Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 III 539



Urteilskopf

136 III 539

79. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Beschwerde in Zivilsachen)
4A_259/2010 vom 2. September 2010

Regeste

Entschädigung der Überzeitarbeit berufsmässiger Motorfahrzeugführer (Art. 56
SVG; Art. 6 und 7 ARV 1; Art. 321c Abs. 3 OR sowie Art. 9 und 13 ArG).
Überzeitarbeit berufsmässiger Motorfahrzeugführer ist zwingend mit dem
Grundlohn und dem gesetzlich vorgesehenen Zuschlag zu entschädigen, sofern sie
nicht mit Freizeit kompensiert wird (E. 2-2.6).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 539

BGE 136 III 539 S. 539
Aus den Erwägungen:

2. Im Arbeitsvertrag vereinbarten die Parteien, die Arbeitszeit werde flexibel
gestaltet und variiere aufgrund des Arbeitsvorkommens. Bezüglich der
Überstunden wurde festgehalten, ausserhalb der normalen Arbeitszeiten sei der
Arbeitnehmer (Y.) verpflichtet, Überstunden zu leisten, sofern ihm dies nach
Treu und Glauben zugemutet werden könne. Der Lohn betrug Fr. 5'000.- brutto,
wobei im Vertrag in Klammern angemerkt ist: "Fr. 5000.- gleich Profigehalt,
Ueberstunden inklusive". Zwischen den Parteien ist streitig, in
BGE 136 III 539 S. 540
welchem Ausmass allfällige Überstunden bereits mit dem Lohn abgegolten sind.

2.1 Die erste Instanz ging davon aus, nach dem übereinstimmenden Verständnis
der Parteien seien im Lohn nur eigentliche Überstunden, die im Rahmen der
wöchentlichen Höchstarbeitszeit geleistet wurden, abgegolten. Diese beträgt
nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung vom 19. Juni 1995 über die Arbeits- und
Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer und -führerinnen
(Chauffeurverordnung, ARV 1; SR 822.221) 46 Stunden. Ob diese Auffassung
zutrifft (der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, der Beschwerdegegner
selbst sei bei der Spesenabrechnung von 50 Stunden ausgegangen), liess die
Vorinstanz letztlich offen. Sie hielt fest, Überstunden seien Stunden zwischen
der vereinbarten Arbeitszeit und der gesetzlich zulässigen Höchstarbeitszeit.
Diesbezüglich könne sowohl der Grundlohn als auch der Lohnzuschlag schriftlich
wegbedungen werden. Überzeit sei die über die Höchstarbeitszeit geleistete
Arbeit. Diese sei, sofern keine Kompensation mit Freizeit erfolge, nach Art. 13
Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 13. März 1964 über die Arbeit in Industrie,
Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG; SR 822.11) zwingend mit dem Grundlohn
und dem gesetzlich vorgesehenen Zuschlag zu entschädigen. Die Vorinstanz
erachtete Art. 13 Abs. 1 ArG auch für den zu beurteilenden Fall für
massgeblich, da in der Chauffeurverordnung lediglich die zulässige Arbeitszeit
definiert werde, nicht aber deren Entschädigung.

2.2 Der Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, die Begriffe
Höchstarbeitszeit in Art. 9 Abs. 1 und 3 ArG und in Art. 6 ARV 1 seien nicht
identisch. Der Beschwerdeführer und der Beschwerdegegner hätten die Mehrarbeit
im Sinne von Art. 6 ARV 1 als Überstunden verstanden, weshalb der
Beschwerdegegner seine Ferienwochen auf den Spesenblättern mit 50 Stunden
berücksichtigt habe. Während das Arbeitsgesetz die wöchentliche Höchstarbeit
fixiere und Ausnahmen nur auf Verordnungsstufe zulasse, gestatte Art. 7 ARV 1
ausdrücklich, abweichend von der wöchentlichen Höchstarbeitszeit je Woche fünf
weitere Stunden Mehrarbeit zu leisten. Zulässige Mehrarbeit im Sinne der
Chauffeurverordnung stelle Überstundenarbeit im Sinne des OR und des
Arbeitsgesetzes dar, so dass die Wegbedingung der Entschädigung zulässig sei.

