat zu
beeinflussen. Dem Antrag der Beschwerdeführer auf eine schweizweite Nachzählung
kann aus diesem Grund kein Erfolg beschieden sein.

2.7 Es wird Sache des Gesetzgebers sein, die Rechtsschutzbestimmungen den
verfassungsmässigen Anforderungen anzupassen, aber auch darüber zu entscheiden,
ob die Frage der Nachzählung eigens geregelt werden soll, wie das zahlreiche
Kantone, wenn auch auf unterschiedliche Weise, getan haben. Dabei ist denkbar,
die Voraussetzungen für eine Nachzählung mit Worten zu umschreiben (z.B. mit
dem Begriff "sehr" oder "äusserst knappes Resultat") und damit den
rechtsanwendenden Behörden einen gewissen Spielraum zu belassen oder die
Nachzählung vom Unterschreiten einer bestimmten prozentualen Differenz zwischen
Ja- und Nein-Stimmen abhängig zu machen, wobei einer derartigen Festsetzung
zwangsläufig etwas Willkürliches anhaften würde.