Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 III 523



Urteilskopf

136 III 523

76. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X.
Vermögensverwaltung AG gegen Y. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_170/2010 vom 30. Juni 2010

Regeste

Nichteintreten auf negative Feststellungsklage mangels Feststellungsinteresses
im Geltungsbereich des Lugano-Übereinkommens (LugÜ).
Für eine negative Feststellungsklage darf in internationalen Verhältnissen im
Geltungsbereich des LugÜ ein besonderes Rechtsschutzinteresse vorausgesetzt
werden. Die Vorinstanz hat Art. 21 LugÜ nicht verletzt, indem sie das blosse
Interesse des Schuldners, einen Gerichtsstand zu fixieren ("forum running"),
als nicht hinreichendes Rechtsschutzinteresse erachtete (E. 3-6).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 523

BGE 136 III 523 S. 523
Aus den Erwägungen:

3. Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz eine Verletzung von Art. 21 LugÜ
(SR 0.275.11) vor, weil diese auf die negative Feststellungsklage mangels
Feststellungsinteresses nicht eingetreten ist. Sie
BGE 136 III 523 S. 524
argumentiert, für identische Ansprüche im Sinne von Art. 21 Abs. 1 LugÜ dürften
keine unterschiedlichen Eintretensvoraussetzungen geschaffen werden. Das
strenge Prioritätsprinzip des Art. 21 LugÜ gebe auch einer früher angehobenen
negativen Feststellungsklage den Vorrang vor einer später angehobenen
Leistungsklage. Wenn für die negative Feststellungsklage ein besonderes
Feststellungsinteresse verlangt werde, widerspreche dies der zwingenden
Prioritätsregel des LugÜ.

4. Es trifft zu, wie die Beschwerdeführerin vorbringt, dass bei der Anwendung
und Auslegung des LugÜ massgebliche Entscheidungen der Gerichte der anderen
Vertragsstaaten sowie die Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ (Europäisches
Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September
1968) zu berücksichtigen sind (BGE 133 III 282 E. 3.1 S. 285; BGE 123 III 414
E. 4 S. 421). Klarzustellen ist aber, dass es vorliegend weder um die Auslegung
von Art. 21 LugÜ oder des Begriffs der Rechtshängigkeit geht noch um die Frage
der richtigen Anwendung von Art. 21 LugÜ, da die Beschwerdegegnerin bislang
keine Leistungsklage anhängig gemacht hat und die Vorinstanz ohnehin nicht
mangels Priorität, sondern mangels Rechtsschutzinteresses auf die negative
Feststellungsklage nicht eingetreten ist. Zu entscheiden ist vorliegend einzig
die Frage, ob in internationalen Verhältnissen im Geltungsbereich des LugÜ für
eine negative Feststellungsklage ein besonderes Rechtsschutzinteresse
vorausgesetzt werden darf bzw. ob ein solches bei "forum running" als
hinlänglich anzuerkennen ist.

5. Unter welchen Voraussetzungen die gerichtliche Feststellung des Bestehens
oder Nichtbestehens bundesrechtlicher Ansprüche verlangt werden kann, ist eine
Frage des Bundesrechts. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die
Feststellungsklage nur zuzulassen, wenn der Kläger an der sofortigen
Feststellung ein erhebliches schutzwürdiges Interesse hat, welches kein
rechtliches zu sein braucht, sondern auch bloss tatsächlicher Natur sein kann.
Diese Voraussetzung ist namentlich gegeben, wenn die Rechtsbeziehungen der
Parteien ungewiss sind und die Ungewissheit durch die richterliche Feststellung
beseitigt werden kann und ihre Fortdauer der Klagepartei nicht zugemutet werden
kann, weil sie sie in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Bei der negativen
Feststellungsklage sind auch allfällige Interessen des Gläubigers zu
berücksichtigen (BGE 133 III 282 E. 3.5; BGE 131 III 319 E. 3.5 S. 324 f.; BGE
123 III 414 E. 7b S. 429).
BGE 136 III 523 S. 525
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts vermag das blosse Interesse einer
Partei, unter mehreren möglichen Gerichtsständen den ihr zusagenden durch
schnelleres Einleiten einer Klage wählen zu können, für sich allein kein
schutzwürdiges Feststellungsinteresse zu begründen (BGE 131 III 319 E. 3.5 S.
325; BGE 123 III 414 E. 7b S. 430).

6.