2.3 Sowohl im Arbeitsgesetz (Art. 9 ArG) als auch in der Chauffeurverordnung
(Art. 6 ARV 1) wird eine "Höchstarbeitszeit"
BGE 136 III 539 S. 541
festgelegt und der Umfang, in welchem diese Stundenanzahl überschritten werden
darf (Art. 12 ArG; Art. 7 ARV 1). Ohne klar anderslautende Indizien ist
grundsätzlich nicht davon auszugehen, dieselben Begriffe, die in verschiedenen
Gesetzen im gleichem Zusammenhang verwendet werden, seien unterschiedlich
auszulegen. Zweck und Aufbau der Bestimmungen des Arbeitsgesetzes und der
Chauffeurverordnung sind weitgehend analog. Hinweise darauf, dass der Begriff
"Höchstarbeitszeit" Unterschiedliches bezeichnen soll, bestehen nicht. Auch in
der Literatur wird ohne Weiteres davon ausgegangen, Art. 6 ARV 1 enthalte
betreffend die Höchstarbeitszeit, wie sie in Art. 9 ArG geregelt ist, spezielle
Bestimmungen für eine besondere Arbeitnehmerkategorie (vgl. VON KAENEL, in:
Arbeitsgesetz, Geiser/von Kaenel/Wyler [Hrsg.], 2005, N. 38 zu Art. 9 ArG).
Insoweit kann der Argumentation des Beschwerdeführers nicht gefolgt werden.

2.4 Die Annahme der Vorinstanz, die Chauffeurverordnung definiere lediglich die
zulässige Arbeitszeit, nicht aber deren Entschädigung, widerspricht dem
Wortlaut der Verordnung. Art. 7 Abs. 3 ARV 1 hält fest: "Die Überzeitarbeit
kann durch einen Lohnzuschlag nach Obligationenrecht oder durch Freizeit von
gleicher Dauer ausgeglichen werden. Ein solcher Ausgleich ist innert dreier
Monate vorzunehmen, sofern Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin
nicht einen längeren Zeitraum schriftlich vereinbaren; dieser Zeitraum darf in
keinem Fall länger als zwölf Monate sein." Die Chauffeurverordnung regelt
mithin entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht nur die zulässige
Arbeitszeit, sondern auch die Abgeltung der Überzeit.

2.5 Die Chauffeurverordnung verweist für den Lohnzuschlag auf das
Obligationenrecht, also auf Art. 321c Abs. 3 OR (ROGER BOLLAG, Die Arbeits- und
Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer, 1994, S. 26 Fn. 151). Da die
Chauffeurverordnung eine Spezialregelung enthält, geht sie dem Arbeitsgesetz
nach Art. 71 lit. a ArG vor (vgl. THOMAS GÄCHTER, Arbeitsschutz, in:
Gesundheitsrecht SBVR Bd. VIII, 2005, S. 369 Rz. 220). Nach Art. 321c Abs. 3 OR
hat der Arbeitgeber, sofern die Überstundenarbeit nicht durch Freizeit
ausgeglichen wird und nichts anderes schriftlich verabredet oder durch
Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag bestimmt ist, für die
Überstundenarbeit Lohn zu entrichten, der sich nach dem Normallohn samt einem
Zuschlag von mindestens einem Viertel bemisst. Zu prüfen bleibt, ob mit diesem
Verweis auf das OR auch
BGE 136 III 539 S. 542
unter der Geltung der Chauffeurverordnung der nach Art. 321c Abs. 3 OR
zulässige Ausschluss der Entschädigung durch Parteiabrede zum Tragen kommt.

2.5.1 Die Chauffeurverordnung stützt sich auf die Regelung über die Arbeits-
und Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer im SVG. Danach ordnet der
Bundesrat die Arbeits- und Präsenzzeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer.
Er sichert ihnen eine ausreichende tägliche Ruhezeit sowie Ruhetage, so dass
ihre Beanspruchung nicht grösser ist als nach den gesetzlichen Regelungen für
vergleichbare Tätigkeiten (Art. 56 SVG). Die Anlehnung an die gesetzlichen
Regelungen für vergleichbare Tätigkeiten spricht eher dagegen, dass vom
Gesetzgeber bezüglich der Vergütung der Überzeit eine zu Lasten der
Arbeitnehmer vom Arbeitsgesetz abweichende Regelung gewollt ist. Unter der
Geltung des Arbeitsgesetztes ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bei
Ausgleich der Überzeitarbeit in Geld zwingend der Grundlohn und die im Gesetz
vorgesehene Zusatzentschädigung geschuldet (Art. 13 Abs. 1 ArG; BGE 126 III 337
).

