Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 III 96



Urteilskopf

136 III 96

13. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. GmbH
(vormals Y. GmbH) gegen A. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_347/2009 vom 16. November 2009

Regeste

Art. 335b und 336b OR; missbräuchliche Kündigung während der Probezeit; Frist
zur schriftlichen Einsprache bei verkürzter Kündigungsfrist.
Die Einsprache gegen eine missbräuchliche Kündigung während der Probezeit ist
auch bei verkürzter Kündigungsfrist längstens bis zu deren Ende zu erheben,
soweit dies möglich und zumutbar ist (E. 2 und 3).

Sachverhalt ab Seite 96

BGE 136 III 96 S. 96
Die X. GmbH (vormals Y. GmbH; Beschwerdeführerin) betrieb einen Nachtclub, in
dem einerseits Bardamen arbeiteten und anderseits auch so genannte
"Tänzerinnen" als Prostituierte beschäftigt wurden. Die Beschwerdeführerin
stellte A. (Beschwerdegegnerin) als Bardame (nicht als Prostituierte) ein. Die
Parteien unterzeichneten zwei Arbeitsverträge, die beide eine Probezeit von
drei Monaten und eine Kündigungsfrist von drei Tagen vorsehen. Die
Beschwerdeführerin kündigte das Arbeitsverhältnis während der Probezeit mit
Schreiben vom 9. August 2004, das sie am 10. August 2004 als Einschreiben der
Post übergab. Die Kündigung wurde der Beschwerdegegnerin am 12. August 2004
auch mündlich eröffnet. Mit Schreiben vom 18. August 2004 erhob die
Beschwerdegegnerin Einsprache und machte geltend, die Kündigung sei erfolgt,
weil sie sich geweigert habe, sich im Betrieb der Beschwerdeführerin
prostituieren zu lassen und nicht bereit gewesen sei, mit dem Geschäftsführer
den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Damit sei die Kündigung
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missbräuchlich. Zwischen den Parteien ist streitig, ob diese Vorwürfe zutreffen
und ob die Einsprache rechtzeitig erfolgte.
Mit Beschluss vom 3. September 2008 verpflichtete das Obergericht des Kantons
Zürich die Beschwerdeführerin, der Beschwerdegegnerin unter anderem eine
Entschädigung von Fr. 13'800.- wegen missbräuchlicher Kündigung nebst Zins zu
bezahlen.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin dem
Bundesgericht im Wesentlichen, "die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte
Strafzahlung" abzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, da die Einsprache verspätet
erfolgte.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Eine Kündigung kann grundsätzlich auch während der Probezeit missbräuchlich
sein. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Missbrauchsbestimmungen mit
Blick auf den Zweck der Probezeit gegenüber einem Arbeitsverhältnis mit
ordentlicher Kündigungsfrist nur einschränkend zur Anwendung gelangen (BGE 134
III 108 E. 7.1 S. 110 mit Hinweisen). Ist die Kündigung eines
Arbeitsverhältnisses missbräuchlich (Art. 336 OR), hat diejenige Partei, welche
die Kündigung ausgesprochen hat, der anderen Partei eine Entschädigung
auszurichten (Art. 336a OR). Wer eine solche Entschädigung geltend machen will,
muss gegen die Kündigung längstens bis zum Ende der Kündigungsfrist beim
Kündigenden schriftlich Einsprache erheben (Art. 336b Abs. 1 OR). An die
Formulierung der Einsprache werden keine allzu hohen Anforderungen gestellt. Es
genügt, wenn die betroffene Partei gegenüber der kündigenden Person schriftlich
zum Ausdruck bringt, mit der Kündigung nicht einverstanden zu sein (BGE 123 III
246 E. 4c S. 253). Ist die Einsprache gültig erfolgt und einigen sich die
Parteien nicht über die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, kann die Partei,
der gekündigt worden ist, ihren Anspruch auf Entschädigung geltend machen. Wird
nicht innert 180 Tagen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Klage
anhängig gemacht, ist der Anspruch verwirkt (Art. 336b Abs. 2 OR).

2.1 Art. 336b OR wurde per 1. Januar 1989 ins Gesetz aufgenommen. Diese
Bestimmung fehlte im Entwurf des Bundesrats zu dieser Gesetzesrevision. Sie
wurde vom Parlament in Anlehnung an Art. 336g aOR ins Gesetz eingefügt (vgl.
RICHARD BARBEY, La
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procédure relative aux résiliations abusives du contrat de travail, in: Les
nouvelles dispositions du Code des obligations en matière de résiliation du
contrat de travail, 1990, S. 105) mit der Absicht, die Vertragsparteien nach
erfolgter Kündigung zu einer gütlichen Einigung über die Fortführung des
Arbeitsverhältnisses zu bewegen und ihnen nach dem Scheitern entsprechender
Verhandlungen möglichst schnell Klarheit über die geltend gemachten Ansprüche
zu verschaffen. Der Gesetzgeber war sich bewusst, dass Rechtsuchende, die über
diese speziellen Fristen nicht orientiert sind, Opfer der Fristen werden
könnten, nahm dies aber mit Blick auf die Rechtssicherheit in Kauf (AB 1985 N
1137 f.; AB 1987 S 347).