6.1 Der EuGH hat sich in zwei Entscheidungen zu den Begriffen "desselben
Anspruchs" bzw. "derselben Parteien", mithin zur Identität des
Streitgegenstandes im Sinne von Art. 21 EuGVÜ (dem heutigen Art. 27 EuGVO;
[Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die
gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen]), geäussert:
Im Entscheid Gubisch Maschinenfabrik gegen Palumbo (Urteil des EuGH vom 8.
Dezember 1987 144/86, Slg. 1987 S. 4871) kam der EuGH zum Schluss, der Begriff
der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 21 des Übereinkommens umfasse den Fall,
dass eine Partei vor dem Gericht eines Vertragsstaats die Feststellung der
Unwirksamkeit oder die Auflösung eines internationalen Kaufvertrags begehrt,
während eine Klage der anderen Partei auf Erfüllung desselben Vertrags vor dem
Gericht eines anderen Vertragsstaats anhängig ist.
Im Entscheid Tatry gegen Maciej Rataj (Urteil des EuGH vom 6. Dezember 1994
C-406/92, Slg. 1994 I-5460) erkannte er in Ziff. 3, Art. 21 des Übereinkommens
sei dahin auszulegen, dass eine Klage, die auf die Feststellung, dass der
Beklagte für einen Schaden haftet, und auf dessen Verurteilung zur Zahlung von
Schadenersatz gerichtet ist, denselben Anspruch betrifft wie eine von diesem
Beklagten früher erhobene Klage auf Feststellung, dass er für diesen Schaden
nicht haftet.
Insbesondere aus der zuletzt genannten Entscheidung ergibt sich deutlich, dass
zwischen einer negativen Feststellungsklage und einer Leistungsklage über
denselben Anspruch Identität im Sinne von Art. 21 LugÜ anzunehmen ist.

6.2 Der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) leitete aus den zitierten
Entscheidungen des EuGH und gestützt auf die Meinung von KROPHOLLER (JAN
KROPHOLLER, Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO,
Lugano-Übereinkommen und Europäischem Vollstreckungstitel, 8. Aufl. 2005, N. 10
zu Art. 27 EuGVO) ab, dass auch die früher erhobene negative Feststellungsklage
Vorrang vor der später erhobenen Leistungsklage hat. Dies diene der
Chancengleichheit
BGE 136 III 523 S. 526
zwischen Gläubiger und Schuldner. Der Schuldner habe durch schnelle Erhebung
einer negativen Feststellungsklage die gleiche Chance, sich das
streitentscheidende Gericht auszusuchen, wie der Gläubiger. Die später erhobene
Leistungsklage führe nicht zum Wegfall des Feststellungsinteresses für die
Feststellungsklage (Urteil des BGH vom 11. Dezember 1996, publ. in:
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen [BGHZ] 134 [1998], S. 201
ff., S. 211).

6.3 Mit Blick auf den erwähnten Entscheid des BGH wird in der Literatur
teilweise die Auffassung vertreten, für internationale Verhältnisse sei bei
"forum running" ein hinreichendes Feststellungsinteresse anzuerkennen. Zur
Begründung wird auf die Waffengleichheit und Chancengleichheit der Parteien
hingewiesen und ausgeführt, wenn beide Parteien daran seien, ein Gericht an
einem ihnen genehmen Gerichtsstand anzurufen, bestehe zwar für den
Feststellungskläger keine nicht mehr länger zumutbare Ungewissheit bezüglich
der Rechtslage, dagegen werde der Feststellungsbeklagte nicht zu einer
vorzeitigen Prozessführung gezwungen. Damit seien die bezüglich des
Feststellungsinteresses abzuwägenden Parteiinteressen grundsätzlich ausgewogen,
weshalb in solchen Konstellationen das Vorliegen eines Feststellungsinteresses
zur Wahrung der zuständigkeitsrechtlichen Waffengleichheit zu bejahen sei (vgl.
GION JEGHER, Abwehrmassnahmen gegen ausländische Prozesse im internationalen
Zivilverfahrensrecht der Schweiz, 2003, S. 71 f.; derselbe, Mit schweizerischer
negativer Feststellungsklage ins europäische Forum Running - Gedanken
anlässlich BGE 123 III 414, ZSR 1999 I, S. 31 ff., S. 43 f.; FELIX DASSER, in:
Kommentar zum Lugano-Übereinkommen, Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 2008, N. 77 zu
Art. 21 LugÜ; vgl. auch derselbe, Der Kampf ums Gericht, ZSR 2000 I S. 253 ff.,
S. 268 f.).