2.5.2 Art. 7 Abs. 3 ARV 1 verweist für den Lohnzuschlag auf die Bestimmungen
des Obligationenrechts und scheint diesen als gegeben vorauszusetzen,
allerdings ohne ausdrücklich zu erläutern, ob sich der Verweis nur auf die Höhe
des Zuschlags bezieht. Bereits der verwendete Begriff der Höchstarbeitszeit
verdeutlicht indessen, dass diese grundsätzlich nicht überschritten werden
soll, auch wenn in Art. 7 ARV 1 unter gewissen Voraussetzungen Ausnahmen
vorgesehen sind. Innerhalb der Höchstgrenze können die Parteien die Arbeitszeit
frei festlegen und daher auch vereinbaren, Überstunden seien mit dem Lohn
abgegolten. Die Position des Arbeitnehmers ist diesfalls nicht anders, als wenn
(innerhalb der Höchstarbeitszeit) eine längere Arbeitszeit vereinbart worden
wäre, was den Parteien freisteht. Bezüglich der Höchstarbeitszeit kann den
Parteien dagegen nicht derselbe Freiraum zugebilligt werden. Andernfalls könnte
die vorgeschriebene Höchstarbeitszeitgrenze durch Parteiabrede faktisch
umgangen werden, was dem Regelungszweck widerspräche.

2.5.3 Der Zweck der Verordnung liegt darin, für eine ausreichende Ruhezeit zu
sorgen (Art. 56 SVG) und eine Überanstrengung zu verhindern, um die Gesundheit
der Arbeitnehmer zu schützen (GÄCHTER, a.a.O., S. 370 Rz. 221). Die Regelung
soll in erster Linie die
BGE 136 III 539 S. 543
Verkehrssicherheit fördern, obwohl sie gleichzeitig dem Schutz der Arbeitnehmer
dient (Botschaft vom 24. Juni 1955 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den
Strassenverkehr, 1955 II 40 zu Art. 53 Abs. 2 E-SVG; GIGER,
SVG-Strassenverkehrsgesetz, 7. Aufl. 2008, N. 1 zu Art. 56 SVG). Art. 7 ARV 1
sieht als Ausgleich für die Überzeit entweder einen Lohnzuschlag oder Freizeit
von gleicher Dauer vor. Der Ausgleich durch Freizeit dient dem Schutz vor
Überanstrengung und damit dem primären Ziel der Verkehrssicherheit besser als
eine Abgeltung in Geld. Entsprechend wird im Gegensatz zu den analogen
Bestimmungen in Art. 321c OR und Art. 13 ArG, welche primär den Interessen des
Arbeitnehmers dienen (vgl. VON KAENEL, a.a.O., N. 2 zu Art. 9 ArG) in Art. 7
Abs. 3 ARV 1 für den Ausgleich der Überzeit durch Freizeit nicht das
Einverständnis des Arbeitnehmers verlangt (vgl. demgegenüber Art. 13 Abs. 2 ArG
und Art. 321 c Abs. 2 OR). Im Vergleich zu den analogen Bestimmungen im ArG
wird damit der Ausgleich durch Freizeit für den Arbeitgeber vereinfacht und
dadurch privilegiert. Dem entspricht, dass der Ausgleich in Geld für den
Arbeitgeber mit einem Zuschlag verbunden ist, während bei einem Ausgleich durch
Freizeit keine zusätzlichen Kosten anfallen. Wäre es zulässig zu vereinbaren,
die Entschädigung für Überzeitarbeit sei im Lohn bereits enthalten, bestünde
für den Arbeitgeber keinerlei Anreiz, auf Überzeitarbeit zu verzichten oder die
geleistete Überzeit mit Freizeit auszugleichen. Eine derartige Auslegung liesse
sich zwar mit dem Wortlaut von Art. 321c OR vereinbaren, liefe aber dem Zweck
der Chauffeurverordnung und von Art. 56 SVG zuwider.

2.6 Mit Blick auf den Zweck der Bestimmungen ist daher auch für den
Geltungsbereich der Chauffeurverordnung davon auszugehen, der Lohnzuschlag für
Überzeitarbeit sei zwingend. Aus diesem Zweck folgt auch, dass entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers nicht nur der Zuschlag, sondern auch der
Grundlohn zwingend geschuldet ist. Es besteht kein Grund diesbezüglich von der
zu Art. 13 ArG ergangenen Rechtsprechung (BGE 126 III 337) abzuweichen.
Insoweit ist der angefochtene Entscheid im Ergebnis nicht zu beanstanden.