2.2 Ob das Ziel, eine gütliche Einigung zu fördern, erreicht wird, wird zwar
bezweifelt (vgl. ADRIAN STAEHELIN, in: Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1996, N. 1
zu Art. 336b OR mit Hinweisen). Nach einhelliger Lehre ist die form- und
fristgerechte Einsprache gegen die missbräuchliche Kündigung aber unabdingbar.
Sie entfällt auch nicht, weil Einigungsverhandlungen angesichts der Haltung der
Gegenpartei keinen Sinn ergeben. Wird die Einsprache nicht gültig erhoben,
stimmt die Partei, der gekündigt worden ist, der Kündigung im Sinne einer
unwiderlegbaren Vermutung zu. Dem Gekündigten steht nur eine Klage auf
Feststellung der Rechtswidrigkeit der Kündigung zu (STREIFF/VON KAENEL,
Arbeitsvertrag, 6. Aufl. 2006, N. 3 zu Art. 336b OR; MANFRED REHBINDER, Berner
Kommentar, 1992, N. 2 zu Art. 336b OR; RÉMY WYLER, Droit du travail, 2. Aufl.
2008, S. 553 ff.; STAEHELIN, a.a.O., N. 2 zu Art. 336b OR mit weiteren
Hinweisen).

2.3 Massgebend für die Einhaltung der Frist gemäss Art. 336b Abs. 1 OR ist nach
herrschender Lehre der Zeitpunkt des Zugangs der Einsprache. Diese hat daher
als empfangsbedürftige Willenserklärung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zu
erfolgen (STAEHELIN, a.a.O., N. 3 zu Art. 336b OR; REHBINDER, a.a.O., N. 2 zu
Art. 336b OR; STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 3 zu Art. 336b OR; WYLER, a.a.O.,
S. 555; ROLAND BERSIER, La résiliation abusive du contrat du travail [art. 336
à 336b CO], SJZ 89/1993 S. 321; DENIS HUMBERT, Der neue Kündigungsschutz im
Arbeitsrecht, 1991, S. 112). Ein Teil der Lehre lässt die Postaufgabe am
letzten Tag der Kündigungsfrist genügen (BARBEY, a.a.O., S. 114; CHRISTIANE
BRUNNER UND ANDERE, Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, 3. Aufl. 2005, N. 2 zu
Art. 336b OR). Art. 336b OR ist als absolut zwingende Bestimmung ausgestaltet
(Art. 361 Abs. 1 OR).
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3. Die für die Probezeit gesetzlich vorgesehene Kündigungsfrist von sieben
Tagen (Art. 335b Abs. 1 OR) kann - entgegen der Ansicht der Beschwerdegegnerin
- durch schriftliche Abrede, Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag
anders bestimmt (Art. 335b Abs. 2 OR) oder ganz wegbedungen werden. Bei der so
genannten "entfristeten" Kündigung endet das Arbeitsverhältnis mit dem Zugang
der Kündigung (STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 8 zu Art. 335b OR mit Hinweisen).
Gemäss beiden Arbeitsverträgen vereinbarten die Parteien eine verkürzte
Kündigungsfrist von drei Tagen.

3.1 Nach den Erwägungen des Obergerichts ergibt sich bei der Geltendmachung
einer Entschädigung im Sinne von Art. 336a OR eine Schwierigkeit, wenn während
der Probezeit die Kündigungsfrist gegenüber der gesetzlichen Vorgabe von sieben
Tagen (Art. 335b Abs. 1 OR) deutlich gekürzt oder "entfristet" wird. Nach Art.
336b Abs. 1 OR müsse die erforderliche Einsprache nämlich "längstens bis zum
Ende der Kündigungsfrist" erfolgen und zwar dergestalt, dass sie binnen dieser
Frist bei der Gegenpartei eintreffe. Dies sei aber bei einer "entfristeten
Kündigungsfrist" schon theoretisch, bei einer verkürzten Kündigungsfrist
praktisch unmöglich, da einige Tage verstreichen könnten, bis die Kündigung im
Herrschaftsbereich der betroffenen Vertragspartei eintreffe. Der Gesetzgeber
habe an diese Fälle schlicht nicht gedacht, weshalb von einer Gesetzeslücke
auszugehen sei, die mangels Gewohnheitsrecht gemäss Art. 1 Abs. 2 ZGB nach
derjenigen Regel zu entscheiden sei, welche das Obergericht als Gesetzgeber
aufstellen würde. Die Einsprachefrist müsse während der Probezeit bei
verkürzten oder aufgehobenen Kündigungsfristen mindestens sieben Tage
entsprechend der dispositiven Kündigungsfrist während der Probezeit (Art. 335b
Abs. 1 OR) betragen. Damit werde gewährleistet, dass die betroffene
Vertragspartei ihre Ansprüche gemäss Art. 336a OR wahren könne.