6.4 Das Bundesgericht ist dieser Meinung jedenfalls für das nationale Schweizer
Recht nicht gefolgt. Es führte aus, wenn in kurzer Zeit mit einer
Leistungsklage zu rechnen sei, so sei eine unzumutbare Fortdauer der
Rechtsunsicherheit und damit ein hinreichendes Interesse an der Klärung einer
umstrittenen Rechtsfrage durch ein Feststellungsurteil grundsätzlich zu
verneinen. Da das Feststellungsinteresse unabhängig vom Gerichtsstand vorliegen
müsse, könne es nicht durch das Interesse an einem bestimmten Gerichtsstand
ersetzt werden. Ansonsten würde die vom Gesetzgeber getroffene Regelung der
Gerichtsstände umgangen bzw. ausser Kraft gesetzt. Zudem würde die Zulassung
des "forum running" dazu führen, dass die Parteien
BGE 136 III 523 S. 527
möglichst schnell und ohne vorherige Ankündigung zu den ihnen genehmen
Gerichten "rennen" und klagen müssten, um ihren Gerichtsstand zu sichern. Dies
wäre nicht sachgerecht, da damit aussergerichtliche Vergleichsverhandlungen
oder einvernehmliche Streitlösungsverfahren gefährdet und die Gerichte mit
unnötigen parallelen Verfahren belastet würden. Aus diesen Gründen hielt es
ausdrücklich an der Rechtsprechung fest, wonach das Interesse des Schuldners,
die Leistungsklage des Gläubigers an einem bestimmten Gerichtsstand durch eine
frühere Feststellungsklage an einem anderen Gerichtsstand zu verhindern, kein
schutzwürdiges Feststellungsinteresse zu begründen vermag (BGE 131 III 319 E.
3.5 S. 326).

6.5 Diese Gründe sprechen gleichermassen für ein Festhalten an der genannten
Rechtsprechung bei internationalen Verhältnissen. Das Bundesgericht hat denn
auch bereits im Anwendungsbereich des LugÜ in diesem Sinne entschieden (Urteil
4C.208/2006 vom 23. Oktober 2006 E. 3.1; kritiklos wiedergegeben von GIRSBERGER
/SCHRAMM, Entwicklungen im schweizerischen internationalen Privatrecht, SJZ 104
/2008 S. 92; demgegenüber brauchte die Frage in BGE 133 III 282 E. 3.5.1 S. 288
nicht erörtert zu werden).
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung findet in der Literatur zur
Schweizerischen ZPO Unterstützung, indem das blosse Interesse des
Feststellungsklägers, seinerseits den Gerichtsstand zu bestimmen, auch für
internationale Verhältnisse als nicht hinreichend bewertet und ausgeführt wird,
Überlegungen zur (internationalen) Zuständigkeit sollten bei der Prüfung des
Feststellungsinteresses für sich allein nicht ausschlaggebend sein (STAEHELIN/
STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 2008, S. 195). In der Tat leuchtet
nicht ein, weshalb allein der Umstand, dass das LugÜ dem Gläubiger für
bestimmte Klagen mehrere Gerichtsstände zur Verfügung stellt, eine
"Chancengleichheit" des Schuldners in dem Sinn rechtfertigen soll, dass auch
dieser die Möglichkeit hat, durch eine negative Feststellungsklage seinerseits
den Gerichtsstand zu wählen, ohne dass er ein darüber hinausgehendes Interesse
geltend machen kann.
Weder das LugÜ noch die EuGVO regeln, ob für negative Feststellungsklagen ein
spezielles Rechtsschutzinteresse zu verlangen ist, sondern überlassen diese
Frage nach wie vor den nationalen Rechten (SCHNYDER/LIATOWITSCH,
Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, 2. Aufl. 2006, S. 120 Rz.
339). Ebenso wenig verbieten die erwähnte Rechtsprechung des deutschen BGH und
die von ihm herangezogenen Urteile des EuGH, dass das nationale Recht für
negative
BGE 136 III 523 S. 528
Feststellungsklagen ein besonderes Feststellungsinteresse voraussetzt. Die
genannte Rechtsprechung besagt lediglich, dass eine negative Feststellungsklage
und eine Leistungsklage über denselben Anspruch Identität im Sinne von Art. 21
LugÜ aufweisen und eine zuerst anhängig gemachte negative Feststellungsklage
eine spätere Leistungsklage blockieren kann. Sie schliesst aber nicht aus, dass
das nationale Recht für negative Feststellungsklagen ein besonderes
Feststellungsinteresse verlangt. In diesem Sinn argumentiert auch TIEFENTHALER,
der annimmt, die Gefahr des Missbrauchs negativer Feststellungsklagen sei
beschränkt, wenn gemäss dem innerstaatlichen Verfahrensrecht der Kläger ein
rechtliches Interesse an der Feststellung haben müsse (STEFAN TIEFENTHALER, in:
Kurzkommentar Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, EuGVO und
Lugano Übereinkommen, 2. Aufl. 2003, N. 12 zu Art. 27 EuGVO). Diese
Argumentation impliziert, dass das nationale Verfahrensrecht ein besonderes
Rechtsschutzinteresse verlangen darf.
Demgemäss hat die Vorinstanz entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin Art.
21 LugÜ nicht verletzt, indem sie das blosse Interesse der Beschwerdeführerin,
einen Gerichtsstand zu fixieren, nicht genügen liess und ein hinreichendes
Rechtsschutzinteresse verneinte.