3.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Annahme, es bestehe eine zu
füllende Gesetzeslücke, verstosse gegen Art. 1 Abs. 2 ZGB. Das Obergericht habe
Bundesrecht (Art. 336b Abs. 1 OR) verletzt, indem es von einer rechtzeitigen
Einsprache ausgegangen sei. Überdies sei die Einsprache selbst dann verspätet,
wenn man von einer siebentägigen Einsprachefrist ausgehe.

3.3 Eine echte Gesetzeslücke liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
dann vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte
regeln sollen, und dem Gesetz
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diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu
ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann (BGE 128 I 34 E. 3b
S. 42; BGE 121 III 219 E. 1d/aa S. 225; je mit Hinweisen). Von einer unechten
oder rechtspolitischen Lücke ist demgegenüber die Rede, wenn dem Gesetz zwar
eine Antwort, aber keine befriedigende zu entnehmen ist (ARTHUR MEIER-HAYOZ,
in: Berner Kommentar, 1962, N. 271 ff. zu Art. 1 ZGB; HENRI DESCHENAUX, Le
Titre préliminaire du Code civil, in: SPR, Bd. II/1, 1969, S. 89 ff.). Echte
Lücken zu füllen, ist dem Richter aufgegeben, unechte zu korrigieren, ist ihm
nach traditioneller Auffassung grundsätzlich verwehrt, es sei denn, die
Berufung auf den als massgeblich erachteten Wortsinn der Norm stelle einen
Rechtsmissbrauch dar (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 295 ff. zu Art. 1 ZGB).

3.4 Wird die Kündigungsfrist während der Probezeit gekürzt oder wegbedungen,
verkürzt sich die Dauer der Einsprachefrist entsprechend. Besteht keine
Kündigungsfrist und wird die Kündigung umgehend wirksam, ist es in der Tat
unmöglich, eine schriftliche Einsprache zu erheben, die bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist beim Kündigenden eintrifft. Die Vorinstanz ist grundsätzlich
zutreffend davon ausgegangen, dass die für die Einsprache aufgestellten
Formvorschriften (Art. 336b OR) den Anspruch auf Entschädigung bei
missbräuchlicher Kündigung (Art. 336a OR) nicht vereiteln dürfen. Eine
schematische Anwendung einer siebentätigen Einsprachefrist bei gegenüber dem
dispositiven Gesetzesrecht verkürzten Kündigungsfristen würde auch Fälle
erfassen, in denen es dem Arbeitnehmer möglich und zumutbar ist, innert der
verkürzten Kündigungsfrist Einsprache zu erheben. Dies scheint mit Blick auf
den vom Gesetz verfolgten Zweck der Rechtssicherheit und der Förderung einer
gütlichen Einigung (vgl. E. 2.1) nicht gerechtfertigt. Darf vom Arbeitnehmer
nach Treu und Glauben erwartet werden, innerhalb der verkürzten Frist zu
reagieren, rechtfertigt es sich nicht, eine Lücke anzunehmen und vom klaren
Wortlaut des Gesetzes abzuweichen. Eine Lücke besteht somit nur, wenn die
Kündigungsfrist derart verkürzt oder gänzlich wegbedungen ist, dass es dem
Arbeitnehmer nicht möglich oder nicht zumutbar ist, fristgerecht Einsprache zu
erheben. Die Parteien vereinbarten eine Kündigungsfrist von drei Tagen. Zu
prüfen bleibt daher, ob es der Beschwerdegegnerin anhand der gesamten Umstände
möglich und zumutbar war, rechtzeitig Einsprache zu erheben.
BGE 136 III 96 S. 101

4.

4.4 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Obergericht Bundesrecht verletzt
hat, indem es die Frist für die Einsprache auf die in Art. 335b Abs. 1 OR
vorgesehene siebentägige Frist verlängerte, obwohl es der Beschwerdegegnerin
möglich und zumutbar gewesen wäre, innert der gemäss Art. 335b Abs. 2 OR
vertraglich verkürzten Kündigungsfrist Einsprache zu erheben. Die Einsprache
der Beschwerdegegnerin ist daher nicht rechtzeitig erfolgt. Entsprechend steht
ihr keine Entschädigungsforderung nach Art. 336a OR zu. Angesichts dieses
Ergebnisses kann offenbleiben, ob die Einsprache auch bei der Annahme einer
siebentägigen Einsprachefrist verspätet erfolgte und ob die Kündigung
missbräuchlich war.